Schnitzen

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Ich bin heute mit Kopfschmerzen aufgestanden. Das passiert sehr selten. Ich bin kein Kopfschmerztyp und normalerweise bin ich auch kein Jammerlappen. Ein Großteil meines Alltags besteht daraus, Menschen zuzuhören, die leidend sind. Und wenn ich Ihnen so zuhöre, komme ich Laufe des Gespräches immer zu dem Schluss, dass sie eigentlich nur leiden wollen, damit sich für sie nichts verändern muss. Ich probiere immer wieder diesen Menschen zu erklären, das Veränderung etwas wunderbares sei. Und dann hämmert es in meinem Kopf, dieser verdammte Schmerz aus dem Nichts, dieses Gefühl in den letzten vier Wochen steckengeblieben zu sein, in einem Kreislauf aus Leiden, Kraftlosigkeit und Unfähigkeit festzustecken wie in der sich immer schneller drehenden Trommel einer Waschmaschine im Schleudergang. Eigentlich tragen einem die Fliehkräfte aus der Trommel, aber die Tragik liegt darin, dass einen die Trommel nicht rauslässt…

Es hat angefangen, dass ich ein Exposeé für meinen Roman zwo schreiben wollte und ich fünf Seiten aus meinem Hirn herausgepresst habe wie Kot aus meinem After nach einer Woche Verstopfung. Um dann festzustellen, dass die meisten Verlage keinen Bock auf fünf Seiten haben, sondern nur drei Seiten haben wollen. Jetzt sitze ich seit vier Wochen an diesem Exposee und schnitze es mir zurecht, um nach jedem Schnitzvorgang festzustellen, dass es verdammt nochmal immer noch mehr wie drei Seiten sind…

Dann ging es weiter, dass die Hälfte der Menschen in meiner Umgebung krank geworden sind. Die meisten haben zum Glück nur eine Grippe oder eine Erkältung. Ich kann dieses Gefühl nicht ertragen, bald auch dran zu sein, weil ich diese dummen Viren und Bakterien nicht für immer von mir fern halten kann. Ich will keine Unterbrechung meines Alltags aus Krankheitsgründen. Dafür habe ich einfach viel zu viel zu erledigen. Dazu noch dieses Umbruchwetter, mal Winter, mal Frühling, mal Sonne, mal Wärme, mal Kälte, Regen, Schnee und andere unangenehme Erscheinungen der Natur. Das Warten auf den Frühling zieht mich jedes Jahr herunter (doch ein Jammerlappen). Zu guter Letzt ist auch noch jemand gestorben, den ich seit dreißig Jahren kannte. Ich war auf der Beerdigung und es hat wieder soviel in mir losgetreten, Erinnerungen an alte Zeiten, daran, dass meine Ursprungsfamilie nichts mit mir zu tun haben will , was das eigentlich mit mir macht, zu wissen, dass meine Eltern auch irgendwann in einem Sarg liegen werden und ich nicht an das Rednerpult treten und darüber reden kann, welch wunderbare Menschen meine Eltern waren.

Und dann immer dieses Exposee im Hinterkopf…fünf Seiten…viereinhalb…vier Seiten…bleibt nicht mehr viel übrig…Schnauze weiter schnitzen….

So und zu guter Letzt habe ich noch ein schlechtes Gewissen, weil ich meinen Blog vernachlässige und vielleicht doch der eine oder andere Leser sich von mir abwendet, weil der schreibt ja eh nix mehr…..

Das kann ja so nicht weitergehen…also schnitze ich und sende Lebenszeichen….

Stillleben Deutschland I: Die Turnhalle

Solidarität, Kooperation und gemeinschaftliches Handeln ist selten konfliktfrei. Es verlangt von allen Beteiligten Kompromissbereitschaft, Empathie und Selbstaufgabe. Nur da wo man anpackt, Verständnis für seinen Mitmenschen aufbringt und zumindest zweitweise bereit ist, seine eigenen Bedürfnisse hinten anzustellen, erreicht man gemeinsam etwas. Uns Menschen zeichnet die Ambivalenz aus. Wir können beides: Unser Denken und Handeln auf uns selbst und die Gemeinschaft ausrichten. Die Grenzen zwischen Innen und Außen sind fließend.

  Seitdem die Menschen voneinander verlangen, dass jedes Handeln einen wirtschaftlichen Ertrag bringen muss, ist es schwieriger geworden, die Bedürfnisse der Gemeinschaft vor die eigenen Bedürfnisse zu stellen. Wir vermarkten uns selbst und versuchen das Außen und das Innen zu verschmelzen. Wir werden zur Ware, die sich vor der Schlachtung selbst anpreist, wie das sprechende Tier im Restaurant am Ende der Welt.

 Die Turnhalle scheint ein Relikt aus vergangenen Zeiten zu sein. Man trifft sich zum gemeinschaftlichen Sport. Es ist immer etwas zu viel Hall in der Halle, es ist zu kalt, es riecht nach altem abgestandenem Schweiß, die Farbe blättert von den Wänden, die Toiletten und Duschen sind eklig. Man geht lieber ins Fitnessstudio. Dort findet man klimatisierte Wohlfühlräume und hübsche Menschen, muskelgestählt, die einem ein flauschig weiches Handtuch reichen.  Das Ziel ist es, stundenlang alleine auf einem Quadratmeter zu rennen oder Maschinen zu betätigen, in der Hoffnung dabei gesehen und bewundert zu werden. Das steigert den Marktwert des eigenen Selbst.

 Die Turnhalle hätten wir in den letzten Jahren beinahe aufgegeben. Während Corona hat man Vereinen den Sport untersagt, man hat in ihnen Impfstationen eingerichtet oder Flüchtende einquartiert und bringt, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, die Schwächsten unserer Gesellschaft gegeneinander auf.

 Früher galten wir als Vereinsmeier und Freunde der Turnhallen und öffentlichen Schwimmbäder. Weder das Ehrenamt, noch die Randsportarten wie Handball, Tischtennis, Turnen etc. die zumeist in Turnhallen ausgeübt werden, sind ertragreich genug und auch die öffentlichen Schwimmbäder gammeln vor sich her, weil sie als Zuschussgeschäfte betrachtet werden.

Mittlerweile regt sich der Widerstand der Menschen, die nicht alles unter der Lupe der Wirtschaftlichkeit betrachten. Vielleicht noch rechtzeitig. Man weiß es nicht. Ich gehöre zu denen, die lange den eigentlichen Wert des Vereinslebens und der dazugehörigen Sportstätten nicht erkannt habe. Aber man wird älter und die schlechten Erfahrungen der Kindheit verblassen angesichts der Tatsache, dass meine Kinder und meine Frau sich sehr wohl in ihrem kleinen Verein fühlen und sie jedes zweite Wochenende in irgendeiner Turnhalle verbringen, die es zum Glück noch in fast jedem Dorf landauf, landab gibt. Dort spielen und trainieren sie Handball, ein rustikaler Sport, der auch in Deutschland erfunden wurde und schon immer im Schatten des Fußballs um Anerkennung kämpfen muss. Ein typischer Dorfsport. Viele Mannschaften in den obersten Spielklassen kommen aus kleinen Dörfern oder Kleinstädten. Auch Handball ist ein Opfer der Gewinnmaximierung. Es gibt kapitalkräftige Sponsoren, VIP-Loungen in den Hallen, einen korrupten Weltverband und schon 2015 gab es eine Weltmeisterschaft in Katar. Allerdings ist Handball in seinem Herzen und vor allem in Deutschland ein Provinzsport geblieben. Es hat vielleicht auch seine Vorteile, wenn man sich im Schatten des Fußballs bewegen muss.

 Auch im Handball gibt es schon in den Jugendmannschaften eine marktorientierte Rivalität. So ganz kann man sich in der Turnhalle nicht vom Zeitgeschehen lösen. Aber während man im Fußball sogar schon bei den Grundschulkindern nach Talenten sucht, um sie an einen Verein zu verscherbeln, gibt es beim Handball noch die Breite im Leistungsspektrum und man hat die Chance, sich ohne Hintergedanken am gemeinschaftlichen Sport zu erfreuen. Ich schaue meinen Kindern gerne zu, wenn sie spielen. Meine Tochter ist sehr groß für ihr Alter. In ihrer Mannschaft steht sie häufig im Mittelpunkt des Geschehens. Obwohl ich sie immer für ein stilles und unauffälliges Kind gehalten habe, zeigt sie Führungsqualitäten. Gerade weil sie nicht am lautesten brüllt, sondern sich in den Dienst ihrer Mannschaft stellt. Mein Sohn steht oft im Tor und freut sich, wenn er einen Torwurf abwehrt. Er hat sich von Andreas Wolf, dem deutschen Torwart der Nationalmannschaft, die Jubelgesten abgeschaut und rennt wie irre mit erhobener Faust im Kreis herum. Er macht es nicht, weil er sich für den besten Torwart aller Zeiten hält, sondern weil er weiß, dass man als Mannschaft nur gewinnen kann, wenn man vorne Tore wirft und hinten den Kasten sauber hält. Und ich, der Vereins- und Mannschaftsmuffel (ich jogge seit Jahren alleine, weil ich alleine joggen will) stehe im Turnhallenkiosk und verkaufe, obwohl ich lieber den Spielen meiner Kinder beiwohnen möchte, Hotdogs, selbstgebackene Muffins und Brezeln und schütte anderen Eltern warmen Kaffee in ihre Tassen. Es ist schön zu sehen, wie sich alle wohlfühlen und ich dazu ein wenig beitragen kann. Es ist das kleine Turnhallenglück, auf das wir niemals verzichten sollten, weil es viel zu kostbar ist, auch wenn es keinen Gewinn abwirft.

