Jean-Paul Sartre – Der Ekel und die Metaebene Teil 2

Und so geht es die nächsten hundertundachtzig Seiten weiter. Roquentin, ein unsteter Historiker, der sich nach vielen Reisen in die miefige Hafenstadt Bouville geflüchtet hat, um ein Buch über Monsieur Rollebon zu schreiben, der zu Zeiten eines Ludwigs im achtzehnten Jahrhundert als Hofschranze sein Unwesen trieb, beschreibt aus seinem Innersten heraus seine Welt und sein Verhältnis zu ihr und verzweifelt an seinen eigenen Widersprüchen. Es herrscht depressive Melancholie. Allen beschriebenen Personen haftet ein Missvergnügen an. Er beschreibt Personen wie Lucie, die Putzfrau, die die Ehe mit ihrem Mann, einem Alkoholiker, nur erträgt, wie den Autodidakten, über dessen unumstößlichen Humanismus er sich lustig macht und der einen verhängnisvollen Hang zu kleinen Jungs hat, oder Anny, seine vermeintlich große Liebe, deren Leidenschaft für ihn sich in Gefühlskälte verwandelt hat und die ihn beim Wiedersehenstreffen abblitzen lässt. Er geht durch die Ahnenhalle des Ortes und betrachtet die Portraits der lokalen Persönlichkeiten und stellt fest, dass sie nur ihre Pflicht erfüllt haben und daraus ein Recht auf Herrschaft abgeleitet haben. Es gibt keine Mitmenschlichkeit, keine Empathie, nur Gestalten, die seelisch verkrüppelt durch ihre Existenz humpeln. Verkürzte man das Buch darauf, ginge es um einen Misanthropen, der tausend Beweise für die Schlechtigkeit der Menschheit findet und sich in seiner Depression daran ergötzt. Jetzt kommt die Metaebene ins Spiel. Der Titel des Buches war ursprünglich „Melancholia“ und der ganze Hintergrund erinnerte an Dostojewski. Menschen, die sich an ihrem sinnlosen Leben abarbeiten und zum Scheitern verurteilt sind. Der Verleger schlug den Titel „der Ekel“ vor und hatte damit den richtigen Riecher. Der ursprüngliche Titel deutet darauf hin, dass Sartre sich von seiner eigenen Lebenserfahrung bei der Titelsuche hat überrumpeln lassen. Er war Lehrer in einer Hafenstadt und dort völlig fehl am Platz. Er schlug sich deswegen mit heftigen Depressionen herum. Nichts lag ihm ferner, als seine eigene missliche Lage in den Mittelpunkt eines autobiographischen Romanes zu stellen. Er konnte allerdings sehr genau an die eigene Situation anknüpfen, um seine philosophische Grundidee zu verdeutlichen. Sartre war in erster Linie Philosoph und alle seine literarischen Werke dienten seiner Philosophie. Und er war mehr Philosoph als die meisten seiner Zeitgenossen und Weggefährten und Vertreter der sogenannten Existenzphilsophie, die meines Erachtens zu recht immer als Etikett für eine Denkschule war, derer man ansonsten ihrer Vielfältigkeit nicht habhaft wurde. Zwei Beispiele fallen mir dafür ein: Camus war mehr Literat, seine philosophischen Werke sind voller Prosa und weniger bestrebt einer akademischen Philosophie gerecht zu werden. Bergson schien mehr Philosoph zu sein, allerdings haben seine Texte oft eine beinahe esoterische Note. Seine Lebensphilosophie berührte nicht immer die Inhalte der damaligen akademischen Philosophie. Sogar sein Adept Merlau-Ponty, der genauso wie Sartre sich auf Husserl bezog und der seinen Erfolge fast nur im akademischen Bereich der Philosophie hatte, schrieb politische Texte. Zuletzt sei Simone de Beauvoir genannt, die Romanes schrieb, die philosophische Themen aufgriffen (z.B. das Blut der Anderen), sich dennoch in autobiographischen Texten oder politische und feministische Manifeste (das zweite Geschlecht) verlor. Ein ernsthaft theoretisches Philosophiewerk ließ sie vermissen. Es war damals en Vogue mehr engagierter Literat als Philosoph sein zu wollen. Man wollte sein Wissen nicht nutzen, um vollkommen vergeistigt an der gesellschaftlichen Realität vorbei zu denken, sondern gesellschaftliche Missstände benennen und zu deren Behebung beitragen. Man mischte sich ein und letztendlich gelang die Veränderung. Mit Mitteln der Philosophie veränderte man das politische Denken einer ganzen Epoche. (s. z.B. Mai-Unruhen 1968 in Frankreich, die das Ende der De-Gaulle-Ära besiegelte).

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