Reihe 3, Platz 58 + 59, Neometropolis von Pat To Yan

Nach drei Monaten Theaterpause sind wir wieder auf unsere Plätze in Reihe Drei zurückgekehrt. Unruhig rutsche auf meinem schmalen Sitz hin und her. Das geschäftige Treiben der anderen Theaterbesucher*Innen macht mich nervös. Wir haben eine harte Woche hinter uns, viel Arbeit, wenig Freizeit und heute Nachmittag als Krönung noch der Kindergeburtstag meines neunjährigen Sohnes. Wir sind durch! Zur Ablenkung beuge ich mich über das Programmheft und versuche folgenden Text zu erfassen:

„Thomas Krupas Inszenierung führt mit sensibler Präzision differente Erzählweisen und semiotische Reservoirs zu einer offenen, aber konsistenten Form zusammen – und konterkariert damit, im Geiste von Pat To Yans lyrisch-märchenhaftem Drama, die Suche nach einer klaren Antwort auf die letzte Frage.“ 

Erinnern sie sich noch an die Peanuts? Witziger Comic aus den Siebziger, in dem die Welt aus der Sicht von altklugen Kindern gezeigt wird. Als ich die Rezension der deutschen Bühne im Programmheft las, fühlte ich mich wie Charlie Brown, der der blechernen und verfremdeten Stimme eines Erwachsenen zuhört und nur ahnen kann, was der Erwachsene von ihm will.

Der elfjährige Junge Earnest ist so etwas wie ein Charlie Brown der Gegenwart. Er lebt mit seinem Vater, einer Katze und einer Zimmerpflanze in einem Hochhaus in der Megacity Neometropolis. Er glaubt, das Wetter kontrollieren zu können, während sein Vater als Chefingenieur eines Techkonzerns die Bürger der Stadt kontrolliert. Und genauso wie Charlie Brown versteht er die Welt der Erwachsenen nicht, weiß aber, dass irgendetwas mit Ihnen nicht stimmt. Die Stadt ist von einem riesigen Wald umgeben, von dem man sich schützen muss. Angeblich stammt aus dem Wald eine todbringende Seuche die viele Stadtbewohner hingerafft hat. Earnest Mutter, eine Botanikerin, holte sich im Wald die Seuche und Earnest weiß nicht wirklich, was mit ihr geschehen ist. Als die Katze von Earnest verschwindet, gelangt er auf der Suche nach dem Tier in den Wald.

Ein zeitgenössisches Stück aus dem Baukasten für Theaterautoren. Überall lauern die Referenzen an die Gegenwart: Pandemien, Naturzerstörung, Übermacht von Techkonzernen, die Degradierung des Menschen zum Konsumenten, die Entfremdung von der Realität, autoritäre Regime, die keine Widerspruch zulassen. Der Autor beschwört eine Dialektik zweier Systeme, die auf einer Symbiose zwischen den einzelnen Bestandteilen beruhen, die aber im absoluten Widerspruch zueinander stehen. Auf der einen Seite die Stadt, in der alle Menschen mit einem Gehirninterface ausgestattet sind, miteinander vernetzt werden und nun ihr Heil in der Körperlosigkeit finden, weil ein Gedanke ausreicht, um das Licht und die Kaffeemaschine anzuschalten. Dagegen steht der Wald, der als einzigartiger Organismus existiert, ein pantheistisches Konstrukt, es strotzt vor Kraft und Geheimnissen, eine metaphysisches Paradies für jeden, der sich dem Organismus hingibt und Wurzeln schlägt.

In Gießen versucht man der Geschichte mit unzähligen Sinnesreizen beizukommen. Der Zuschauer wird  überflutet mit Bildern und Klängen. Die Musikerin Lyhre aus Berlin, die im Bühnenhintergrund aus einem großen Moog-Synthesizer bedrohliche Krachlaute herausschraubt, am Klavier die immer gleiche Akkordfolge variiert und mit ihrem verletzlichen hallumhüllten Nymphensopran schmerzvolle Lieder aus sich herauspresst, ist die eigentliche Hauptdarstellerin des Stückes. Die Musik wird illustriert mit überwältigende Fotos aus der Natur und Schauspielern, die sich in eine feststehende Schuhkonstruktion hineinzwängen und sich wiegen und strecken wie Pflanzen in Zeitraffer. Die Schauspielszenen und die Geschichte bilden nur die Übergänge zwischen den Klang- und Bildinstallationen.

Die Dialektik zwischen Natur und Mensch soll aufgehoben werden. Darauf hat der Autor keine Antwort (auch wenn die Rezension der deutschen Bühne etwas anderes vermuten lässt) und er macht es sich einfach: er lässt alles offen. Der elfjährige hat am Schluss im Wald den Geist seiner Mutter gefunden und ist ihrem Schöpfer begegnet, der alle ausgestorbenen Arten wieder erwecken kann, sein Vater ist ihm in den Wald gefolgt, gibt sich schnell als geläuterter Homo Faber, der nur Gutes wollte und dann stehen sie alle gemeinsam auf der Bühne und der elfjährige spricht den letzten altklugen Satz, der auch von Charlie Brown stammen könnte:
„Dann müssen wir alles noch einmal neu denken.“

Ist ja nett gemeint, aber Freitagabends um 22 Uhr konnten wir die Welt nicht neu denken. Eigentlich konnten wir gar keinen Gedanken mehr fassen. Wir sind noch zur Videokonferenz mit dem Autor gegangen, der sich auf einer großen Leinwand zeigte und zusammen mit dem Regisseur und Ensemblemitgliedern, sich den Fragen des Publikums stellte und auch das war so surreal und anstrengend wie der ganze Abend. Aber vielleicht lag es auch nur an unserer Erschöpfung und dem Wein, den wir getrunken hatten.

Ich will am Schluss gar nicht meckern. Die kreative Inszenierung mit hervorragenden Einfällen, passender musikalischer Untermalung und einer soliden Ensembleleistung war besser als meine Stimmung an diesem Abend. Und doch haben sie mich diesmal nicht abgeholt.

Eintreten/ Austreten

Am Freitag bekam ich Post von Ver.di . Ich bin jetzt Gewerkschaftsmitglied. Unboxing Ver.di: in einem silbernen Umschlag, aufwändig gestylt, so wie es heute üblich ist. Auch Gewerkschaften haben heutzutage anscheinend Marketingabteilungen:

Die katholische Kirche hat sich auch bei mir gemeldet. Ein Kaplan der Domgemeinde in Wetzlar hat mich nett angeschrieben und meinen Austritt bedauert. Er wünscht sich ein Gespräch mit mir, um meine Beweggründe zu erfahren. Der Brief liegt sein drei Monaten auf meinem Schreibtisch und ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Einerseits finde ich es gut, wenn eine Person sich die Zeit nimmt und einen Brief losschickt (den er wahrscheinlich als Formbrief bei jedem Austritt benutzt), andererseits fühle ich eine noch größere Entfremdung, wenn ich diesen Brief lese, weil mir diese Gemeinde nichts bedeutet und ich vor meinem Austritt auch dieser Gemeinde nichts bedeutet habe. Ein großes Missverständnis, die katholische Kirche und ich!

Nie wieder ist jetzt

Seit ich mich mit Politik beschäftige, als seit fast vierzig Jahren, wird dieses Land regelmäßig von rechtsextremen und völkischen Populisten und Antidemokraten in die Zange genommen.

 Die rechtsextremen Hetzer und Demagogen führten ohne Unterlass ihr schäbiges Drama aus Empörung und ätzendem Hass auf. Zu schrill, zu offensiv und mit offensichtlichen Reminiszenzen an den Faschismus des dritten Reiches erreichten sie in der Vergangenheit nur die Altgestrigen und ein paar Protestwähler. Nach ein paar Erfolgen bei Kommunal- oder Landtagswahlen verschwanden sie bald wieder in der Versenkung,

 Seit dem letzten Aufflammen rechter Umtriebe in den Neunzigern schien rechtsextremes Gedankengut nur noch für durchgeknallte Springerstiefel- und Glatzenträger attraktiv zu sein. Auch wenn drei NSU-Terroristen fast zwanzig Jahre unbehelligt mordend durch die Lande ziehen konnten, gab es den einen breiten Konsens darüber, dass völkisches Gedankengut weder gesellschafts- noch mehrheitsfähig war.

 Allerdings gor im Gedärm der Republik die Sehnsucht nach einer Vergangenheit, in der das Patriachat noch die Oberhand hatte und mit einer gottgegebenen Arroganz den Rest der Menschheit mies behandeln durfte. Nach einem langen Zersetzungsprozess im Dünndarm konnte der Schließmuskel unserer Nation den gewaltigen Dünnpfiff nicht mehr halten. Und so ergoss sich die braune Soße über das Land und nannte sich die Alternative für Deutschland.

 Und nach zehn Jahren, in denen diese Partei keine Gelegenheit ausgelassen hat, um den öffentlichen Diskurs an sich zu reißen und mit ihrem einen Thema zu bestimmen, schienen sie fast am Ziel angelangt zu sein.

  Wie alle Populisten haben die seriös auftretenden Funktionäre  ängstliche und überforderte Menschen angesprochen und hinter sich versammelt. Man hat sie plappern, keifen, schimpfen und diffamieren lassen und nicht nur ihre Fans, sondern auch ihre Gegner haben sich von Ihnen beeindrucken lassen. Dabei hat man einfach vergessen, dass die Angelegenheiten der Menschen schon immer komplex und widersprüchlich und einem stetigen Wandel unterworfen waren. Weil sich die Welt tagtäglich weiterdreht, müssen alte Vereinbarungen wieder neu verhandelt werden. Kriege, Pandemien, Inflation, Transformationsprozesse und Rezessionen hat es schon immer gegeben.  Ein bestimmter Anteil der Menschen reagiert mit Angst und Schrecken auf historische Brüche. Verunsicherte Menschen stellen die perfekten Opfer für Populisten dar. Um ihren persönlichen Schmerz zu lindern, sind sie bereit, irrational zu handeln. Für das Gefühl der Sicherheit lassen sie sich gerne belügen und betrügen. Sie wollen einfach glauben, dass es jemand gibt, der die Welt wieder heile machen kann.