Ist das nicht ekelerregend?

In unserem Haushalt leben Menschen mit langen Haaren. Glücklicherweise waschen sich diese Menschen regelmäßig, manchmal duschen sie sogar.

 Bei der ausgiebigen Körperpflege unter der Brause kommt es zu partiellen Haarausfall. Was passiert mit den Haaren? Der stete Wasserstrom in der Duschtasse spült die Haare in den Abfluss und dort verfangen Sie sich in einem Sieb.

  Wenn ich mal unter der Dusche stehe, fließt das Wasser nicht ab. Bevor es zur Überschwemmung des Bades kommt, ziehe ich das Sieb aus dem Abfluss und mit einem Mal läuft das Wasser ungehindert ab. Meistens habe ich noch Schaum vom Shampoo in den Augen und trotzdem versuche ich das Sieb zu reinigen. Ein Büschel langer Haare kommt zum Vorschein. Langsam mit spitzen Fingern ziehe ich jedes schleimige Haar aus dem Sieb. Voll eklig! Aber es gibt nun einmal Dinge, die ein Mann tun muss!!!!

 Und genauso ist es mit meinen Romanprojekten. Irgendwann kann ich nicht anders und ich muss es in die Hand nehmen und reinigen!

 Vor anderthalb Jahren habe ich das letzte Mal auf meinem Blog über meinen dritten Roman und meine Schreibfortschritte berichtet. Jo Sommer und ihre Reise zum Südpol schienen nicht mehr in meinem Fokus zu sein und wer den Blog regelmäßig verfolgt, wird wahrscheinlich denken: Schon wieder so ein Möchtegernautor, der still und heimlich sein Romane begräbt!

Weit gefehlt. Ich habe einfach weiter geschrieben und mich auf den Text fokussiert. Anfang Dezember, nach ungefähr anderthalb Jahren Schreibarbeit, ist die erste Fassung des zweiten Teils fertig geworden.

Seit dem letzten Sommer war es mir schwer gefallen, kontinuierlich weiter zu schreiben. Eine gewisse Ermüdung kam zum Vorschein, die sofort die Frage nach dem Sinn meines Unterfangens aufgeworfen hatte. Ich saß vor meinem Bildschirm und habe mich ständig gefragt, was ich eigentlich hier mache?

 Ich habe mich leicht ablenken lassen und wenn ich mal ein paar Sätze produziert habe, waren es kurze Hauptsätze und lange Dialoge.

 Dialoge in Romanen sind ein heikles Thema. Warum braucht man Dialoge in Romanen, kann man doch gleich Drehbücher oder Theaterstücke schreiben? Ganz so einfach ist es nicht. Dialoge in Romanen sind ein wichtige Bestandteil eines Gesamttextes. Ich werde misstrauisch, wenn Autoren über Seiten hinweg Ihre Figuren ausschweifende Gespräche führen lassen. Das ist meines Erachtens Platzverschwendung. Leider musste ich mir irgendwann selbst misstrauen. Komm schreib noch einen schönen langen nichtssagenden Dialog, hast du wenigstens dein Schreibpensum von zwei Seiten pro Nachmittag erledigt!

 Die Arbeit hat sich wie Kaugummi gezogen. Der ganze Rotz, der die Geschichte zusammenhalten sollte, hat sich in halbflüssigen Schleim aufgelöst. Ich habe selbst keine Zusammenhänge mehr zwischen dem ersten Teil, der Kindheit und Jugend von Jo Sommer und dem zweiten Teil, die Reise in die Antarktis, gesehen. Ich wollte einen ganzen Roman schreiben und haben nur zwei halbe geschrieben. Es mangelte an Konsistenz und Kontinuität und wenn ich in solch einer Zwickmühle stecke, schreibe ich wieder viel zu viele Seiten, die ich nachher wegschmeißen muss.

 Ich habe mir meinen Workflow hart erarbeitet. Daher halte ich auch zwingend den Ablauf ein. Erst schreibe ich einen Text fertig und dann fange ich mit der Überarbeitung an. Wenn ich zwischendurch an dem Geschriebenen herumdoktere, verzettele ich mich. Also erst einmal einen Text fertig schreiben, vier bis sechs Wochen Pause machen und dann den Gesamttext kritisch lesen.

Das ist der Punkt, an dem ich jetzt bin. Ich habe das Sieb sozusagen rausgezogen und halte es in der Hand, um mal zu schauen, warum das Wasser nicht abfließt.

In den letzten Tagen habe ich mein Manuskript gelesen. An manchen Stellen hat mich die schlechte Qualität schaudern lassen, an vielen anderen Stellen war ich schlicht zufrieden mit meinem Ergebnis.

Die ersten hundertdreißig Seiten lassen sich flott lesen. Der Anfang gefällt mir sehr gut. Der Text wirkt kompakt und schlüssig. Dann franst er aus und die Qualität lässt nach. Ein Kapitel muss ich völlig überarbeiten und mir etwas Neues ausdenken. Der Schluss des ersten Teiles ist voller Klischees und sentimentalen Ausbrüchen. Ich muss eine Brücke zum zweiten Teil bauen, anstatt mich mit der Schilderung langweiliger Abi-Feten aufzuhalten.

 Der Anfang des zweiten Teiles ist ähnlich kompakt und zwingend wie der Beginn. Wenn Jo über ihren Aufenthalt im Luxushotel und ihre Versuche, einen Roman zu schreiben, berichtet, kann der Text gefallen. Allerdings ist viel Drama und Übertreibung in ihrer Stimme. Sie will das Äußerste erreichen und dümpelt nur in einer seichten Pfütze vor sich her. Schlimm und unausgegoren sind die Rückblicke in die Vergangenheit. Das muss ich unbedingt in der Gesamtschau verkürzen, verengen, realistischer gestalten. In der Mitte des zweiten Teils verliere ich den Faden und der Roman verwandelt sich in einen reisenden Schreibstrom: hier und da bleibt mal was am Felsen im Wasser hängen, manches geht unter, vieles wird einfach mitgerissen und so geht es fast bis zum Schluss. Das heißt nicht, dass ich das nun alles in den Papierkorb befördern muss. Ich muss den reisenden Strom nur kanalisieren, begradigen, die Stromschnellen rausnehmen und in ein ruhiges Flussbett führen. Die wilde, unbändige Fantasie muss sich in eine schlüssige Handlung verwandeln.

Also da sind noch einige glitschige Haar im Sieb…..

Reihe 3, Platz 58 + 59 – Dantons Tod von Georg Büchner

Bei Büchner trifft das pralle Leben auf Todessehnsucht, gesunder Menschenverstand auf Ideologie und der Alltag auf das große Drama. Auch an diesem Abend lehrt uns Büchner wieder einmal, dass ein Individuum, egal wie fancy und cool sein Nimbus sein möge, keinen Einfluss auf den Ablauf der Geschichte hat,  sondern es von ihr wie der Ertrinkende von der Flut mitgerissen wird.

Ich und meine Frau zwängen uns in Reihe drei an den Zuschauern vorbei und in der Mitte der Reihe lassen wir uns auf unseren abonnierten Plätzen nieder. Ich muss meine langen Beine sortieren und meine Frau schaut noch ein letztes Mal aufs Handy. In diesem Moment findet die glorreiche Rückkehr zur Normalität statt. Nach zweiundeinhalb Jahren Pandemie und zahllosen Einschränkungen und Exilen auf anderen Plätzen im Theater kehren wir befreit von Maske und Abstandsgeboten wieder auf unsere Stammplätze zurück. Für uns ein kleiner Triumph. Aber Büchner lehrt uns ja, sich niemals zu früh zu freuen.

Zum ersten Mal sehen wir ein Stück der neuen Spielzeit. Das Stadttheater hat eine neue Intendantin, deren Handschrift sich erst einmal nur in der schlichten Ausführung von Programmheften erkennen lässt. Bei genauerer Betrachtung  steht sie anscheinend für eine Verjüngung und Modernisierung des Spielbetriebs in Gießen:  neue junge Ensemblemitglieder und Regisseure, mit Migrationshintergrund, fröhlich divers. Bei mir blitzen die Reflexe eines alten und weißen Cis-Mannes auf: Das Neue kann ja nix. Dabei hat man gerade in den letzten Spielzeiten eine gewisse Ermüdung im Stadttheater bemerkt, die sich nicht nur mit den Schwierigkeiten bei der Anpassung des Spielbetriebes an eine Pandemie erklären lässt.    

Wir fragen uns die ganze Zeit, ob wir Dantons Tod nicht schon einmal im Stadttheater gesehen haben. Ich habe ganz bestimmt das Stück im Fernsehen gesehen. Meine Frau behauptet noch zwei Minuten bevor die Aufführung beginnt, Dantons Tod mit mir im Stadttheater gesehen zu haben. Während sie ihren Gedanken laut artikuliert, geht der Vorhang auf und  ihre Worte gehen in einer bedrohlich wirkenden Klanglandschaft unter. Die Darsteller turnen auf einem Gerüst herum, filmen ihre Gesichter mit einer Kamera, deren Bilder wiederum auf einen transparenten Vorhang projiziert werden und zwischen den einzelnen kurzen Textzeilen dröhnen die kargen basslastigen Elektrosounds in den Ohren der Zuschauer. Ein Grummeln klippt als Textur durch den Text und man weiß: Achtung Baby! Drama ist angesagt!!!!

Die Theatermacher haben es schon lange kapiert: kein Zuschauer möchte den langen und ausschweifenden Originaltext hören, sie wollen keine Schauspieler sehen, die in den Gewändern des achtzehnten Jahrhunderts über die Bühne parlieren und phrasieren wie kleine Schauspielgötter. Man muss verknappen, zuspitzen und mit zeitgemäßen Impulsen die Emotionen triggern,. Dazu gehört auch, dass Robespierre Haftbefehl zitieren darf!

Es geht ja um nichts weniger als die Französische Revolution, dieses Monster europäischer Geschichte, das für die Ambivalenz historischer Vorgänge steht: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit trifft auf totalitäre und faschistische Machtstruktur. Freiheitsliebende Revolutionäre treffen auf panische Diktatoren, die von den Gefahren der Freiheit besessen sind. Danton und Robespierre vertreten diese beiden Gegensätze. Danton der Lebemann und Berufsrevolutionär, hochbegabt und den Freunden des Lebens zugewandt gegen Robesspierre, der freudlose Ideologe, der die Revolution sofort beenden will, um die Freiheit einzuhegen, bis sie wie ein Tiger im Zookäfig keine Gefahr mehr für ihn darstellt. Im Hintergrund spielt immer die Wirklichkeit eine Rolle. Jeder, der das Stück sieht, weiß Danton wird sterben und Robespierre ihn nur kurz überleben.

Der Überhang cineastischer Effekte, das Verknappen und Verkürzen der Handlung und des Bühnenbildes, alles Fleisch runter vom Knochen kann ich ertragen und sogar gutheißen.

Etwas missfiel mir an der Inszenierung: die Erzählung der Geschichte erfolgt vom Ende her. Die Hinrichtung, die Szenen im Verließ kommen am Anfang und von dort rollt man die anderen Akte des Stückes vor sich auf wie die Rasenteppich auf dem Spielfeld im Fußballstadion. Das Stück endet lapidar und beiläufig. Als hätte Herr Büchner sich nichts dabei gedacht, sich keinen Spannungsbogen zurechtgelegt. In diesem Kontext erscheint der wuchtige Anfang folgerichtig, ist er doch eigentlich das Ende.

Büchner hat übrigens ein paar Monate in Gießen studiert. Das Haus, in dem er in Gießen logierte, liegt ungefähr zweihundert Meter Luftlinie vom Theater entfernt. Büchner hatte damals die Flucht ergriffen und seine letzten beiden Jahre in Straßburg verbracht, wo er mit nur 23 Jahren verstarb. Was für Leben im Zeitraffer und umso größer erscheinen seine drei Theaterstücke zu sein, die zum Kanon des deutschen Theaters gehören. Da passt es gut, dass die zwei männlichen Hauptdarsteller mit 27 Jahren gerade ihre Schauspielausbildung abgeschlossen haben und  mit ihrem Spiel in Erinnerung bleiben. Gerade wenn beide Ihre Monologe ergreifend und glaubwürdig darstellen und wenn sie die Konturen ihrer widerstrebenden Persönlichkeiten zeichnen, Danton mit seiner nonchalanten Lebensmüdigkeit und Robespierre mit der Scheißangst vor der Freiheit, hinterlassen sie Gänsehaut im Nacken des Zuschauers.

Ergänzt werden Sie durch teilweise gestandene Ensemblemitglieder, die ins gleiche Horn stoßen und zu Recht am Schluss den ausgiebigen Applaus und vereinzelte Bravorufe in Empfang nehmen.

Und was lernen wir aus dem Stück: Die Freiheit muss immer verteidigt werden und zu glauben, dass sie einem nicht genommen werden kann, kann einen bis aufs Schafott bringen.

Frankfurter Buchmesse 2022

Endlich wieder Buchmesse! Unser letzter Besuch liegt drei Jahre zurück und nun wagen wir wieder einen Ausflug nach Frankfurt. Routiniert steigen wir um halb acht in den Zug und kurz nach neun stehen wir am Eingang des Messegeländes.

Wir beginnen wie immer in Halle drei.  Es herrscht noch nicht viel Betrieb. Als routinierter Messebesucher sieht man die Veränderungen in der Halle. Weniger Aussteller, breitere Gänge. Einerseits verteilen sich die Besuchermassen besser, andererseits fehlen natürlich so namhafte Aussteller wie der Spiegel.

Meinem siebenjährigen Sohn war das erst einmal egal. Er eilt beim Betreten der Halle sofort zum LEGO-Stand und bekommt eine Individualbetreuung von einem Standmitarbeiter, der ihn die neuesten Produkte seiner geliebten Ninjago-Serie anpreist. Am Fotoautomaten ist er der Erste und so bekommt er ohne Wartezeit sein obligatorisches Ninjago-Foto. Der Tag hat für meinen Sohn schon einmal gut begonnen. Er ist großer Harry-Potter-Fan und kennt die Bücher quasi auswendig. Und weil es viele Menschen wie meinen Sohn gibt, ist  Harry Potter eine echte Cash-Cow für die Buchindustrie, die bis auf den letzten Tropfen abgemolken wird. Jedes Jahr gibt es irgendetwas Neues von Harry Potter und mag es noch so abstrus irrelevant sein wie ein Buch über „QUIDITTCH, im Wandel der Zeiten“. Natürlich hat der Carlsen-Verlag als ursprünglicher Harry-Potter-Verlag die Nase vorne. Andere Verlage springen auf den Zug auf und bringen so illustre Werke wie Häkeln im Harry-Potter-Style und ähnliches raus. Mein Sohn muss das alles antatschen und sich anschauen. Außerdem freut er sich über kostenlose Prospekte, Bücher und kleine Give-Aways nach denen er freundlich und höflich, wie er nun einmal ist,  an den Ständen fragt. Und so sind wir bis zur ersten Veranstaltung damit beschäftigt, in Halle drei alle Kinder- und Jugendbuchstände abzugrasen.

Einige Veranstaltungen finden dieses Jahr im Congress-Zentrum der Messe Frankfurt statt. Wir müssen etwas suchen, bis wir den Veranstaltungsaal finden, in dem das Spiegel-Gespräch mit Luisa Neubauer, Alexa Hening von Lange und Shelly Kupferberg, die von Susanne Beyer zum Thema „Wie jüngere mit dem Erbe der Großeltern umgehen“ interviewt werden.

Der Spiegel hat in diesem Jahr nur ein großes Gesprächsevent zu bieten. Der große Saal ist halb gefüllt. Ein Großteil der Zuschauer ist jung, weiblich und wahrscheinlich wegen Luisa Neubauer vor Ort und ehrlich gesagt sind wir auch wegen Luisa Neubauer da. Die beiden anderen Damen kenne ich nicht. Wahrscheinlich ist das ein Fehler. Alle drei haben das gleiche Thema: Der Umgang Ihrer Familien mit der eigenen dunklen Vergangenheit.  Alle drei können auf hohen intellektuellen Niveau auf die Fragen von Susanne Beyer antworten. Die verschiedenen Perspektiven auf das gleiche Thema lassen uns neugierig zuhören. Ich mag die Gespräche und Diskussionen auf der Buchmesse ganz besonders. Daraus ergeben sich immer wieder neue Ansätze und andere Verknüpfungen, die ich gerne weiter verfolge. Hier ist es für mich der Verweis von Frau Neubauer auf den Soziologen und Rechtsextremismusforscher Matthias Quent, der sich z.B. mit der Frage beschäftigt, inwieweit der Diskurs um den Klimawandel von Rechten instrumentalisiert wird.

Meine elfjährige Tochter hat Feuer und Flamme  für das neue Buch von Frau Neubauer und ihrer Großmutter Dagmar Reemtsma gefangen: Gegen die Ohnmacht.

Nach dem Spiegel-Gespräch gehen wir zu dem Stand von Klett und Cotta und suchen das Buch. Glücklicherweise gibt es ein von Frau Neubauer signiertes Exemplar.  Ich nehme es an mich, bevor es ein anderer macht und bezahle an der Kasse den gleichen Preis wie für ein Exemplar ohne Autogramm.  Später fällt mir an anderen Ständen auf, dass viele Verlage von Autoren signierte Bücher verkaufen. Meine Tochter freut sich riesig und weil sie sich mit ihren elf Jahren ihre eigenen literarischen und politischen Interessen entwickelt hat, gebe ich zwei ihrer Buchtipps weiter

Heartstopper – Eine Grapic-Novel-Serie von Alice Oseman – zwei schwule Jungs, die sich in der Schule ineinander verlieben – die Serie wurde unter Mitwirkung der Autorin dieses Jahr für Netflix verfilmt und mit großem Erfolg ausgestrahlt.