 Auffällig ist für mich, dass die Erzählungen der Populisten bei vielen Menschen verfangen, die sich vorher nie mit Politik auseinander gesetzt haben. Viele Bürger haben eine verzerrte Vorstellung von der Leistungsfähigkeit staatlicher Institutionen. Mir sind viele Menschen begegnet, die sich niemals eingebracht haben, die nie die Tagesschau geschaut haben, niemals eine Tageszeitung gelesen haben, die nie wählen gegangen sind, mir aber genau erklären können, was in diesem Land falsch läuft. Beim Zuhören spürt man schnell, dass es nur um sie und ihre eigenen Ansprüche geht. Viele Menschen denken nicht an das Gemeinwohl und was der kleinste gemeinsame Nenner für alle sein sollte. Errungenschaften der Sozialpolitik wie Mindestlohn und Bürgergeld schrecken Sie ab. Solche Wohltaten der Gesellschaft sind nur ihrer Ansicht da, um missbraucht zu werden. Sie selbst sehen sich als Opfer staatlicher Willkür, weil der Staat ihnen etwas wegnimmt und es anderen gibt. Es ist die gleichen Sorte Mensch, die keine Steuern zahlen will, aber über die Schlaglöcher motzt. Gingen frühere Gesellschaftstheorien nicht davon aus, dass der Bürger seinem Willen den Allgemeinwillen unterordnet, um von der Allgemeinheit Schutz zu bekommen und in Freiheit leben zu können? Man könnte fast annehmen, dass für viele Menschen der Gesellschaftsvertrag nie existiert hat.

 Wenn alte Gewohnheiten und Besitzstände in Frage gestellt werden, sei es die Macht, die Bequemlichkeit, den qualmenden Verbrenner oder das Schnitzel, werfen die Populisten ihre Netze aus. Die beharrliche Leugnung der Wirklichkeit, die vom einer Umwelt- und Klimakatastrophe, ungerecht verteiltem Wohlstand und daraus resultierenden Fluchtbewegungen dominiert wird, kann man nur mit einem gemeinsamen Feindbild aufrechterhalten. Viele Menschen, die sich selbst höchstens als konservativ aber nicht als rechts- rechtsextrem bezeichnen, teilen mit der AFD und dem rechten Milieu die Feindbilder: selbstbewusste Frauen, queere Menschen, Migranten, junge Menschen, die sich für den Schutz der Umwelt einsetzen usw. Ob sie jetzt oder später die AFD wählen ist egal, aber sie stellen Wählerpotential für Populisten dar. Solange die Diskurse am Brodeln sind, trifft man alle in den sozialen Medien an und lässt sie munter zu einer einzigen Bubble verschmelzen. Schon kann eine Partei alle, die ihre Überzeugungen teilen, in dem Glauben bestärken, entweder in der Mehrheit zu sein oder Opfer der gegenwärtigen Mehrheitsgesellschaft zu sein, die von den Mächtigen gegen sie aufgehetzt wird. Man kann sich gegenseitig in diesem Status bestätigen und sich bestärken. Plötzlich ist man ein Held, ein Märtyrer, der nichts anderes macht, als von der heimischen Couch aus als Soldat im Meinungskrieg für die gerechte Sache zu kämpfen.

 Die blaue Pest hat mittlerweile eine Relevanz erreicht, die viele Bürger hat glauben lassen, dass sie uns spätestens nach den Landtagswahlen im Sommer hinraffen wird.

 Die wirkliche Mehrheitsgesellschaft ist endlich aufgewacht. Vielleicht zu spät! Das konspirative Treffen einiger Rechtsideologen, die sich in gediegener Kulisse über die Ausweisung deutscher Staatsbürger unterhalten hat, hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Anders kann ich es mir nicht vorstellen, denn wir haben in den letzten Jahren so viele Angriffe auf unsere Demokratie erlebt und nicht sonderlich gezuckt. Aber jetzt sind wir endlich wieder alle Antifaschisten und vereinen uns hinter dem Artikel eins des Grundgesetzes.

 Meine Familie und ich haben in den letzten zwei Wochen an zwei Demonstrationen gegen die AFD teilgenommen. Wir sind nicht zum ersten Mal auf Demonstrationen gegen rechte Umtriebe gewesen und im Privatleben sind wir es gewohnt, Stellung gegen rechtes Gedankengut zu beziehen. Leider mussten wir in den letzten Jahren immer wieder feststellen, dass die AFD-Thesen auch bei manchen Menschen in unserem weiteren Umfeld salonfähig geworden sind. Ich habe diese Leute immer reden lassen, sie höchstens gemieden oder ignoriert.

 Und ich gebe zu, hinter jungen Menschen herzulaufen, die eine Fahne schwenken und Alerta, Alerta, Antifaschista rufen, gibt mir ein gutes Gefühl. Ich wähne mich auf der richtigen Seite. Es ist ein trügerisches Gefühl. Vor drei Wochen haben sich in Gießen 13000 Menschen versammelt und letzte Woche in Wetzlar 5500 Menschen. Die sehr emotionalen Redebeiträge in Wetzlar auf der Bühne haben viele Demonstranten nachdenklich gestimmt. Aber solche Demonstrationen können die Situation nicht retten. Sie dienen höchstens der Selbstbeschwichtigung. Man vergewissert sich gegenseitig, dass eine große Mehrheit der Menschen nicht in einer antidemokratischen Gesellschaft leben möchte, die nur auf Angst und Ausgrenzung beruht. Und trotzdem müssen wir uns fragen, wie wir die Demokratie wieder für Menschen attraktiv machen können, die schon fast verloren sind, weil sie zwar im gleichen Land aber in einer ganz anderen Welt leben. Die oben beschriebenen Typen oder Gruppen werden sich nicht von Demonstrationen beeindrucken lassen. Im schlimmsten Fall sehen sich bestätigt und bestärkt und drehen erst recht auf. Der positive Effekt, die die Demonstrationen zweifellos hatten, wird schnell verpuffen, wenn nicht alle gesellschaftlichen Kräfte, sich hinter dem Grundgesetz, den Menschenrechten und der Demokratie versammeln und endlich ein positives Gegenbild zu der schlechtlaunigen und bräsigen völkischen Ideologie zeichnen. Wenn wir das nicht schaffen, wird bald nie wieder jetzt sein. 

Stillleben Deutschland III: Der Weihnachtsbaum

Weg ist er, der Weihnachtsbaum! Am 6. Januar wurde das profane Nadelgewächs seines Amtes als Weihnachtssymbol enthoben. Von seinem Schmuck befreit hat man ihn aus dem Fenster geworfen. Der 6. Januar als Ende des Weihnachtsfestes mag etwas mit Tradierung zu tun haben, aber leider verliert nicht nur der Baum aufgrund der trockenen Raumluft viele Nadeln, sondern wir verlieren langsam die Lust an allem, was man mit Weihnachten verbindet.

Den letzten Glühwein hat man getrunken, die letzte Kopfschmerztablette ist gelutscht, die mit Geschenkpapier vollgefüllte blaue Tonne wurde abgeholt, das letzte Stück Braten vom Heiligabend hat man gerade in die schwarze Tonne geworfen, es lag schwer im Kühlschrank und hätte noch schwerer in irgendeinem Magen gelegen und die alkoholgeschwängerten Nächte, in denen man sich mit seiner Verwandtschaft, die man nur einmal Jahr sieht, in den Armen gelegen hat, sind schon wieder vergessen. Man rennt wieder los, geht in Geschäfte, macht Geschäfte, hasst den Mitmenschen, ist frustriert, weil alles so ist, wie es ist und leidet an seiner Unfähigkeit, dem Leben etwas positives abzugewinnen.

Seien wir ehrlich zu uns selbst: Weihnachten ist der in jeder dunklen Jahreszeit wiedergeborene fromme Wunsch, dem Alltag zu entfliehen. Plötzlich ist der anhaltende Überfluss an Dingen und Emotionen für etwas anderes gut, als damit Profit zu erwirtschaften. Wir beschenken uns gegenseitig, essen und trinken gemeinsam, lachen und singen und sind für drei Tage frohlockende Engel der Gemütlichkeit, die ab und zu mal besoffen über einen Haufen Geschenkpapier stolpern oder rülpsend und furzend auf der Couch einschlafen.

Ein schönes Leben für drei Tage und dann geht der Stress wieder von vorne los. Weihnachten ist wie der Sommerurlaub eine systemimmanente Fluchtmöglichkeit, die uns die Gesellschaft als Ventil gelassen hat, um unsere Funktionsfähigkeit als Glied in der Kette des monströsen und kräftezehrenden Wirtschaftsbetriebes zu erhalten.

Der Pessimismus hat kurz Pause und danach kehrt er schnell wieder zurück. Vor der Krise ist nach der Krise und eigentlich ist immer Krise.

Am 6. Januar reibt man sich die Augen und merkt, alles ist so wie immer. Der arme Baum muss die Konsequenzen tragen und wird entsorgt. Und nächstes Jahr muss wieder ein anderer Baum als Weihnachtssymbol herhalten und so geht das immer weiter…..

Austreten – Eintreten / Teil drei

 Nachdem ich bei der Musterung als wehrtauglich eingestuft wurde, hätte ich nach der Ausbildung meinen Wehrdienst antreten müssen. Schon vor der Ausbildung hatte ich den Entschluss gefasst, zu verweigern. Anfang der Neunziger Jahre hat man schon mit wenig Aufwand den Kriegsdienst verweigern können. Man musste einen Aufsatz einreichen, in welchem man seine Gründe für die Verweigerung darlegte. Es gab ausreichend Vorlagen, die die geforderten Formulierungen enthielten und die in der Szene der angehenden Kriegsdienstverweigerer zirkulierten.  Man berief sich auf sein Gewissen, das einem untersagte, eine Waffe gegen andere Menschen zu richten. In diesem Falle war das Gewissen eine eigene Persönlichkeit, die den jungen potentiellen Rekruten quasi paralysierte, wenn er mit einer Waffe auf einen anderen Soldaten zielen wollte. Eine Verweigerung aus anderen Gründen war möglich, aber nicht gewünscht. In der stockkonservativen Welt der atomaren Abschreckung kam es nicht gut, wenn man aus weltanschaulichen Gründen verweigerte. Das war den Gremien zu kompliziert. Einmal im Leben hatte man die Chance in einem nonkonformistischen Akt der Gesellschaft den Stinkefinger zu zeigen und dann musste man doch wieder opportun sein und schön brav den Anforderungen der Gesellschaft gerecht werden.