Der perfekte Mord – von Alexander Stevens. Meine Tochter regelmäßig den Podcast „True Crime“ vom bayrischen Rundfunk und Herr Stevens ist einer der Moderatoren.

Wir ziehen weiter. Am Stand des Vorwärts wollen wir uns in der Veranstaltungsreihe ‚Politik trifft Buch‘ das Gespräch zwischen Ulrich Schnabel und Kevin Kühnert zum Buch von Herrn Schnabel mit dem Titel: „Zusammen“ verfolgen. Wenn der SPD-Generalsekretär auf der Buchmesse auftritt ist der Andrang groß. Schon eine halbe Stunde vor Beginn der Veranstaltung sichern sich einige Messebesucher einen Steh- bzw Sitzplatz. Ich gehöre auch dazu und als Kevin Kühnert auf die Bühne kommt, stehe ich drei Meter entfernt von ihm und kann erkennen, dass Ketterauchen und der übermäßige Kaffeekonsum bei ihm zu einer außergewöhnlich blassen Gesichtsfarbe führt. Herr Schnabel ist gut aufgelegt, erzählt eine Anekdote nach der anderen und die Interviewerin und Herr Schnabel versuchen Herrn Kühnert ständig aus der Reserve zu locken und zu irgendwelchen heiklen Aussagen zu zwingen. Aber ganz Politprofi verliert sich Herr Kühnert in ausweichende Antworten, die allerdings nicht so inhaltsleer rüberkommen, wie man es bei einem Politiker vermutet.  Wenn redefreudige Professoren auf Rhetorikverliebte Politiker treffen zieht sich alles in die Länge und so überziehen die beiden gewaltig. Mir schmerzen vom Stehen die Füße und nach vierzig Minuten kann ich endlich mal mir die Beine vertreten. Plötzlich ist unser Sohn verschwunden. Wenn es ihm langweilig wird, geht er gerne stiften. Meine Töchter suchen ihn und meine Frau und ich müssen am Stand des Vorwärts warten. Dabei können wir einen gutgelaunten Kevin Kühnert zum Anfassen erleben, der noch lange mit Zuschauern und Messebesuchern spricht, Autogramme verteilt und Selfies mit Zuschauern macht.

Irgendwann muss ich mal ein paar Meter laufen und so durchstreife ich die Gänge auf Suche nach meinem Sohn. Ich muss feststellen, dass die Selfpublisher-Ecke sich fast aufgelöst hat. Dort tummeln sich nun die letzten Reste rechtspopulistischen Verlagswesens. Irgendein Kleinverlag (Gerhard Hess Verlag) präsentiert einen alten weißen Mann im schwarzen Anzug, der Schlips und Sechziger-Jahre-Gesicht trägt und Vortrag über Identitätsbrüche hält. Links neben ihm steht ziemlich alleine ein dürrer, griesgrämiger Typ und verteidigt die Junge Freiheit gegen den linksgrünversipphten Mainstream-Gender-Wahnsinn. Mein Handy klingelt. Meine Tochter hat meinen Sohn wieder gefunden. Weit entfernt am Stand der Bundesbank hat er Lesematerial abgestaubt. Glücklicherweise kommt er doch immer wieder zurück zu uns.

Nun haben wir noch etwas Zeit und meine Frau sucht nach dem Stand des Katapult-Verlages. Der Verlag ist das Folgeprodukt des Magazins Katapult. Beides kommt aus Greifswald und verfolgt neue Ansätze. Z.B. versuchen sie aktuelle Themen anhand von Landkarten aufzubereiten. Mir ist der Titel „Die Säufer und Säuferinnen der Philosophie“ in die Hände gefallen. Eine amüsante Aufbereitung der Philosophiegeschichte anhand der Trinkgewohnheiten berühmter Philosophen.

Meiner kleinen Tochter ist es langweilig und weil sie mich inspiriert hat, versuche ich sie zu inspirieren und schleppe sie zum Stand des Reclam-Verlages. Sie soll die gelbe Reihe kennenlernen. Als Jugendliche kann man doch den einen oder anderen Klassiker günstig mit seinem Taschengeld kaufen, wenn man weiß, dass es die kleinen gelben Hefte gibt. Außerdem hat der Reclam-Verlag jedes Jahr interessante Neuerscheinungen, mit denen man nicht unbedingt rechnet. Auch diesmal finde ich einige Überraschungen und interessante Titel: Hanns Josef Ortheil – Charaktere in meiner Nähe – Über Herrn Ortheil habe ich schon geschrieben Diesmal hat er 50 literarische Miniaturen verfasst, die der Kunst des genauen Beobachtens gewidmet sind. Übrigens hat Herr Ortheil auf seinem Blog auch ein paar Artikel über die diesjährige Buchmesse geschrieben (Link)

Dann finde ich eine Biographie über Rick Rubin. In dem Wälzer  wird sein Wirken als Musikproduzent  anhand der von ihm produzierten Alben erzählt. Rick Rubin, der alte Buddha des Musikbusiness, hat unzähligen Künstlern den richtigen Kick gegeben. Ich blättere durch das Buch blättert und staune, welche Meilensteine der Popularmusik von ihm produziert wurden. Übrigens kann ich nur seinen Podcast empfehlen (wer Spotify hat, findet ihn leicht: Broken Record). Mit seiner angenehm warmen und sonoren Stimme kommt er ins Gespräch mit Musikern, die mit ihm über ihre Arbeit reden.

Zu guter Letzt fällt mir von Sandro Zanetti – Literarisches Schreiben – Grundlagen und Möglichkeiten in die Hände. Kein Ratgeber für angehende Autoren, sondern eine intelligente Reflektion über das literarische Schreiben. Mit dem Buch gehe ich ganz schnell zu Kasse. Das muss ich haben.

Mittlerweile ist es Nachmittag und wir sind ziemlich geschafft. Wir wollen den Tag auf der Buchmesse mit Judith Holofernes beenden. Der Podcast-Sender Detektor.fm ist in Halle 4.0. Zu unserem Erstaunen befinden sich in der Halle wenige Aussteller. Man hat viele unterschiedliche Verlage und Anbieter zusammengewürfelt. In einem Gang sind nur Verlage aus dem Nahen Osten, daneben die Schriftsteller-Verbände, Landesvertretungen, Verlage aus Hessen oder Thüringen und die Bundesgesellschaft für Endlagerung. What the Hell suchen DIE auf der Buchmesse…

Etwas irritiert positioniere ich mich bei Detektor.fm und warte auf Judith Holofernes. Ich bin so früh, dass ich noch das Interwiev mit Florence Brokowski-Shekete mitbekomme und aufhorche. Frau Brokowski-Shekete berichtet sehr eindringlich und plastisch über ihre Interwievs mit POC, die in Deutschland leben und ihre eigenen Erfahrungen als farbige Frau in Deutschland. Danach kommt wirklich Judith Holofernes, die Sängerin der Band „Wir sind Helden“. Als die Band ihre größten Erfolge feierten, war ich eingefleischter Fan der Band. Frau Holofernes hat damals mit ihren klugen und witzigen Texten den festgezurrten Rahmen deutscher Popmusik gesprengt. Und nun: Och ja, wenn das echte Leben auf Künstler trifft, neigen sie manchmal dazu zu jammern. Auf einen Schlag verlieren sie ihre intellektuelle Hybris und alles an ihnen wirkt gewöhnlich und naiv. Frau Holofernes stammelt etwas unsicher, sucht lange nach den richtigen Worten und ist leider für mich die Enttäuschung des Tages. Aber auch die Helden sind nur Menschen….

Die Füße tun weh, wir suchen den Ausgang, ab zum Bahnhof. Wir steigen in unseren Zug und fahren nach Hause. Wieder liegt eine Buchmesse hinter uns und hoffentlich die nächste vor uns (man ist ja vorsichtiger mit Zukunftsprognosen geworden….Pandemien, Kriege und so…)

Von Wetzlar nach Poggibonsi

Im Val d`Elsa hoch über Poggibonsi, an der Straße nach Castelina in Chianti, Inmitten eines Waldes, umgeben von Weinreben und Olivenbäumen liegt die kleine Siedlung il Granaio. Mehrere alte Bruchsteinhäuser, die man zu kleinen Appartments und Ferienwohnungen mit einem Pool und einem Tennisplatz umgebaut hat. Ein schmaler Waldweg uneben, übersät mit unzähligen Schlaglöchern führt ca. anderthalb Kilometer von der Landstraße hinauf zu unserem Sehnsuchtsort, den wir im August zum dritten Mal besucht haben. Wenn wir dort auf unserer Terasse sitzen, haben wir eine perfekte Aussicht auf das Weingut Melini, die Landstraße, das alte Kloster San Agnese und auf die Türme der mittelalterlichen Stadt San Gimignano. Alleine schon der Anblick der Landschaft ist es wert, dorthin zu fahren.  

Die letzten beiden Male haben wir die Strapazen einer Autofahrt auf uns genommen, um die Strecke von ca. 1100 Kilometern von Wetzlar nach Poggibonsi zu überwinden. Unsere Reise begann dann tief in der Nacht und führte uns über die Autobahn an die Grenze. Wir überquerten die Alpen, um uns am nächsten Morgen in die Blechlawine einzuordnen, die sich im Schritttempo durch Südtirol, am Gardasee vorbei, über Milano und Bologna bis nach Florenz quälte, um dann völlig übermüdet am Nachmittag des nächsten Tages oben in unserem Dorf anzukommen.

 Diesmal wollten wir uns die Tortur ersparen und die Strecke mit dem Zug zurücklegen. Wir wollten uns den Stress nicht mehr zumuten. Wer mal am Morgen an einem Rastplatz inmitten des Nirgendwo angehalten hat und die ganzen todmüden Zombies beobachten konnte, wie sie ihren übermotorisierten Blechsärgen entsteigen, weiß wie gefährlich diese Art zu reisen ist

Weil wir uns vor längerer Zeit entschlossen haben, unsere persönliche Verkehrswende weg vom fossilen Verbrenner hin zu gar keinem Automobil durchzuführen, nutzen wir im Alltag die Bahn recht häufig. Wir haben uns angewöhnt bei Ausflügen mit unseren Kindern immer nach geeigneten Zugstrecken Ausschau zu halten und wenn die Nutzung von Bus und Bahnen nicht möglich ist, suchen wir uns andere Ausflugsziele.

 Meine Frau hat sich im Laufe der Jahre zu einer Expertin bei der Nutzung der Bahnapp entwickelt. Auch diesmal hat sie für uns die Zugverbindungen herausgesucht. Im Laufe ihrer Reiserecherchen entstand die Idee, mit dem Nachtzug zu fahren. Die deutsche Bundesbahn hat vor längerer Zeit ihre eigenen Nachtzüge von den Gleisen genommen. Es gibt allerdings ein Angebot der ÖBB (Österreichische Bundesbahn) in der Nacht von München nach Rom zu fahren. Anfang des Jahres stand die Nummer. Meine Frau hatte alle Tickets gebucht. Einen Wermutstropfen gab es: ab Florenz und für Ausflugsfahrten in der Toskana brauchten wir unbedingt ein Auto. Ein richtiges E-Auto im Ausland mieten? Fehlanzeige! Es gibt einfach kein Angebot. Mal abgesehen von der unbekannten Ladeinfrastruktur. Ein Renault Clio hat für fünf Personen und unser Gepäck ausgereicht. Das Gepäck musste in drei Wanderrücksäcke reinpassen. Mit einem zehn Kilo schweren Rucksack auf dem Rücken kann man einen fulminanten Hundermeterlauf hinlegen, um den Zug noch zu erreichen. Mit Koffern ist man beim Rennen klar im Nachtteil. Sommerklamotten, Zahnbürste und Bücher, mehr brauchen wir nicht. Da es im August in Mittelitalien immer heiß ist, braucht man keine Regenjacken oder Pullis mitzunehmen.

 Im Laufe des Frühlings wuchs die Vorfreude. Nach fünf Jahren (davon zwei Coronajahren) wieder nach Italien. Juchuuuuu!!!! Sie sehen gerade das letzte U, begleitet von einem archaischen Echo, in der tiefen Schlucht meiner Urängste verschwinden. Ein paar Tage vor meinem Urlaub habe ich natürlich stolz jedem erzählt, der mich nicht danach gefragt hat, dass wir mit dem Zug nach Italien fahren. Zwei Kolleginnen haben mich regelrecht ausgelacht…„Das wird doch nie was….mit der Bahn nach Italien…“ Der alte Affe Angst kroch mir auf die Schultern. Was wenn die Kollegen recht haben und wir uns zu viel zumuten.. Zwei Erwachsene, drei Kinder, drei Rücksäcke, das klappt niemals!

 Meine Frau konnte ich mit meinen Bedenken nicht infizieren. Sie blieb stoisch bei ihrer Einschätzung, dass dies eine wunderbare Reise wird und so sind wir dann an einem Samstagmorgen in Wetzlar in den Zug gestiegen.

 Der Zug in Wetzlar fuhr pünktlich um halb zehn los. In Giessen ging es weiter mit dem RE 30. Leider steht auf allen Anzeigetafeln, dass der Zug in Frankfurt Hauptbahnhof endet. Die Züge aus Mittelhessen halten baustellenbedingt nicht mehr am Frankfurter Hauptbahnhof, sondern an Bahnhof Süd in Frankfurt. Wer in Süd aussteigt, kann mit der Straßenbahn ohne Probleme an den Hauptbahnhof kommen. Wer allerdings glaubt, er erreicht direkt den Frankfurter Bahnhof und hat die Umsteigezeit in einen anderen Zug zu knapp bemessen, wird wohl seinen Anschlusszug verpassen. Gerade Fahrgäste, die von außerhalb kommen, werden hier unter Umständen ein Reisefiasko erleben. Zum Teil verlängert sich die Fahrzeit um eine Stunde.

 Panisch hatte ich meine Frau schon vor Wochen bekniet, in Wetzlar einen Zug früher zu nehmen. Das war die richtige Entscheidung. Zu der verlängerten Fahrzeit gesellte sich noch das Chaos auf dem viel zu engen Bahnsteig in Frankfurt Süd. Der Bahnsteig und die Abgänge vom Bahnsteig sind natürlich nicht für die Fahrgastmassen gut gefüllter Regionalexpresszüge gedacht. An den Abgängen leitete Sicherheitspersonal die Ströme der Fahrgäste und trotzdem dauerte es eine halbe Stunde bis wir an der Straßenbahnhaltestelle standen.

 Durch unsere verfrühte Abreise erreichten wir den ICE nach München ohne Verzögerung. Im ICE begann der Urlaub, denn wir hatten Sitzplätze reserviert und konnten die nächsten vier Stunden entspannt aus dem Fenster schauen und die Landschaft an uns vorbei ziehen lassen.

In München kamen wir auf die Minute pünktlich an und hatten ca. 3 Stunden Aufenthalt. Für schmale 6 EUR haben wir unsere 3 Rücksäcke in ein Schließfach am Bahnhof bugsiert, sind gemächlich  mit dem Bus in den Englischen Garten gefahren, um im Biergarten ein Schlummerbier zu trinken und etwas zu essen. Ich spürte den Alkohol in meinen Adern, verfiel in eine bierselige Euphorie (das ist meines Erachtens der einzige Grund, warum Menschen in München einen Biergarten besuchen) und schrieb hämische und triumphierende Nachrichten an die Pessimistinnen in der Heimat. Meine Frau checkte derweilen ihre Mails am Handy und erstarrte. Die ÖBB schrieb, ein Wagen könne aus technischen Gründen nicht mitfahren. Meine Frau kramte in ihrer Handtasche, zog die Fahrkarte heraus und war erleichtert. Es betraf zum Glück nicht unseren Wagen.

 Rechtzeitig zur Abfahrt unseres Nachtzuges waren wir wieder am Hauptbahnhof. Unser Zug stand schon am Gleis. Es gibt in den Nachtzügen drei Kategorien. Sitzplätze, Liegewagen (sechs einfache Pritschen in einem normalen Abteil und Schlafwagen (drei oder weniger Schlafplätze, in der Luxusausführung sogar mit eigenem Badezimmer). Wir hatten einen Liegewagen gebucht

 Als wir ankamen, gab es schon die ersten dramatischen Szenen am Zug. Familien mit kleinen Kindern, die am Zug erfuhren, dass ihre gebuchten Plätze sich in dem Wagen befanden, der aus technischen Gründen nicht mitfahren konnte. Wir schlichen uns mit einem schlechten Gewissen in unseren Liegewagen, der zu einer älteren Wagongeneration gehörte. Alles in dem Abteil war sehr einfach gehalten und leicht angeranzt. Die Sitzplätze kann man innerhalb einer Minute in Schlafplätze umwandeln. Dazu gab es schmale und dünne Kopfkissen, Matratzenbezüge und Wolldecken. Wir mussten uns in der Enge erst einmal orientieren und Platz schaffen, in dem wir das Gepäck in das große Ablagefach über der Abteiltür verstauten.  Es war im Abteil sehr warm und als der Zug mit einer halben Stunde Verspätung losfuhr, war wir erst Mal froh, dass die Klimananlage sofort kalte Luft in den Raum blies. Es gibt für jeden Wagen Servicepersonal, freundliche Personen in Uniform, die nicht bei der ÖBB arbeiten, sondern von einem Dienstleister zur Verfügung gestellt werden. Die Dame, die uns betreute, war sehr freundlich, hatte aber wenig Zeit und erklärte wenig.

 So langsam ging es an die Bettruhe. Wir waren gegen halb neun losgefahren. Gegen zehn Uhr hatten wir uns eingerichtet. In jedem Wagen gibt es unbequeme Waschräume. Wie immer bei der Bahn hat das alles den Charme einer Absteige. Wir waren den ganzen Tag in der Hitze unterwegs und wollten uns wenigstens etwas abwaschen, Zähne putzen und uns umziehen. Schmallippig, mit Luft anhalten und spitzen Fingern in einer engen Schmuddelkammer braucht man dafür natürlich Ewigkeiten und irgendwann gegen halb elf hatten wir es geschafft und lagen alle auf unseren Pritschen.