 Anstatt meinem Gewissen etwas abzuverlangen, was es gar nicht leisten konnte, hätte ich mich viel lieber offiziell dem Soldatentum verweigert. Ich wollte keine Uniform überstreifen, irgendwelche stumpfen Befehle ausführen und den letzten Rest meines menschlichen Verstandes bei jeder Gelegenheit in billigen Flaschenbier ertränken. Das war nicht meine Welt: Kameradschaft, Herumbrüllen, Korpsgeist, im Schlamm kriechen. Ich war ja eher ein Feingeist, sensibel und schüchtern.

 Ich wollte der Bundeswehr mich nicht zumuten. Da gab es genug Altersgenossen, die viel besser dort aufgehoben waren, weil sie sich mit nackten Oberkörper grunzend im Schlamm und Testosteron wälzen und dabei den Helden spielen wollten.

 Aber ich schrieb brav den Aufsatz und schickte ihn weg.

 Meine Anerkennung kam und bald darauf der „Einberufungsbefehl“ zum Zivildienst und ich musste mir eine Stelle suchen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Plätze für Zivildienstleistende rar. Da mein Bruder zwei Jahre vorher schon eine Stelle als Gemeindezivi in der katholischen Kirche ergattert hatte, habe ich mich beim Bistum Limburg beworben. Man hat mir die Stelle gegeben und im Sommer 1993 konnte ich in der katholischen Gemeinde St. Walburgis in Niedergirmes meinen Zivildienst antreten.

 Niedergirmes hat sich in den letzten hundertfünfzig Jahren vom kleinen Dorf in der Nähe von Wetzlar zum klassischen Arbeitervorort entwickelt. Viele Gastarbeiter hatten sich dort angesiedelt und sich neben der Ursprungsbevölkerung etabliert. Der Stadtteil hatte damals einen sehr schlechten Ruf, der z.T. auf  rassistischen Vorurteile gegenüber Gastarbeiter beruhte. Neben diesen zwei Bevölkerungsgruppen gab es noch eine starke Gruppe der Flüchtlinge, die nach dem zweiten Weltkrieg nach Wetzlar kamen, zumeist aus Schlesien, Spätaussiedler aus Polen inbegriffen. Dazu kamen in den Neunziger Jahren neue Flüchtlinge aus der Türkei, Jugoslawien, Afrika und Asien. Die Flüchtlinge lebten im wahrsten Sinne am Rande der Gesellschaft. Ihre Unterkünfte befanden sich zwischen verkehrsreichen Ausfallstraßen und dem Buderuswerken. Niemand nahm Notiz von den Flüchtlingen. Sie lebten in abbruchreifen Häusern, in denen ansonsten niemand mehr wohnen wollte.

 Meine Aufgaben als Gemeindezivi waren sehr vielfältig. Ich sollte mich um ältere Gemeindemitglieder kümmern, sie zu Hause besuchte, ihnen Gesellschaft leisten oder mit ihnen einkaufen gehen.

 Die Arbeit mit Flüchtlingen war relativ neu hinzugekommen und umfasste Besuche der Flüchtlingsunterkünfte, Unterstützung der Flüchtlinge im Alltag, bei Behördengängen und ähnlichem. Die Flüchtlingsarbeit war in der Gemeinde umstritten. Bischof Kamphaus, der mich ein paar Jahre zuvor gefirmt hatte, war mittlerweile zu einer der wenigen kritischen Stimmen innerhalb der katholischen Amtskirche herangewachsen. Zu diesem Zeitpunkt waren deutsche Bischöfe konservative Erfüllungsgehilfen des Stellvertreter Gottes auf Erden. Bischof Kampfhaus war eine Ausnahme. Kamphaus war z.B. der einzige Bischof in Deutschland, der die Beratung von abtreibungswilligen Schwangeren entgegen der Anweisung vom Papst weiter durchführen ließ.

 Zu dieser Zeit war die Stimmung gegenüber Flüchtlingen sehr aufgeheizt. Für viele Menschen und auch Politiker war Flüchtlinge keine Menschen die Schutz brauchten, sondern Asylanten, die in die Sozialsysteme einwanderten und ihren Status als Flüchtlinge missbrauchten, um die Deutschen und ihren tollen Sozialstaat auszunutzen. Damals brauchte es keine AFD, um die Stimmung anzuheizen. Rassismus war Staatsräson. In Hessen gab es CDU-Politiker wie Manfred Kanther (der zu der Zeit Bundesinnenminister war), die Positionen einnahmen, die heute von der AFD vertreten werden. Sogar die SPD hat sich damals nicht mit Ruhm bekleckert, denn als es darum ging, den Asylanten endlich in Schranken zu weisen, in denen man sie schlechter stellte als einen „deutschen“ Sozialhilfeempfänger, stimmte die SPD im Bundestag für das Asylbewerberleistungsgesetz.

 Diese Stimmung gegen Flüchtlinge beherrschte auch den Diskurs innerhalb der katholischen Gemeinde in Niedergirmes. Es gab viele Gemeindemitglieder, die diese Arbeit mit Nichtchristen als unnötig betrachteten und das obwohl viele dieser Menschen selbst die Ausgrenzung als Flüchtling eine Generation früher erlebt hatten. Von dieser Seite bekam ich immer wieder Druck. Dazu kam, dass mein Vorgesetzter, der Priester der Gemeinde, ein ehemaliger Militärpfarrer war.

 Das erste Gespräch mit ihm begann mit der Frage, ob ich wisse, dass er Militärpfarrer gewesen sei. Nach einer kurzen Pause fügte er noch hinzu, dass ich mir ja dann vorstellen könne, was er von mir und meiner Tätigkeit hielte.

 Also hatte ich den Bischof auf meiner Seite und seinen Angestellten und seine Gemeinde gegen mich. Ich war jung, naiv und nahm diese Ablehnung sehr persönlich. Später habe ich begriffen, dass Engagement heißt, im Sturm gegen den Wind anzurennen. Wenn man etwas bewegen will, muss man sich sein Freunde und Feinde erst einmal verdienen.

 Ich habe in der Gemeinde sehr liebe Menschen gefunden, die mich unterstützt haben und die dafür gesorgt haben, dass ich mich auch über weite Strecken sehr wohl fühlen durfte. Ich bin vielen interessanten Menschen begegnet. Ich habe durch diese Arbeit viel über mich und den Menschen an sich gelernt. Die Betreuung durch das Bistum Limburg war einmalig. Es gab jeden Monat ein Treffen der Gemeindezivis, wir hatten zwei wunderbare Seminarwochen und dort habe ich echte Freunde gefunden. Ein Freund aus dieser Zeit ist mir bis heute geblieben. Christian war damals Zivi in Dillenburg und hat nach dem Zivildienst Philosophie, Mathematik und ich glaube Theologie in Siegen studiert und in Philosophie promoviert. Wir sehen uns heute noch mindestens einmal im Jahr und wir haben neben der Philosophie die Leidenschaft für Literatur, das Rauchen von Pfeifen und Zigarren miteinander gepflegt und alleine schon wegen dieser Freundschaft möchte ich die Zeit als Zivildienstleistender nicht missen.

   Durch diese Erfahrung hat sich meine Haltung zur katholischen Kirche zum Positiven geändert. Auch wenn es viel Gegenwind gab, habe ich doch viele Menschen kennengelernt, die weniger die Kirche als Ort gesehen haben, an welchem sie ihren Glauben ausleben können, sondern als gesellschaftliche Institution, die Schwächeren, ungeachtet ihrer Herkunft und ihrer Religion, Unterstützung und Hilfe anbietet. Diese Menschen rückten für mich in den Vordergrund und ließen mich fast dreißig Jahre lang an einen gesellschaftlichen Nutzen der Kirche glauben.

 Die Zeit verging schnell. Ich heiratete eine Katholikin, bekam mit ihr zwei Kinder, die wir taufen ließen. Die Ehe scheiterte und es kam zur Scheidung. Dann lernte ich meine jetzige Frau kennen, die ungetauft ist und noch nie einer Kirche angehört hat. Ich selbst bezeichnete mich mittlerweile als Agnostiker, der die Existenz Gottes nicht als Maßstab für sittliches Handeln sieht, sondern versucht, ein richtiges Leben im falschen zu führen. Obwohl meine Frau und ich in solchen Dingen ähnlich ticken, gibt es zwischen uns beiden einen großen Unterschied. Ich bin nun einmal in der katholischen Kirche groß geworden und hänge mehr an ihren Ritualen, als ich mir eingestehen will. Eine gesetzliche Scheidung hat in der Kirche keine Wirkung und sie straft mich mit Ausschluss von den Sakramenten. Ich hätte nicht gedacht, dass ich diesen armseligen und lächerlichen Anachronismus ernst nehme. Die Kirche schließt Menschen aus, die einen Spagat zwischen Religion und weltlichem Leben hinbekommen wollen. Ich habe mich dem widersetzt, indem ich trotzdem zur Kommunion gegangen bin. Seltsamerweise habe ich mich danach unendlich schlecht gefühlt. Ich habe dann darüber Witze gemacht. Wenn ich die Hostie in den Mund nähme, träfe mich vielleicht der Zorn Gottes in Form eines Blitzes, der mich dann niederstreckt. Die frühe Begegnung mit den Riten der Kirche hat mich mehr beeinflusst als mir lieb war. Dieses miese Gefühl habe ich viele Jahre mit mir herumgeschleppt und jeder, der mich gefragt hat, warum gerade ich noch in der katholischen Kirche bin, bekam zur Antwort, dass ich nun einmal katholisch erzogen sei und ich im Zivildienst eine lebensnahe Kirche erlebt habe. Ich habe auch immer von Bischof Kamphaus und seinem Engagement geschwärmt. Meine Hoffnung war, dass dieser Typus Mensch irgendwann in der katholische zu Macht gelangt, um sie zu reformieren.