 Nur gleichmütige Gemüter können in einem Zug tief und fest schlafen. Man hört und spürt alles. Der Zug rattert über die Gleise. Wenn der Zug beschleunigt, beschleunigt der eigene Körper mit und wird an den Rand der Pritsche gezogen. Wenn der Zug bremst, rollt der Körper zur Wand. Vor den Abteilen im Gang ist immer etwas los. Auf dem Gang vor unserem Abteil hatten sich zwei jungen Frauen eingerichtet. Jedes Mal, wenn jemand von uns raus musste, mussten wir über sie steigen. Zu guter Letzt stellte sich heraus, dass die Klimaanlage sich nicht regeln ließ. Sie blies die ganze Nacht in der Lautstärke eines Staubsaugers kalte Luft in den Raum.

 Ich war höllisch müde und hatte es wirklich geschafft, einzuschlafen. Gegen halb eins in der Nacht klopfte jemand an unsere Abteiltür. Bis ich reagieren konnte, hatte derjenige die Tür, die nur mit einer einfachen Kette abgeschlossen werden konnte, aufgerissen und uns auf Englisch aufgefordert, sein Abteil zu verlassen. Wir hatten irgendwo in Österreich gehalten und es waren neue Fahrgäste zugestiegen. Ohne die Augen richtig zu öffnen, brüllte ich den Eindringling an, dass er sich im Wagen geirrt habe und verschwinden solle. Ich hatte zwar erreicht, dass der Eindringling uns sofort in Ruhe ließ, aber ich selbst konnte nicht mehr einschlafen. So schunkelte ich die halbe Nacht auf meiner Pritsche hin- und her, lauschte dem Staubsauger und wartete auf das Ende der Nacht.

 Außer meinem siebenjährigen Sohn, der in der oberste Pritsche tief und fest schlummern konnte, hatte niemand von uns richtig geschlafen. Um halb sieben brachte die nette Frau, die für unseren Wagen zuständig war uns unser Frühstück. Wir sortierten uns neu, zogen den Verdunklungsrollo hoch, klappten die Pritschen hoch und betrachteten die italienische Landschaft, die an uns vorbeizog. Es gab heißen Kaffee, zwei Brötchen, Butter und Marmelade. Vollkommen ausreichend, um den ersten Tag in Italien zu beginnen. Mit zwanzig Minuten Verspätung kamen wir gegen halb acht in Florenz an.

 Unsere Autovermietung machte erst um neun Uhr auf. Es war Sonntag und wir waren froh, dass die Autovermietung in der Innenstadt überhaupt geöffnet hatte. Ansonsten hätten wir in Florenz an den Flughafen fahren müssen. Wir nutzten die Zeit und schlenderten zum Dom und der Ponte Vecchio. Was für ein schöner Urlaubsbeginn: Im Morgenlicht auf der menschenleeren Ponte Vecchio stehen und den Arno hinaufschauen.  Um halb neun schlugen wir unser Lager vor der Autovermietung auf. Wir wollten die ersten sein. Um neun machte die Autovermietung auf und hinter uns hatte sich eine Schlange von Touristen gebildet, die sich alle ein Auto mieten wollten. Eine halbe Stunde später saßen wir im Auto auf dem Weg nach Poggibonsi. In Poggibonsi haben wir erst einmal im Coop eingekauft und sind dann zu unserer Wohnung gefahren. Mittags saßen wir zum ersten Mal auf unserer schattigen Terrasse und haben den Ausblick auf die einmalige Landschaft genossen. Wir waren an unserem Sehnsuchtsort angekommen.

Nicht Reihe 3, Platz 58 und 59: Monty Python`s SPAMALOT

Ich hasse Musicals und ich liebe Monty Pythons. Meine Sympathie für die englische Komikertruppe und ihren tiefgründigen, bitterbösen Humor und meine Antipathie für den Vortrag perfekten und formelhaften Liedgutes im Rahmen irgendwelcher inhaltsleeren Handlungen sind Teil meiner Sozialisation.

 Ich gebe es zu: Musical als Kunstform hat schon immer mehr zu bieten, als Andrew Lloyd Webber und seine verquasten Operetten für Uschi und Bernd, die auch mal ins Theater gehen wollten und dafür extra ein langes Wochenende in Hamburg verbracht haben, um Katzen beim kunstfertigen Jaulen zuzuhören. Und mir ist auch bewusst, dass die Pythons in den letzten fünfunddreißig Jahren nichts anderes gemacht haben, als ihr Oeuvre gewinnbringend auszuschlachten.

 Aber in den Achtzigern standen sich beide diametral gegenüber. Die Musicals von Andrew Lloyd Webber gewannen in Deutschland an Popularität und wurden Teil des schmalen Kulturkanons des kleinbürgerlichen Milieus, der aus einer Mitgliedschaft im Bertelsmann Buch Club, Sissi- und Winnetou- Filmen und dem Blauen Bock bestand. Kulturelle Angebote sollten niederschwellig, harmlos und eskapistisch sein. Viele Menschen hielten verkrampft an der Vorstellung fest, dass die Aufgabe der Kultur in der Reproduktion einer heilen Welt bestehen sollte. Das Leben meiner Eltern und ihrer Zeitgenossen schien die meiste Zeit von einer unheilvollen Sehnsucht nach einem gesellschaftslosen Paradies geprägt zu sein, in dem sie unberührt von den Problemen der Welt glücklich sein durften.

 Heute weiß ich, dass meine Eltern und viele ihre Altersgenossen diese Haltung von ihren Eltern geerbt haben. Ihre Eltern hatten ihnen die Last der Vergangenheit übertragen, die schwer auf ihren Schultern lastete. Und weil unsere Eltern deswegen ständig Kopfschmerzen hatten, vermieden sie jegliche Aufregung, die durch eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart hätte entstehen können.

 Aber ich wollte nicht wie meine Eltern sein und ihre Last weiter schleppen. Wie schon in anderen Beiträge beschrieben, hatte ich mir meine eigenen Wege gesucht. Sich einen zynischen Humor anzueignen, den ich wahlweise nutzte, um ihn wie ein Schild zu meinem Schutz vor mir her zu tragen oder ihn wie einen Speer in die Seite der Alten zu piksen, gehört zu meiner Abgrenzungsstrategie.

 Den Humor als Waffe einzusetzen, das hatten die Pythons in einem frühen Sketch schon ausgeschlachtet: Der tödlichste Witz, jeder der ihn hört, lacht sich tot. Der Sketch endete mit dem Einsatz des Witzes im zweiten Weltkrieg. Die Nazis wurden besiegt, weil sie Reihenweise vor Lachen tot umfielen. Das passte perfekt zu meiner Situation…

 In den Pythons fand ich die Großmeister, die mich lehrten, dass jeder Witz, der sich aufdrängte, wie ein Elfmeter war, ein Geschenk, das man einfach nur annehmen musste, in dem man den Ball vom Elfmeterpunkt in das Tor transportierte.

 Und nun sitze ich nach über dreißig Jahren, als ich das erste Mal im Fernsehen zu später Stunde (ich glaube, es war eine langatmige Silvesternacht) die wunderbare Welt der Schwerkraft gesehen habe, im Gießener Stadttheater neben meiner Frau, die ich unter anderem auch für ihren Humor liebe, der meinem nicht unähnlich ist und muss mir anschauen, wie „Ritter der Kokosnuss“ von den Pythons als Musical auf die Bühne gebracht wird. Ein seltsames Gefühl, eine Mischung aus Wehmut und leichte Panik, dass sich nicht nur die Pythons untreu geworden sind.

 Die Handlung beruht auf der Artussage. König Artus zieht durch sein Königreich, auf der Suche nach tapferen Männern, die mit ihm gemeinsam den heiligen Gral ausfindig machen sollen. Mehr muss man dazu nicht erzählen, denn so gut wie jeder kennt den Film und wer ihn nicht gesehen hat, hat zumindest vernommen, dass Ritter ohne Pferd so tun, als säßen sie auf einem Pferd, während ihre Knappen hinter ihnen herlaufen und zwei Kokosnusshälften aufeinanderschlagen, um das Galoppieren der Pferde zu imitieren. Wahrscheinlich kennt jeder auch die ziemlich grausame Szene in der Artus gegen den schwarzen Ritter kämpft, der vollkommen siegesgewiss den Kampf mit Artus aufnimmt und nach und nach seine Gliedmaßen verliert und zum Schluss ohne Arme und Beine sich mit König Artus auf ein Unentschieden einigen will.

 All das bringt man in Gießen auf die Bühne und verknüpft es mit heiterem Singsang, im üblichen Eric-Idle-Style, der Python, der wohl die Hits der Truppe zu verantworten hatte. Launige britische Musik, swingend und nicht unkompliziert, bitterböser Humor in gefälligen Melodien verpackt. Ab und zu schmettert eine attraktive Musicaldiva einen richtigen Musicalbrocken hinaus in die Welt und schon ist meine Panik verschwunden. Die Pythons sind sich treu geblieben und haben das Genre Musical geschickt durch den Kakao gezogen.

 Es fühlt sich fast wie eine Versöhnung mit meiner Vergangenheit an. Dazu noch das sympathische Bühnenpersonal, das selbst einen Riesenspaß bei der Erfüllung seiner Aufgabe hat. Als das Publikum am Ende frenetisch klatscht, grinse ich breit und denke mir, dass es ein guter Theaterabend war.

Mein Alter Ego – Matt Kavon

Oh, my Gosh…it´s out now…

Völlig unerwartet habe ich zum ersten Mal meine eigene Musik veröffentlicht. Und dafür habe ich mir sogar einen Künstlernamen zugelegt. Bitte französisch aussprechen! Das hört sich viel gehaltvoller an.

Eigene Musik zu veröffentlichen, ist heute verdammt einfach. Man braucht keine Plattenfirma mehr, um zig Millionen Hörer zu erreichen. Allerdings heißt das noch lange nicht, dass die Musik auch von zig Millionen gehört wird.

Aber das ist nur das Ende eines langen Prozesses. Insgesamt habe ich dafür ca. fünf Jahre gebraucht. Darüber berichte ich gerne das nächste Mal.

Jetzt lassen wir erst mal die Musik sprechen? erklingen? Ach egal! Klickt auf den Link und hört es Euch an! Freue mich über Feedback!

https://open.spotify.com/embed/album/1oRzrPgSwuYxJKh6X3gyJ8?utm_source=generator

Mein Ortheil oder wie ich Klavierspielen lernte

Wenn mich ein Buch in sein Bann zieht, dauert es nicht lange und ich interessiere mich für die Person des Autors. Ich setze mich mit ihm intensiv auseinander, indem ich recherchiere und in den unterschiedlichsten Wissensquellen herumwühle. Werde ich fündig,  entzündet sich in mir ein Feuer der einseitigen Leidenschaft. Am Ende habe ich das gesamte Werk des von mir verehrten Schriftstellers auf Lunge inhaliert, kann über seinen gesamten Lebenslauf, seine Eigenheiten und Marotten, seine Gewohnheiten und sein Umfeld referieren. Spätestens an diesem Punkt gerät mein Nerdtum außer Kontrolle, verwandelt sich meine Neugier in bedingungslose Zuneigung, die wahnhafte Züge trägt. Wenn ich diesen Gipfel erreicht habe und wirklich alles in mich aufgesaugt habe, kommt bald der Punkt, an dem das schnulzige und kitschige Gebilde meiner Liebe in sich zusammenfällt, wie der rosarote Schaum auf einer Schaumparty nachts um halb drei. Und dann ziehe ich als Experte weiter zum Nächsten.

 Ich weiß noch nicht, an welchem Punkt ich in meiner Beziehung zu Hanns-Josef Ortheil angelangt bin.  Der Name war mir bekannt, er huschte immer mal wieder durch die einschlägigen Publikationen. Meine Aufmerksamkeit hat die Tatsache erregt, dass seine Familie aus dem Westerwald kommt. Ich habe ja einen Faible für Autoren, die einen Bezug zu meiner Heimat haben und darüber schreiben. Das war nun schon der erste Bezugspunkt. Und als ich einen Hinweis auf einen Fernsehbeitrag zu seinem siebzigsten Geburtstag erhalten habe, war es an der Zeit, sich an den Autor und sein Werk heran zu schleichen.

 Herr Ortheil ist ein anscheinend kleiner gedrungener Mann, mit einer Dreiecksnase und hellen, freundlichen Gesichtszügen, der mit einer klaren Stimme und einer klaren Sprache Auskunft über sich gibt. Ihm zuzuhören war in etwas so wie in einen dieser schicken Großstadtläden herum zu laufen, in denen shabby-chic Möbeln ausgestellt werden. Retro hat Charme, Vintage ist voll angesagt. 

  Wenn man die Geschichte seiner Eltern hört, ist es vorbei mit dem Wohlgefühl. Seine Eltern haben mehrere Kinder verloren. Meist kurz nach der Geburt oder in Kleinkinderjahren. Einer seiner Brüder wurde in Gegenwart seiner Mutter durch einen Granatsplitter getötet.

 Dieses Drama hat die Mutter zum Schweigen gebracht und auch Ortheil selbst war in ersten Lebensjahren stumm geblieben. Ich war irritiert, denn die dramatische Familiengeschichte passte nicht zum der ruhigen, fast kontemplativen Erzählweise des Mannes, der einst stumm war. Die Lebensgeschichte von Ortheil entpuppt sich als die seltene Geschichte der Überwindung eines familiären Traumas.  Alleine schon das erregt meine Bewunderung. Ich selbst stamme aus einer Familie, die im zweiten Weltkrieg durch Verlust und Vertreibung einen erheblichen Schaden davontrug, dessen Auswirkungen bis in die Gegenwart zu spüren sind. Seit Jahren versuche ich die einzelnen Puzzleteile meiner Familiengeschichte zusammen zu tragen, um zu verstehen, warum meine Familie ihre Traumata nie hinter sich lassen konnte.

Herr Ortheil führt seit Jahrzehnten aufwändige Tagebücher. Sein Vater hat ihm früh die Aufzeichnung alltäglicher Beobachtungen nahe gebracht. Seine Tagebücher sind weniger Bestandsaufnahmen seines seelischen Zustandes, sondern eher Chroniken der Gegenwart, Kommentare und Beschreibungen alltäglicher Beobachtungen. Mit diesen Aufzeichnungen hat er die Grundlage für seine schriftstellerische Tätigkeit gelegt und so fängt das Buch „Wie ich Klavierspielen lernte“ mit der alltäglichen Beschreibung eines Pianos auf, das eines Tages von Möbelpackern in der elterlichen Wohnung abgestellt wurde.

Aber dann beginnt die Magie. Der junge Ortheil, noch stumm und kein Schulkind, entdeckt den Klang des Klaviers. Seine leichtfüßige Bildersprache lädt sich auf mit dem Zauber der ersten Töne, die der Junge keinem Musikinstrument zuordnen kann. Erst als er sieht, dass seine Mutter die Töne am Piano erzeugt, beginnt ihn das Instrument zu interessieren. Seine Mutter und er finden am Piano zueinander und mit den ersten Unterricht, den die Mutter, die selbst auf eine Karriere als Konzertpianistin verzichtet hat, weil sie nur Liszt und Schumann spielen wollte, ihrem Sohn erteilt, kehrt das Sprechen wieder zu ihnen zurück.

Die Poesie der klaren Worte ist die literarische Begleitmusik auf seinen Weg zum Konzertpianisten. Die Rolle seiner Eltern wird in diesem feinsinnigem Stück Literatur sehr schnell deutlich. Sie vermitteln ihrem Kind die Lust am Entdecken und Erforschen, sind selbst bereit, sich von seiner Wissbegier und Begeisterung mitreißen zu lassen. Der Zusammenhalt der Familie lebt von der intellektuellen Auseinandersetzung und der gegenseitigen Inspiration. Kind und Eltern begegnen sich auf Augenhöhe. Es gibt kein, dafür bist du noch zu jung, um zu wollen und um zu verstehen. Der Sohn äußert seinen Wunsch, Pianist zu werden und der Vater stellt sich darauf ein. Er setzt sich selbst mit klassischer Musik auseinander, forscht nach, unterstützt seinen Sohn, wo es nur geht, nimmt ihn mit auf Konzerte, begleitet das Kind zu seinen Lehrern und animiert das Kind zum Ausprobieren. Bei der Mutter führt der Wunsch des Kindes dazu, dass sie neben ihren Lebensmut auch wieder das Klavierspielen wieder für sich entdeckt und sich auf ihr altes Talent besinnt.

Obwohl die Familie schreckliches erlebt hat, steht am Schluss die Überwindung des Schreckens aus der Vergangenheit durch Zusammenhalt und geistige sowie emotionale Bildung. An der Erzählung von H.O. Ortheil begeistert mich das Gegennarrativ zur zeitgenössischen Literatur. Es ist seit langem Mode, als Autor aus dysfunktionalen Familienkonstellationen Kapital zu schlagen und das Unglück bis zum Äußersten auszuschlachten. Protagonisten heutiger Geschichten leiden alle unter ihren Eltern und Großeltern. Dabei muss als dramatische Konsequenz mindestens eine Depression, Bindungsunfähigkeit, Drogensucht und Suizidversuche abfallen. Die Triebfeder der modernen Literatur ist das Leiden an der eigenen Herkunft. Als Leser darf man sich in Sicherheit wiegen. Wenn alle so kaputt sind, ist es in Ordnung, wenn man selbst kaputt ist.

Ortheil bietet einen anderen Weg an. Heilung bringt nicht das passive Jammern, sondern der aktive Umgang mit dem eigenen Nachwuchs. Die Begeisterungsfähigkeit und kindliche Neugier wird zum Maß aller Dinge wird und bringt die Heilung.

Ich selbst neige bei meiner eigenen Literatur, das gestörte Kind-Eltern-Verhältnis in den Mittelpunkt zu stellen. Die Bewunderung für Ortheil und seinem Buch über seinen eigenen Weg zum Konzertpianisten hat etwas mit meinem eigenen Trauma zu tun, das ich leider auch weiterhin in meinen Texten verarbeiten werde, indem ich kaputte HeldInnen zeige, die sich aus dem Sumpf ihrer Verstrickungen lösen wollen, aber scheitern, weil sie in ihren erlernten Denkschleifen hängen bleiben.