 In den letzten Jahren ist viel passiert, aber die Katholische Kirche trotzt allen Reformen. Wir haben einen deutschen Papst bekommen, der noch konservativer war als sein konservativer Vorgänger. Bischof Kamphaus hat man durch einen geltungssüchtigen und scheinfrommen Bischof ersetzt, der viel Geld für Dienstwagen und eine Residenz ausgegeben hat und dann auch schnell wieder gehen musste. Der fürchterliche Missbrauch vieler Kinder und Jugendlichen durch Priester kam ans Tageslicht und damit die Erkenntnis, dass die katholische Kirche ein eigener Staat im Staat ist, der aber gerne die weltlichen Kirchensteuern und Subventionen vom säkularen Staat kassiert.

 Aber auch das habe ich jahrelang beobachtet und daraus keine Konsequenzen gezogen. Im Gegenteil: ich habe die Gemeinschaft der katholischen Christen noch verteidigt, weil ich mich an die Hoffnung auf Reformen klammerte. Als ich zum ersten Mal vom synodalen Weg gehört hatte und dem Ansinnen einiger deutscher Bischöfe bedeutsame Reformen in der Kirche anzustoßen, habe ich gedacht, dass jetzt eine Veränderung kommt, die mein Beharrlichkeit rechtfertigt. Man hat lange und viel miteinander diskutiert und in Rom hat man die Bemühungen einfach abgetan. Man will keine zweite evangelische Kirche sein. Die katholische Amtskirche möchte der exklusive Club alter Männer im Rock bleiben, die ihre unverständlichen Riten bis zum Ende aller Zeiten pflegen wollen, entgegen den Menschen und ihre Belange.

 Dann war ich dieses Jahr auf einer Gewerkschaftsveranstaltung zum 1. Mai und musste erleben, wie Rechte von AFD, NPD und Querdenkern die Redner niedergebrüllt haben. Man konnte sich nur schwer dem Hass und der Hetze entziehen. Wir haben uns machtlos gefühlt.

 Das hat in mir einen Denkprozess angestoßen. Warum unterstützte ich einen menschenverachtenden, undemokratischen Club wie die katholische Kirche, wenn auf der anderen Seite unsere Demokratie und ihre Vertreter von undemokratischen Schreihälsen in Frage gestellt werden. Dann stand der Entschluss fest: nach zweiundfünfzig Jahren verlasse ich die katholische Kirche und trete in die Verdi ein…wahrscheinlich viel zu spät…aber hoffentlich noch rechtzeitig.

Austreten – Eintreten / Teil zwei

Während der nächsten Jahre hielt ich mich von katholischen Messen fern und während der Pubertät weitete sich mein Horizont. Es gab bei uns im Ort eine große evangelische Gemeinde. Die evangelische Kirche vermittelte eine zeitgemäße und lockere Haltung zum christlichen Glauben. Es gab Pfarrer und Pfarrerinnen, die auch noch eine Familie hatten, coole Jugendbetreuter und Konfirmationsfreizeiten, die eher Klassenfahrten glichen. Viele meiner Altersgenossen hatten ein entspanntes Verhältnis zur Religion. Die Konfirmation war eher der Tag des ersten Vollsuffs als der Tag der religiösen Erweckung.

  Zwischen dem dreizehnten und siebzehnten Lebensjahr gab es für uns Jungs nur drei Themen: Fußball, Alkohol und Mädchen. Man traf sich mit Freunden auf den Spielplatz, um sich bei Flaschenbier gegenseitig die Säcke vollzumachen. Mitte der Achtziger schien auch das Leben der Erwachsenen nur aus Arbeit und Konsum zu bestehen. In dieser Welt war wenig Platz für die großen Fragen. Über Politik und Religion sprach man selten. Es waren wilde Zeiten: Aids, Tschernobyl, Startbahn West, Nato-Doppelbeschluss, Kalter Krieg, Hunger in Äthiopien. Alle das schien auf einem anderen Planeten stattzufinden. Falls unsere Eltern mit anderen Erwachsenen über das Weltgeschehen sprachen, dann in kleinen konspirativen von Zigarettenrauchnebel umwobenen Zirkeln, bei einem frisch gezapften Bier, beim Sport und in der Kneipe.

 Meine Eltern sind misstrauische und unsichere Persönlichkeiten, deren Gläser eher halb  leer als halb voll sind. Ihnen ein ausgeprägtes politisches Bewusstsein zuzuschreiben, wäre zu weit gegriffen. Aber sie hatten eine konkrete Vorstellung vom mündigen Bürger, der sich gefälligst mit Politik auseinander zu setzen hatte. Aufgrund ihrer Bildungshistorie war es auch nicht zu erwarten, dass es Ihnen einfach fiel, sich komplexes Hintergrundwissen über das Weltgeschehen anzueignen. Mein Vater ging nach acht Jahren Volksschule in die Lehre und meine Mutter hatte nach der mittleren Reife eine kaufmännische Ausbildung gemacht. Sie waren nicht in der Lage als zur Verfügung stehenden Informationsquellen anzuzapfen, aber sie vermittelten mir, dass man mit wachen Blick die Geschehnisse in der Welt wahrnehmen muss. Meine Eltern schauten abends die Nachrichten im Fernsehen, lasen morgens beim Frühstück die Tageszeitung, im Hintergrund liefen im Radio die Nachrichten. Meine Eltern lasen zudem den Stern und später auch den Spiegel.  

 Zum Erwachsenwerden gehörte bei uns in der Familie die politische Diskussion am Küchentisch. Je älter ich wurde, je mehr ich meine eigene politische Meinung entwickelte und artikulieren konnte, desto hitziger wurden die Debatten am Küchentisch. Mein Vater hätte sich nie einer politischen Richtung zugeordnet. Er wusste, was er nicht sein wollte: Rechts. Meine Eltern sind Demokraten durch und durch und sie hätten es nie geduldet, wenn ich rechte Tendenzen gezeigt hätte. Meine linken Tendenzen konnte sie aushalten, aber nur unter Schmerzen. Die Sozis waren nur geduldet. Sie nahmen es der SPD übel, dass sie gerne ihnen, die hart für ihren Wohlstand arbeiten mussten, Geld durch Steuererhöhungen wegnahmen, um es für soziale Wohltaten zu verwenden. Dort beim Mittagessen, am Frühstückstisch in der Diskussion mit meinem Vater, habe ich gelernt zu diskutieren, andere Perspektiven anzuerkennen oder meine Meinung mit Argumenten zu untermauern. Ab dem neunten Schuljahr entwickelte ich mich zum Klugscheißer. Ich wollte jede Debatte gewinnen. Also eignete ich mir Wissen an, versuchte historische Kontexte zu erfassen, sie einzuordnen und zu vergleichen. Ich habe bei meinen Eltern gesehen, dass sie zwar intuitiv sich eine Meinung bilden konnten, aber sehr leicht zu manipulieren waren. Für meine Generation war der Erwerb von Wissen kein Luxus mehr. Politische Bildung war ab der achten Klasse Teil des Schulunterrichtes. Leider haben nicht alle meine Altersgenossen ihren Vorteil erkannt. Das Ideal der Aufklärung hatte sich in den siebziger und achtziger Jahren vollkommen entfaltet, wurde aber gleichzeitig vom Ideal des Kapitalismus überstrahlt. Für viele meiner Altersgenossen stand der zügellose Konsum im Vordergrund und Wissen war nur etwas für picklige und hässliche Spinner. Man kokettierte gerne mit seiner Unwissenheit und stempelte Menschen, die freiwillig in ihrer Freizeit Bücher lasen, als Langweiler ab.

 In unserer Schule gab es doch einige Lehrer, die in den späten Sechzigern, frühen Siebzigern studiert hatten und an denen die Studentenbewegung nicht spurlos vorbeigegangen war. Mein Deutschlehrer war so ein Mensch: ein Hüne, der stets schwarze Rollkragenpullis, lange fettige Haare und einen Rauschebart trug. Er war streng, zynisch und elitär. Aber immer darauf bedacht in großen Zusammenhängen zu denken. Ich hatte keine guten Noten in Deutsch, blühte trotzdem völlig bei ihm auf. Dieser Lehrer wurde zu meinem großen Vorbild, da er anscheinend alle existierenden Bücher gelesen und verstanden hatte und ein Charisma besaß, das nicht nur mich inspirierte

 Spätestens beim Übergang zur Oberstufe hatte ich Blut geleckt. Ab der elften Klasse war ich Stammgast in der Schulbibliothek und begann philosophische Texte zu lesen. In vielen Dingen war ich Autodidakt. Ich war verdammt schüchtern und unfähig, mir jemanden zu suchen, der mir etwas beibringen konnte. Ich weiß nicht mehr, wie ich an Camus geraten war und ich weiß auch nicht mehr, warum ich glaubte, „Das Sein und das Nichts“ von Sartre lesen zu müssen. In der elften Klasse habe ich mich anfangs noch mit Descartes und Rosseau auseinander gesetzt. Es kann aber auch sein, dass ich damals schon Karl Jaspers gelesen hatte, der mir mit der „Philosophie der Weltanschauungen“ den Weg gewiesen hat und das ich über ihn an die Existenzialisten geraten war.

 Während der ganzen Schulzeit besuchte ich den katholischen Religionsunterricht. Ich hatte dort immer gute Noten und viele Themen haben mich auch interessiert. Schon damals hat man sich im Unterricht mit den anderen Weltreligionen auseinander gesetzt. Das fand ich äußerst spannend, hatte ich doch während meiner Kindheit in der Kirche vermittelt bekommen, dass der Katholizismus den einzig wahren Glauben darstellte. Schließlich hat Gott ja den Christen seine Botschaft verkündet und nicht den anderen. Im säkularen Religionsunterricht lernte ich genau das Gegenteil. Alle Religionen waren gleichwertig. Die Wahrheit an sich gab es nicht. Die Existenz Gottes war wissenschaftlich nicht beweisbar. Glauben war relativ und Religion versuchte nur einen Rahmen für den Glauben an einen oder mehrere Götter zu geben.

 In der zwölften Klasse übernahm ein Lehrer den Religionsunterricht, der mich die nächsten Jahre sehr stark beeinflusste. Wie ich später erfuhr, wollte er in seinen jungen Jahren Priester werden, hatte aber Schwierigkeiten mit dem Zölibat, lernte seine Frau kennen, zog mir ihr drei Kinder auf und wurde Religionslehrer. Er war der erste Mensch mit dem ich leidenschaftlich über Religion und Philosophie diskutieren konnte. Er empfahl mir Hans Küngs „Existiert Gott?“ zu lesen. Das Buch hatte ich verschlungen. Zu der Zeit gehörten auch die verschiedenen Philosophierichtungen zum Lehrplan in Religion. Ich hielt mich für einen Experten auf dem Gebiet. Obwohl mein Wissen aus heutiger Sicht eher als laienhaft zu bezeichnen war, hatte ich mir mit meinen vorlauten Wortbeiträgen die Aufmerksamkeit meines Lehrers bekommen. Ich kam auch nachdem Unterricht mit ihm ins Gespräch. Bis zum Abitur und darüber hinaus gab es mehrere private Treffen, die nur dazu dienten, sich über Religion, Kirche und Philosophie auszutauschen. Ich fühlte mich in dieser Zeit phantastisch. Ich blühte sozial wie intellektuell auf und hatte meine Bestimmung gefunden. Ich war der nervende Klugscheißer, der stundenlang über ein Thema referieren konnte, dabei eine Zigarre rauchte, seine Nase in eine Menge edlen Whiskey tunkte und aufgeputscht von seinen eigenen Thesen die Welt durchdrang.

 Mein mündliches Abitur legte ich im Fach Religion ab. Ich sollte den Freiheitsbegriff im Christentum und im Existenzialismus vergleichen. Ich hatte mich einigermaßen tapfer geschlagen und bekam zwölf Punkte. Damals merkte ich schon, dass mein Autodidaktentum mich schnell an meine Grenzen brachte und da ich finanziell unabhängig von meinen Eltern sein wollte, begann ich nach dem Abitur anstatt eines geisteswissenschaftlichen Studiums eine Ausbildung bei der ortsansässigen Sparkasse.

 Ich hätte gewarnt sein sollen, als mein Vater mich dafür lobte, dass ich doch jetzt so eine tolle Ausbildungsstelle bekommen hätte.

Austreten – Eintreten / Teil eins

Ich habe es getan: Ich bin aus der katholischen Kirche ausgetreten. Mit einer einfachen Unterschrift auf einem Tablet habe ich meine Mitgliedschaft bei diesem Verein beendet. Ich hätte nicht erwartet, dass es mir letztendlich doch so einfach fällt.

 In meinem Umfeld gibt es einige Menschen, die keinerlei Beziehung zu einer Religionsgemeinschaft haben, andere sind einer Religionsgemeinschaft angehörig, ohne die Religion auszuüben und wiederum andere haben einen engen Bezug zu ihrer Religion.

 Ich gehöre zu keiner dieser Gruppen. Mein Verhältnis zur Religion war seit meiner Kindheit nie eindeutig, eher verschwommen, schwer zu umschreiben, voller Ambivalenzen.

 Obwohl meine Eltern wenig Bezug zur katholischen Kirche haben, bin ich katholisch erzogen worden. In der Generation meiner Eltern hatte die Zugehörigkeit zu einer christlichen Religion noch eine andere Bedeutung. Sie war Zeichen von Zugehörigkeit und diente viel stärker der sozialen Kontrolle. Meine Mutter ist Protestantin. Hier in Mittelhessen ist die evangelische Kirche seit Jahrhunderten die mitgliederstärkste Religionsgemeinschaft. Erst nach dem Krieg mit der Ankunft vieler Flüchtlinge aus dem Osten (Schlesier und Sudetendeutsche) bekamen die kleinen katholischen Gemeinden starken Zuwachs. In Wetzlar gibt es alleine vier katholische Kirchen, die nach dem zweiten Weltkrieg gebaut wurden (St. Markus, St. Walburgis, St. Bonifatius, St. Elisabeth). Mein Vater ist Sudetendeutscher und katholisch. Meine Eltern haben in den späten sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts geheiratet und laut der Familienlegende war die Heirat aufgrund der Herkunft meines Vaters nicht unumstritten. In der Regel stimmen Priester einer Eheschließung nur zu, wenn man verspricht, die Kinder aus der Ehe im katholischen Glauben zu erziehen. Meine Eltern hätten sich an das Versprechen nicht halten müssen. Aus irgendeinem Grunde haben sie sich verpflichtet gefühlt und so wurde ich katholisch getauft, ging ich mit acht Jahren in den Kommunionsunterricht und musste 1981 am weißen Sonntag zum ersten Mal vom Leib Christi naschen. Ich habe noch sehr deutliche Erinnerungen an diese Zeit. Erst einmal war der Kommunionsunterricht wider Erwarten sehr lehrreich. Ich hatte zum ersten Mal Kontakt mit der christlichen Lehre und den Geschichten aus dem neuen Testament. Wir hatten einmal in der Woche Unterricht bei einem Ehepaar, das bei uns in der Straße wohnte, liebevoll mit uns umging und darauf achtete, uns die Inhalte kindgerecht näher zu bringen. Ende der Siebziger Jahr war das nicht selbstverständlich, schließlich galt die katholische Kirche schon immer als konservative und rückwärtsgewandte Institution. Die Widersprüche zwischen Außenwirkung und innere Haltung erkannte ich schon früh. Die Gemeinde St. Markus war relativ jung und man hatte gerade ein neues modernes Gotteshaus errichtet. Ein schicker niedriger Bau, ohne Kirchturm und mit viel Sichtbeton. Der Priester dagegen war ein eigensinniger, distanzierter und emotionsloser Hirte, der bei der Messe mit dem Zeigefinger seine Schäfchen abzählte. Ihm war es sehr wichtig, dass ihm keines seiner Schäfchen abhandenkam. Schließlich waren die Verlockungen der Moderne zu groß. Die Schäfchen waren nicht frei von Sünde und konnten jederzeit den Versuchungen erliegen.

 Im Kommunionsunterricht lernte ich früh, dass in der christlichen Lehre der Begriff der Nächstenliebe eine zentrale Bedeutung hatte. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Jesus war ein Vorbild, selbstlos, ohne Allüren, ein einfacher Mensch, der sich um die sozial Schwachen kümmerte und selbst nur der Sohn eines Zimmermanns war. Dagegen stand der Prunk und die Hierarchie in der Amtskirche, alte Männer im Rock, die mit alten Ritualen und Dogmen die Gläubigen an die Kirche zu fesseln versuchten. Die Messe am Sonntag dauerte bis zu zweieinhalb Stunden, davon verbrachte man fast die Hälfte auf Knien und in Büßerhaltung. Die Predigt, die ganzen Sprüche und Formeln klagen hohl und unverständlich. Ich hatte die Messe als eine Veranstaltung des schlechten Gewissens erlebt. Als armer, schwacher Mensch, musste man jede Sekunde seines Lebens auf der Hut vor sich selbst sein. Daher hatte ich auch unheimlich Angst vor der ersten Beichte. Wer ein Sakrament erhält, muss vorher beichten. Ein zehnjähriger, der erklären muss, dass er unkeusche Gedanken hat, seine Eltern nicht ehrt und lügt und betrügt, wenn er die Hausaufgaben nicht macht, kann sich nicht frei fühlen und ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln.

 Die Feier meiner Erstkommunion war für mich die Hölle, ich war unsicher, fühlte mich verloren und sie endete damit, dass ich Windpocken bekam. Während meine Familie und meine Verwandten feierten, lag ich im Bett und wurde von Fieberträumen geplagt.

 Mit zwölf Jahren habe ich das nächste Sakrament erhalten: die Firmung. Wieder gab es Unterricht und in Vorbereitung zum Sakrament die obligatorische Beichte. Seit Jahren erduldete ich nun die langweiligen Messen, das falsche Pathos, die gesalbten und heiligen Bewegungsabläufe, einstudiert und einzementiert in die Ordnung einer Amtskirche, die wenig Spielraum für Abweichung zulässt. Ich hoffte mit der Firmung von der Verpflichtung, Sonntagsmessen besuchen zu müssen, befreit zu werden. Ich konnte die Messdiener, Ihr Gebimmel, ihre gewichtigen Schritte, ihre Verbeugungen, ihr stundenlanges Verharren auf den Knien und das arrogante, ausdruckslose Gesicht des Priesters, das Erheben der Hostie, das Nippen am Kelch, das unheimlich affektierte Abtupfen seiner Lippen nach dem Genuss des Blutes Christi, das Weihrauchgedöns und seine unheimlich tristen und von Phrasen durchseuchten Predigten nicht mehr länger ertragen. Ich sehnte mich nach dem Tag der Firmung, weil es meine letzte Messe sein sollte und ich bald jeden Sonntagmorgen ausschlafen konnte.

 Die Firmung war bei weitem nicht so feierlich wie die Erstkommunion. Es wurden nicht alle Verwandten vorgeladen, keine großen Geschenke verteilt und man erwartete nicht, dass wir uns in dunkle Samtanzüge oder weiße Spitzenkleidchen zwängten.

 Die Firmung wird vom Bischof vorgenommen. In unserem Falle war das Bischof Franz Kamphaus. Wetzlar gehört zum Bistum Limburg. Der Dom in Limburg an der Lahn ist vielen Menschen außerhalb Hessens bekannt, weil er bis 1992 auf der Rückseite des 1000 DM-Scheines zu sehen war. Franz Kamphaus hatte sein Amt noch nicht lange inne und viele haben ihn damals in der der Messe als sehr zugewandt und freundlich erlebt. Er schien frischen Wind in das Bistum zu bringen und die Gemeindemitglieder schienen erleichtert zu sein, dass er menschlich und nahbar wirkte. Der frische Hauch der durch den Kirchraum wehte und den Weihrauchmief vertrieb, nahmen sogar wir Firmlinge wahr.