Es wird auch immer meine eigene Geschichte bleiben, mein eigener Kampf mit meiner Herkunft. Und Klavierspielen gehört dazu. Als Kind wollte ich Klavierspielen lernen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, woher dieser Wunsch kam. Meine Eltern haben ihn mir nicht erfüllt. Mit dem Hinweis, dass für Instrument und Unterricht kein Geld da sei. Heute denke ich, dass meinen Eltern andere Beweggründe hatten.

Kreativität war in den Augen meiner Eltern etwas abgehobenes mit dem man sich nur Schaden zufügen konnte. Der vorgegebene Dreiklang aus Geburt, Arbeit, Tod könnte sich durch künstlerische und damit unproduktive (im kapitalistischen Sinne) Tätigkeit in eine Dissonanz verwandeln. Der Beruf des Künstlers wurde negiert und ähnlich wie der Beruf des Lehrers als Zumutung empfunden. Genauso gut hätte ich Zuhälter oder Kleinkrimineller werden können.

Ich opponierte zahm, erlernte auf Wunsch meiner Eltern das burschikose Instrument Akkordeon und reproduzierte brav Schlager und Volksmusik. Erst als ich mit vierzehn mir eine Gitarre kaufte, gelang es mir, meine eigene musikalische Kreativität auszuleben. Ich übte wie ein Wahnsinniger Gitarre, lernte stundenlang Solis auswendig und konnte bald in Bands als Lead-Gitarrist reüssieren, da ich mir das improvisieren selbst beigebracht hatte.

Trotzdem blieb eine Lücke, die ich mit neundreißig Jahren endlich füllen konnte. Ich nahm Klavierunterricht. Seit nun mehr zwölf Jahren tobe ich mich auf dem Instrument aus. Ich bin kein Virtuose und werde es nie werden. Allerdings spüre ich mich selbst, wenn ich spiele. Ich kann meinen Emotionen den Ausdruck verleihen, den sie brauchen, um mich am Leben zu erhalten. Genau vor den Ausdruck der Emotionen schienen meine Eltern Angst zu haben.

Am Dienstag trete ich mit meiner Tochter auf einem Konzert auf. Sie ist vierzehn und spielt Bachs Präludium in C-Dur aus dem Wohltemperierten Klavier und ich begleite sie mit dem Ave Maria von Gounod. Das Trauma muss sich nicht wiederholen und lebt nur in meiner Literatur weiter.

Wie es mit mir und Ortheil weiter geht, weiß ich noch nicht. Ich habe mich noch nicht mit ihm zur Schaumparty verabredet.

https://www.ortheil-blog.de/

Nicht Reihe 3, Platz 58 und 59 –  Das hündische Herz von Michail Bulgakow

Der Begriff des Fortschritts ist einer der Schlagworte des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Vorstellung, mittels des Fortschritts könne man aus dem fehlerhaften Naturprodukt Mensch ein perfektes Wesen formen, dessen Makellosigkeit die Zukunft grell überstrahlen wird, sind gerade in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts viele Ideologen, Politiker und Wissenschaftler erlegen. Die russische Revolution sollte die Versprechungen des Fortschritts einlösen, in dem der edle Proletarier eine Welt ohne Elend und Armut erschafft. Scheinbar hatte der Mensch sich als moralisches und politisches Wesen perfektioniert, indem er alle sozialen Ungleichheiten ausmerzte. Alle Bürger Russlands wurden zu linientreuen Kommunisten erklärt, die den Segen des Fortschrittes im Rahmen der Weltrevolution allen Menschen dieser Erde zu Gute kommen lassen sollten. Der politische Fortschritt blieb aber nur eine armselige Verheißung. Keines der Versprechen konnte erfüllt werden. Schon schnell ging man dazu über, einzelnen Menschen politische Macht zu übertragen, die mit ihren von Angst und Narzissmus getriebenen Egos den Totalitarismus und Faschismus formten. Plötzlich verstand man unter Gleichheit und Gerechtigkeit, dass den politischen Führern alles gehörte und dem Volk nichts. Ähnliches passierte mit der Wissenschaft. Eine Zeitlang hatte der technische Fortschritt Möglichkeiten aufgezeigt, Elend, Krankheit, Hunger und Armut unter den Menschen auszumerzen. Man arbeitete an der Weltformel und schuf nur die Atombombe.  

 Als Michail Bulgakow in den zwanziger Jahren seine Texte schrieb, hatte er schon das Versagen des Fortschritts zu spüren bekommen und mit dem hündischen Herzen schien er eine Satire auf das Versagen der Menschlichkeit geschrieben zu haben, die noch heute ihre Gültigkeit hat. Im Prinzip hat er ein einfaches dramatisches Mittel genutzt, um den Leser neugierig zu machen. Uns Menschen faszinieren Geschichten von Wissenschaftlers, die alle Grenzen überschreiten und keine Rücksicht auf Moral oder gesellschaftliche Konventionen nehmen, die nur zur Befriedigung ihres eigenen Egos, künstliche Kreaturen erschaffen.  Den meisten Menschen läuft es kalt dem Rücken runter, wenn sie Frankensteins Monster sehen. Zum Horror der Gegenwart gehören menschliche Ohren, die auf Mäuserücken gezüchtet werden, chinesische Wissenschaftler, die Designerbabys erschaffen, Schweineherzen, die Todgeweihten eingepflanzt werden. Wir gruseln uns und wenn der Grusel ins Groteske umkippt, hat es eine kartesianische Wirkung und wir lachen. Wenn alles gut wird, lachen wir über uns selbst.

 Sein literarischer Kniff bestand wahrscheinlich darin, der Groteske über Wissenschaftler, die aus einem Hund durch einen Eingriff einen Menschen machen wollen, Kritik an den Zuständen der sowjetischen Gesellschaft in den zwanziger Jahren hinzuzufügen. Es blieb für ihn nicht ohne Folgen: Das hündische Herz wurde verboten und der Originaltext galt sehr lange als verschollen.

Der Stoff, den Bulgakow in eine Novelle packte, eignet sich ideal als Theaterstück, so überzogen und slapstickartig erscheint die Geschichte, voller Aktion und grotesken Winkelzügen, dass ein Theaterensemble genügend Spielraum hat, um den Text in szenisch aufzuarbeiten.  

Der treuherzige und anhängliche Streunerhund Lumpi gerät an den Prof. Preobraschenski, der sein Geld mit schönheitschirurgischen Eingriffen verdient. Die Leute stehen bei ihm Schlange, um sich gegen Barzahlung ihre körperlichen Makel wegoperieren zu lassen. Sein Einfluss und Wohlstand erwirbt er sich durch die Behandlung von Parteikadern und Funktionsträger. Sein größtes Problem ist es, das anständiges Essen auf den Tisch stehen muss und er die größte Wohnung von allen haben muss, während draußen der einfach Sowjetbürger hungert und sich mit ein paar Quadratmetern in Gemeinschaftsunterkünften zufrieden geben muss. Sein Ego ist mindestens genauso pflegebedürftig wie das seiner Patienten und daraus erwächst groteske Eitelkeit und Korruption. All das, was man mit der kommunistischen Revolution aus der Welt schaffen wollte.

Als Lumpi auftaucht, wittert der Professor seine Chance, ein Experiment zu vollenden, dass seiner Eitelkeit maximale Befriedigung verschafft. Er lässt den alkoholabhängigen Obdachlosen, der vor seinem Haus herumlungert und Passanten beschimpft, vom Hausmeister um die Ecke bringen, um mittels Transplantation der Hyphopyse und der Hoden des Obdachlosen den Hund in einen Menschen zu verwandeln.

Das Experiment glückt und misslingt gleichermaßen. Lumpi verwandelt sich in Lumpikow und erwirbt die unangenehmen Eigenschaften des Obdachlosen. Er verbreitet Chaos, benimmt sich daneben und wird zu guter Letzt noch ein Beamter, der für die Vernichtung streunender Katzen zuständig ist.  Der Professor ist genervt von seiner Kreatur, die letztendlich auch seinen Wohlstand und seinen Ruf gefährdet. Also wird Lumpikow per Eingriff wieder in den friedlichen Köter verwandelt.

Wieder einmal saßen wir unter Pandemiebedingungen in unserem geliebten Stadttheater und ließen uns von einem engagiert spielenden Darstellern und dem einmaligen Bühnenbild mitreißen. Man hatte die Wohnung des Professors auf einer Drehbühne aufgebaut und so geschickt mit entgegen gesetzten Drehbewegung der Bühne gearbeitet, um die Arbeit des Professors am OP-Tisch selbst wie ein Groteske wirken zu lassen. Das Stück wechselt von temporeichen Szenen zu gemächlichen Einstellungen. Die Übertreibungen des Autors dienen der Satire und der Groteske und dem wurde die Inszenierung gerecht. Gerade bei solchen Stücken besteht die Gefahr, dass sie in die seichten Gefilde eine Komödie abrutschen. Diesen Fehler vermied man und so blieb die Aussage, dass der Mensch trotz Fortschritt und Streben nach Perfektion ein fehlerhaftes Wesen bleibt, erhalten. Gerade in Zeiten, in denen jeder hart an seiner Instagramibility arbeitet und Politiker unter Politik die Inszenierung von Politik verstehen, bleibt das Stück hochaktuell.