 Trotzdem war für mich mit der Firmung die Angelegenheit erledigt. Ich wollte nichts mehr mit dieser Zwangsgemeinschaft der Christen zu tun haben.

Reihe 3, Platz 58 + 59, Woyzeck von Georg Büchner

Wir haben es eilig und betreten das Theater kurz bevor die Türen geschlossen werden. Wir haben erst ziemlich spät mitbekommen, das Vorstellungen am Sonntag schon um 18.00 Uhr beginnen. Wie immer drängeln wir uns durch die Sitzreihe und machen uns bei unseren Nachbarn unbeliebt.

 Unsere Sitznachbarin begrüßt uns freundlich zur neuen Spielzeit. Wir sitzen schon einige Jahre nebeneinander und stellen fest, dass wir schon seit 2006 Besitzer des Platzes 58 und 59 sind und unsere Nachbarn kurz nach uns ein Abonnement ergattert haben. Wir sind also schon fest verwoben mit der Institution Stadttheater und so wie man Beamter auf Lebenszeit wird, wird man in der öffentlichen Einrichtung Stadttheater auch Abonnent auf Lebenszeit.

 Stücke wie „Woyzeck“, ein Klassiker des deutschen Theaters, oft aufgeführt, verfilmt und auch gelegentlich mal durch den Kakao gezogen, reizen mich wenig. Die Story kennt jeder: der Soldat Franz Woyzeck versucht sich, seine Freundin Marie und ihr gemeinsames uneheliches Kind finanziell über Wasser zu halten, in dem er seinen Sold durch Frondienste für seine Vorgesetzten und als Versuchskarnickel für einen Arzt aufbessert. Dann tritt der Tambourmajor in Erscheinung, ein eitler Frauenheld, und verführt Marie. Als Woyzeck von ihrem Verhältnis erfährt, meuchelt er Marie bei einem Abendspaziergang am See, der Mond blutrot am Horizont…

 Georg Büchner hat in seinen 23 ihm zur Verfügung stehenden Lebensjahren nur wenige literarische Werke produzier, war er doch nebenbei noch Revoluzzer und angehender Arzt. Alles was wir von ihm kennen, besteht aus wenigen Grundzutaten. Es gibt immer ein unausweichliches Schicksal, dass durch das soziale Umfeld bestimmt wird und immer zur Katastrophe führt. Die Natur ist der bedrohliche Begleiter und Urgrund des Wahnsinns.

 Büchner hat seine Werke im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts zu Papier gebracht und bereitet vieles vor, was ein paar Jahrzehnte später total angesagt sein wird.

 Aber die Zukunft der Moderne ist ja schon wieder Vergangenheit und auch die Postmoderne ist schon irgendwie vorbei. Also was liegt nahe: Wir machen aus dem Stück ein Musical.

 Oh Gott, nicht schon wieder!! In den Spielzeiten davor haben wir einige Inszenierungen erlebt, die durch Gesang und Musik eine Erweiterung erlebt haben. Aber Woyzeck als Musical? Die Idee ist nicht neu und wurde 2000 in Kopenhagen uraufgeführt. Kein geringerer als Tom Waits hat zusammen mit seiner Ehefrau Kathleen Breenan die Musik und Texte geschrieben und das Konzept zur Inszenierung stammt von der Theaterikone Robert Wilson.

 Ich bin schon seit 1985 ein heimlicher Tom-Waits-Verehrer. „Rain Dogs“ sein Album, mit dem er endgültig seinen Durchbruch in Deutschland schaffte, faszinierte mich damals. Die Art wie dort Musik zelebriert wurde, die schräge Instrumentierung mit Marimba und Tuba und einer hellen aufdringlichen Jazz-Gitarre, die sich mit chromatischen Singlenotes durch die Arrangements knödelt, die raue Stimme, die je nach Song, fies bösartig aber auch melancholisch, fast zärtlich klingen konnte, war einzigartig und entsprach damals keinem gängigen Genre. Ich war gerade auf den Thrash-Metal-Trip und es fiel mir schwer, meine Zuneigung zu Tom Waits öffentlich auszuleben. Aber wenn ich in einer gewissen melancholischen und leicht depressiven Stimmung bin, verliere ich mich nur zu gerne in den Songs von Tom Waits.

 Tom Waits hat die Songs aus dem Stück „Woyzeck“ unter dem Titel „Blood Money“ aufgenommen. Die Aufnahme sollte man sich anhören. Sie klingt kein bisschen nach Musical. Tom Waits räuspert und grunzt sich durch die bissigen und zynischen Texte. Gerade am Titelstück „Misery`s the river of the world“ kann man gut erkennen, wie Waits das Theaterstück verstanden haben will.

„If there’s one thing you can say about mankind. There’s nothing kind about man. You can drive out nature with a pitchfork. But it always comes roaring back again.“

 Hat man in Gießen die Botschaft umgesetzt? Ich glaube schon. Das Bühnenbild wie immer schlicht: Am Ende einer treppenförmigen Terrasse hat man die Band positioniert. Sie thronte über dem Publikum, schemenhaft konnte man die Musiker erkennen. Die Instrumentierung wurde vom Original übernommen. Die Schauspieler klebten mit unterschiedlichen Intensitäten an ihren Rollen. Am einen Ende des Spektrums der wehleidige Hauptmann als Karikatur vorgetragen, ähnlich wie der Doktor, Franz Woyzeck am anderen Ende, sehr intensiv allmählich dem Wahnsinn verfallend.

 Woyzeck existiert in seiner Urform nur als Fragment. Wahrscheinlich schreit es deswegen nach Erweiterungen und mit den Songs und der Musik wurde dem Fragment neue Aspekte hinzugefügt, die die Grundaussage verstärken.

  Als ganz nebenbei der Satz fiel, “Jeder Mensch ist ein Abgrund; es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.“, lief es mir kalt den Rücken herunter. Für mich ist dieser Satz der wichtigste in dem ganzen Stück. Jede Figur in dem Stück macht sich schuldig und man fragt sich die ganze Zeit, nach dem Warum. Es gibt keine Erlösung für Niemanden. Daher ist der Pessimismus mit dem die Musik dem Stück beikommen möchte nur folgerichtig und eher erhellend.

 Alles in Allem ein intensiver Theaterabend, der einem noch die letzte Zuversicht genommen, gerade wenn man bedenkt, dass wir die Aufführung am 15.10. besucht haben und eine Woche vorher die Hamas in Israel gewütet hat. Schwere Zeiten, wie immer und Franz Woyzeck ist ein Soldat und kein Mensch…  

Frankfurter Buchmesse 2023

Nach einigen Besuchen auf der Buchmesse in Frankfurt kann uns nichts mehr erschüttern und aus der Ruhe bringen. Der Tag fängt immer mit einem überfüllten Zug an. Eine Horde Fußballfans, die sich in Gießen in den Wagen quetschen, vormittags Flaschenbier konsumieren und im dichten Gedränge an ihren Verdampfern ziehen, gehören dazu. Genauso wie die unscheinbare Frau, die morgens um halb zehn genüsslich mit der Gabel in einem kalten Potpourri aus Kartoffeln und Zwiebeln herumstochert, das sie in einem Blechbehältnis seit Tagen gären lässt. Der scharfe Geruch der Zwiebeln steigt mir in die Nase und ich halte ihn stoisch aus. Daneben sitzt die Armada junger Frauen, die sich an ihren New Adult Schinken festhalten und keinen Zentimeter weichen wollen, wenn man im Gang um ein wenig Platz bettelt. Hinter mir piksen mich die selbst gebastelten Schwerter der als Anime-Figuren verkleideten Cosplayer in den Rücken und eine hysterische Person beschwert sich lautstark über den Platzmangel im Gang.  Beim Ausstieg am Zielbahnhof versperren uns alte Herren in verbeulten Anzügen, die seit vierzig Jahren nicht gereinigt wurden, den Weg, weil sie mit ihren verbeulten Lederkoffern in der Hand den Bahnsteig gemächlich entlangtrotten wollen.  Aber das ist ja nur der Anfang. Spätestens wenn man gegen Mittag in Halle 3.0 versucht von einem Ende zum anderen Ende der Halle zu kommen und sich fragt, wo die ganzen Menschen plötzlich herkommen, man 13000 Schritte gelaufen ist, vier Stunden gestanden hat, drei bis vier matschige Wurstbrötchen, die man von zu Hause mitgebracht hat, verschlungen hat, weil man sich das Anstehen an den Ständen und die Mondpreise für das Messeessen ersparen will, man mindestens einmal in Panik gerät, weil man seinen achtjährige Sohn nicht mehr findet, er nach einer aufwendigen Suchaktion an irgendeinem Stand am anderen Ende der Halle wieder auftaucht und so tut als sei nichts gewesen, um dann doch in Tränen auszubrechen, weiß man, dass man auf der Buchmesse in Frankfurt ist.    

Und trotz alledem passieren wir gutgelaunt um 9.45 die Zutrittsschleuse und bewegen uns flott über die langen Gänge, die die Messehallen verbinden, auf die Halle 3.1 und den Stand der Süddeutschen Zeitung zu. Die Hallen sind noch leer und wir bekommen einen guten Platz neben der Bühne. Zwei Minuten später drängelt sich Frau Föderl-Schmid, stellvertretende Chefredakteurin der SZ und Deborah Feldmann an uns vorbei, um auf der Bühne ihre Plätze einzunehmen.

Nur am Rande des Interviews geht es um Frau Feldmanns neues Buch „Judenfetisch“ (ISBN 978-3-630-87751-8, Luchterhand).  Frau Förderl-Schmidt, die selbst in Israel gelebt hat, lenkt das Gespräch schnell auf die aktuelle Situation in Israel. Deborah Feldmann ist ergriffen von den Geschehnissen. Sie sucht nach den richtigen Worten und versucht sehr stark zu differenzieren. Man merkt ihr an, dass sie ihre Perspektive vermitteln will, ohne ihre Meinung den Zuhörer aufzudrängen. Mittendrin appelliert sie an die Zuhörer und fordert sie auf, sich mehrere Meinungen zu dem Thema anzuhören und sich selbst ein Bild zu machen, weil sie selbst befangen ist.

Wenn sie von Hoffnungslosigkeit spricht, glaubt man ihr, dass es aus ihrer Sicht nun keine Chance mehr auf ein friedliches Zusammenleben in der Region gibt und sie spart nicht mit Kritik an der israelischen Politik, die sich in den letzten Jahren von den Ideen des linken Zionismus entfernt hat und sich immer mehr dem biblischen Zionismus zugewandt hat, der kein Raum für Frieden lässt. Sie kritisiert aber auch die deutsche Politik, die sich hinter den Floskeln der Solidarität zu Israel versteckt und keine Taten folgen lässt. Niemand scheint anzuerkennen, dass  Israels Sicherheit nur durch Frieden und Verständigung gesichert werden kann.

Zum Schluss erzählt sie über eine Familie aus einem Kibbuz, die einen Angriff überlebt haben und die vorher jahrelang Kindern aus dem Gazastreifen geholfen hat und nun nicht mehr helfen will. Plötzlich hält Deborah Feldmann inne und es überkommen Trauer und Schmerz. In dem Moment schnürt sich mir der Hals zu. Dieser Konflikt ist so vielschichtig und unbegreiflich für uns und als wir den Stand verlassen, fällt es uns schwer, einfach weiter zu gehen. Im Laufe des Tages kommen wir immer wieder auf das Thema zurück, sprechen in den Pausen darüber und sind uns einig, dass Deborah Feldmann mit ihrer persönlichen und emotionalen Analyse uns die schwierige Situation erhellt hat. 

Nach einer Verschnaufpause gehe ich zum Stand der F.A.Z. um Daniel Kehlmann zu lauschen, der im Gespräch mit Sandra Kegel (Ressortleiterin Feuilleton der FAZ) seinen neuen Roman über den Stummfilmregisseur G.W. Pabst vorstellt. Ich sehe Herrn Kehlmann zum ersten Mal live und Frau Kegel stellt ihn als einer der freundlichsten deutschen Schriftsteller vor. Er wirkt äußerlich nicht wie der Star der deutschen Literaturszene, er könnte glatt als Verwaltungsfachangestellter oder Gymnasiallehrer durchgehen. Er gibt gerne Auskunft zu der Entstehung seines neuen Romans „Lichtspiel“(978-3-498-00387-6, Rohwohlt), der sich um den Stummfilmregisseur G.W. Pabst dreht. Für Kehlmann war die Figur G.W. Pabst interessant, weil er erst nach Hollywood emigriert war, um nach ein paar Misserfolgen nach Österreich zurückzukehren. Pabst hatte den Ruf ein „roter“ Regisseur zu sein, seine frühen Filme waren sehr sozialkritisch. Er stand ideologisch den Nationalsozialsten nie nahe, hatte aber im dritten Reich im Auftrag des Propagandaministeriums  weiter Filme gedreht. Pabst hat den modernen Filmschnitt mitentwickelt und Kehlmann hat neben der Geschichte der Reimmigration die Übersetzung des filmischen Schnittes in Literatur gereizt. Zudem gab es genug Lücken in der Biographie des Regisseurs, die Kehlmann genutzt hat, um sie literarisch auszufüllen. Das Ganze hat er mit fantastischen und surrealen Elementen angedickt.  Das sind alles typische Ingredienzen, die man aus seinen Romanen kennt und zu schätzen weiß. Das Buch werde ich mir auf jeden Fall kaufen. Nach zwanzig Minuten ist der Spaß vorbei und meine Beine zeigten erste Ermüdungserscheinungen.

Die nächste Stehparty folgt sofort. Schlangestehen im Congress-Zentrum, um Cornelia Funke zu sehen. Die Veranstaltung war hoffnungslos überlaufen und man kam noch nicht mal in Sichtweite des Eingangs zum Saal.  Also taumeln wir durch diverse Hallen und landen am Stand von BookTok: Die Plattform bringt viele junge Leser zurück zum angestaubten Medium Buch. Den jungen Lesern ist es auf einmal wieder wichtig, ein Buch als haptisches Produkt zu besitzen.  Und doch ist es wie immer: es gibt viele ältere Menschen, die jungen Menschen vorwerfen, dass sie ihr Zeit nur noch am Handy verbringen und keine Bücher mehr lesen (seltsamerweise kommt der Vorwurf oft von Menschen, die selbst keine Bücher mehr lesen) und wenn sie dann an ihrem Handy Bücher für sich entdecken und daraus auch neue Literatur entsteht, ist es auch nicht richtig. Es ist der ewige Generationenkonflikt, den meistens die jungen Menschen für sich entscheiden. BookTok nimmt auf jeden Fall eine große Fläche in einer Halle ein. Dort kann man an einem Glücksrad ein Buch gewinnen. Die Schlange vor diesem Rad scheint durch die ganze Halle zu reichen. Meine Frau und Meine Tochter stehen vierzig Minuten an. Meine Tochter darf endlich drehen und wie der Zufall es will, kommt das Glücksrad an der richtigen Stelle zum Stehen.  Sie wollte sich „22 Bahnen“ (ISBN 978-3-8321-6803-2, DUMONT) von Corinna Wahl aussuchen, aber der BookTok-Aufpasser hat den Gewinn nicht anerkannt. Er hat wohl nicht richtig hingeschaut und es gab nur eine Stofftasche von TikTok. Wir wittern Betrug und wollen die Chinesen verklagen…Hilft ja nix..

Wir sind zurück in Halle 3.0 in der mittlerweile die Hölle ausgebrochen ist. Es ist erstaunlich wie viele junge Menschen sich dort herumtreiben und ihre Liebe zum totgesagten Medium Buch kundtun. Sogar am Reclamstand, an dem ich in den letzten Jahren einige schöne Bücher gefunden habe, ist die Schlange an der Kasse lang. Vor mir stehen nur junge Damen, die mit gelben Heften bepackt, schüchtern ihre Geldbeutel zücken. Ich bin meiner Tradition treu geblieben und kaufe bei Reclam „Sound of Rebellion“ von Peter Kemper(978-3-15-011324-0) , ein Buch über die politische Ästhetik des Jazz für 38 EUR und zwei rote Bücher mit italienischen Liedern und Sprichwörtern.

Ich wechsle wieder in Halle 3.1 und muss Umwege in Kauf nehmen, weil Ordner die Menschenströme zu lenken versuchen und einen nicht mehr überall durchlassen. Neben den F.A.Z.-Stand hat sich der Katapult-Verlag breit gemacht. Letztes Jahr war der Verlag noch eine frische und interessante Erscheinung am Verlagshimmel. Nun ist er pleite. Auch dieser Umstand wird mit widerborstigem Humor zu Schau gestellt. Letztes Jahr hatte ich das Buch über PhilosophInnen mit einem Alkoholproblem an dieser Stelle empfohlen, aber nicht gekauft. Kurz habe ich überlegt, ob ich das Buch jetzt kaufe, bevor der Verlag endgültig pleite ist und man das Buch nicht mehr bekommt. Die Tatsache, dass es noch einen zweiten Teil gibt (Die Kaputten, s.u.), hat mir die Entscheidung noch schwerer gemacht. Ich hatte aber bei Reclam mein Buchbudget schon überschritten und mich gegen den Erwerb der Bücher entschieden.

Während ich am SZ auf Terezia Mora warte, die gleich ihr neues Buch „Muna“ (ISBN 978-3-630-87496-8, Lucherhand) vorstellen wird, starre ich auf meinen Handybildschirm und spüre meinen Schmerzen in den Oberschenkeln und Waden nach. Das Stehen kostet mich Kraft. Plötzlich schiebt mich jemand zur Seite. „Können Sie mal Platz machen?“ Die Redakteurin, die Frau Mora gleich interviewen wird, geleitet Frau Mora durch die Menge. Als nächstes sehe ich die Rückseite der Autorin, die ihren Körper in Richtung Publikum dreht und das Vorgehen der Redakteurin kommentiert.

„Ja stimmt, man kann ja die Menschen auch mal fragen, ob sie Platz machen.“

Ich sehe Frau Mora zum zweiten Mal auf einer Buchmesse und wie beim letzten Mal bietet sie einen kurzweiligen und tiefsinnigen Einblick in die Entstehungsgeschichte ihres neuen Romans. Frau Mora berichtet über Schreibkrisen, die ihre Agentin noch befeuerte, in dem sie für die Autorin einen Vertrag über drei Romane abgeschlossen hatte. Frau Mora hatte keinerlei Idee für neue Bücher. Die Agentin empfahl ihr einfach abzuwarten, da sich ja die Ideen von selbst ergeben werden. Bald hatte Frau Mora die Idee, eine Trilogie über Frauen zu schreiben. Zum ersten Mal hatte sie in einem Roman die Geschichte aus Sicht einer Frau erzählt. Die Tatsache scheint sogar Frau Mora zu erstaunen. Muna ist eine patente und starke Frau, die sich einem Mann hingibt, der kalt und unnahbar scheint. Sie begibt sich in eine toxische Beziehung, die ihr Leben von nun an bestimmt. Frau Mora unternimmt den Versuch, zu ergründen, warum Frauen freiwillig in solche Abhängigkeiten begeben und sinniert auskunftsfreudig über ihre Gedanken zu dem Thema. Nachdem ich alle drei Romane der Darius-Kopp-Trilogie gelesen habe, werde ich auch diesen Roman und alle weiteren Romane der neuen Trilogie lesen.

Ich war mir nicht sicher, ob ich im Anschluss Bov Bjerg am SZ-Stand zuhören sollte. Ich ging davon aus, dass meine Beine nach einer weiteren dreiviertel Stunde unbewegten Stehens dann endgültig zu Schmerzsäulen erstarren. Obwohl ich den Autor gerne mal live erlebt hätte, weil ich seinen Roman „Serpentinen“ damals verschlungen habe und die Beschreibung seines neuen Buches „Der Vorweiner“ echt schräg und skurill klingt, hat er sich doch diesmal an eine Dystopie gewagt, lasse ich das Gespräch am SZ-Stand aus und vereinige mich wieder mit meiner Frau und den Kindern, um im zweiten Stock des Forums den Pavillon des Gastlandes Slowenien zu besuchen. Ich sehe nicht viel von Slowenien, weil ich mich sofort auf einen Hocker fallen und mich von meiner Frau mit Zartbitterschokolade füttern lasse, die von netten Slowenen kostenlos an Besucher verteilt werden.

Im Erdgeschoß des Forums laufen wie immer ohne Unterbrechungen Podiumsdiskussionen und Interviews von ARD, ZDF und 3Sat. Als wir aus Slowenien zurückkommen, reden Isabel Schayani, Sineb el Masrar, Jagoda Marinic gerade über das allgegenwärtige Thema, Migration und Integration.  Dazu muss ich nicht viel sagen, denn man kann sich alle Gespräche in den Mediatheken anschauen.

Es folgt ein absoluter Themenbruch: Otto Waalkes betritt gemeinsam mit Bärbel Schäfer die Bühne, deren dunkle Vergangenheit als Moderatorin eine Thrash-Talkshow im Privatfernsehn fast genauso wenig wie der altbackene Humor von Otto Waalkes zu ertragen ist. Aber Irgendwie haben sich beide  in die Gegenwart gerettet und scheinen nun geläutert zu sein.

 Auch Otto hat ein neues Buch veröffentlicht, in dem er 75 große Meisterwerke der Kunstgeschichte den Ottifanten untergejubelt hat. Meine Tochter fragte mich, ob das der Kerl mit den schwulen Schlümpfen sei? Eine Freundin von ihr stünde total auf Otto. Äh? Schwule Schlümpfe? Stimmt, da war was….Ja, das ist er! Otto kann man ja total blöd finden. In meiner Kindheit war er schon das Maß für bitterbösen Humor, auch wenn er immer kalauernd und blödsinnig daher kam. Was ich an Otto noch nie leiden konnte: Es gibt ihn in der Öffentlichkeit nur als seine eigene Kunstfigur und ich war positiv überrascht, dass er für seine Verhältnisse sehr ernst über sein Buch gesprochen hat. Aber das kann man sich auch in der ZDF-Mediathek anschauen.

Am späten Nachmittag ist in Halle 3.0 mittlerweile Ruhe eingekehrt. Der große Andrang ist vorbei. Für meine Frau und die Kinder ergibt sich die letzte Chance zum Bücherkauf. Für meinen Sohn musste es ein Fußballbuch sein. Meine Tochter holte sich, nachdem man ihr den Gewinn des Buches am Booktok-Stand verwehrt hatte, „22 Bahnen“ von Caroline Wahl bei Dumont. Meine Frau hat den Roman von Deborah Feldmann bei Penguin Random House gefunden und gekauft.  

Als letzte Veranstaltung haben wir uns im Forum noch das Interview von Cornelia Funke mit Bärbel Schäfer als Rausschmeißer gegeben. Frau Funke hat lange in der USA gelebt, ist jetzt in die Toskana gezogen und nach sechzehn Jahren zum ersten Mal auf der Buchmesse. Ich kann nicht behaupten, dass ich sie vermisst habe. Ich finde sie als Person wie als Autorin total überbewertet. Ich kann ältere Frauen nicht ausstehen, die so tun als seien sie innerlich Kinder geblieben. Auch wenn sie über irgendwelche aktuellen Themen spricht, klingt sie leicht naiv. Aber das ist meine subjektive Meinung und wer sie nicht teilt, ist herzlich willkommen.

Genervt von Frau Funke und meinen Beinschmerzen nahm ich gerne den Vorschlag meiner Frau an, sich zu beeilen, um noch den übernächsten Zug nach Hause zu bekommen. Der Zug war leer und wir bekamen alle einen Sitzplatz. Ich atmete einmal tief durch und biss in meine Ditsch-Brezel. Wieder einmal haben wir eine Buchmesse entspannt hinter uns gelassen.

Talentfreier Autor sucht Talent

Wenn Amateure sich der Öffentlichkeit stellen, um die Ergebnisse ihres kreativen Prozesses zu präsentieren, kann es zu einem jähen Erwachen kommen. Für meinen Roman „der ewige Kreislauf“, dessen Überarbeitung ich mehrfach in meinem Blog zum Thema gemacht habe, hatte ich im Frühjahr Testleser gesucht. Da ich bei meinem letzten Romanprojekt mich in eine Sackgasse geschrieben hatte, suchte ich nach Inspiration und Auswegen.
Selbstreflektion stiftet Verwirrung. Profis werden an der Überwindung der Verwirrung wachsen. Amateure kämpfen jedes Mal erneut um ihre Daseinsberechtigung.
Eine Strategie des Amateurs ist es, einfach so zu tun, als sei er ein begnadeter Autor. Er überspielt seine Unsicherheit oft mit einer überheblichen Arroganz. Er berichtet in hymnischen Euphemismen von seinem besten Buch, das er nun bei Amazon für 5,99 EUR veröffentlicht hat. Liest man die erste Seite des vom Autor angepriesenen Werkes, stolpert man sofort über Rechtsschreib- und Logikfehler. Der Autor degradiert sich selbst zum Hochstapler.
So wollte ich nie sein. Wahrscheinlich schreibe ich deshalb einen Blog, in denen ich allzu gerne meine mittelmäßigen Fähigkeiten zur Schau stelle. Vielleicht auch eine Art der Kompensation….
Also habe ich es mir selbst gegeben, TestleserInnen gesucht und drei Personen gefunden. Ich hatte schon bei der Ausschreibung ein schlechtes Gefühl. Insgeheim suchte ich die Bestätigung für meine eigene Einschätzung, die ich vor mir gern selbst geheim gehalten habe. Eigentlich war es eindeutig: Für den ewigen Kreislauf werde ich niemals den Nobelpreis für Literatur erhalten. (Ich gebe es zu: jeden Oktober sitze ich immer in der Nähe unseres Festnetzapparates…wenn die Schweden sich vielleicht mal verwählen!)
Das Urteil der TestleserInnen war vernichtend. Es gab viel Kritik und wenig Lob und natürlich könnte ich jetzt behaupten, dass die Testleser keine Ahnung haben und mich mit ihnen streiten. Machen viele Dilettanten nur zu gerne: Sie verschwenden ihre Zeit mit einen Disput, der nur ihre Leberwurstigkeit offenbart.
Natürlich werden die TestleserInnen in ihrem Urteil durch den eigenen Geschmack beeinflusst, der manchmal sehr tendenziös sein kann. Jemand, der gerne Krimis liest und sich nur in diesem Genre bewegt, wird mit einem tiefgründigen und verschrobenen Text im Stile eines Thomas Bernhard nichts anfangen können (das heißt jetzt nicht, dass ich mit meinem Roman in diese Kerbe hauen wollte. Das wäre auch nichts geworden. Wahrscheinlich hätte ich mir dabei einen Finger abgehackt.)
Daher ist es immer gut, wenn mehrere Testleser das Werk begutachten. Es hilft dem Autor, den Eigengeschmack des Lesers aus dem Urteil herauszufiltern und sich auf die Gemeinsamkeiten der einzelnen Gutachten zu konzentrieren. Wenn zwei oder drei Leser die gleichen Themen ansprechen, bemängeln oder auch gut finden, gibt es dem Autor eine gewisse Sicherheit und die Möglichkeit an den Stärken weiter zu arbeiten und die Schwächen auszumerzen.
Ich bin als Autor auf die Ehrlichkeit der Testleser angewiesen. Die Neigung zu Gefälligkeitsurteilen ist sehr menschlich. Man will ja nicht auf jemanden draufhauen, der sich anscheinend viel Mühe gegeben hat. Bei Testlesern aus dem eigenen Freundeskreis habe ich keine guten Erfahrungen gemacht. Oft erlebt man das Hinauszögern der Lektüre, ständiges Herausreden oder plakative Aussagen. Man will ja die Freundschaft nicht gefährden.
„Toller Roman! Klasse Text! Knüller!“
„Was hat dir besonders gut gefallen?“
„Äh, die Handlung.“
„Gell, dass Ende ist sehr gut.“
„Äh, ja natürlich.“
Spätestens bei solchen Aussagen weiß der Autor, dass der Freund oder die Freundin, das Manuskript nur mit der Kneifzange angefasst hat und zwar um es in den Mülleimer zu werfen.
Hier treffen unausgesprochene Befürchtungen und Eitelkeiten aufeinander, die man mit Ehrlichkeit und Offenheit leicht aus der Welt schaffen könnte.
Ich wollte ein ehrliches Urteil und habe es erhalten. Für ein paar Minuten fühlte ich mich in der Sackgasse, in der ich mich schon befand, an die Wand gedrückt. Ich holte tief Luft und hatte das Gefühl, in einer anderen Welt aufzuwachen.
Nachdem ich die schlechten Nachrichten verdaut hatte, führte ich ein langes Gespräch mit meiner Frau. Meine schärfste Kritikerin ist nun einmal mein Guru, mein Krafttier, mein Buddha, Marjorie, die allwissende Müllhalde und die Mutter dreier meiner Kinder in einer Person.
Nachdem sie die Urteile der anderen Testleser mit einem stillen Nicken bestätigte, stellte ich ihr die Fragen aller Fragen:
„Soll ich weiter schreiben? Das bringt doch nichts?“
Sie antwortete weise und klar:
„Viele Leute machen ganz andere Dinge, die nichts bringen und nennen es Hobby. Wenn es dir Spaß und Freude bereitet, schreib weiter.“
Wahrscheinlich sind wir im kapitalistischen Sinne viel zu sehr darauf aus, ein sichtbares Ergebnis zu erzielen. Bücher müssen verlegt werden, verkauft werden und auf Bestsellerlisten landen. Wir schöpfen nicht unsere kreativen Möglichkeiten aus, wenn wir in Ertragskategorien denken.
Ich habe nur kurz nachgedacht und für mich festgestellt, dass ich auch ohne Leser einfach Freude daran habe, in der Sonne an meinem Platz im Garten zu sitzen und an langen Texten zu feilen. Resonanz zu bekommen, egal in welcher Form, hält mein Schreibprozess am Laufen. Also habe ich mich hingesetzt und überlegt, was ich aus der Kritik meiner Testleser für das nächste Projekt mitnehmen kann und habe eine Liste mit Hinweisen notiert, die ich von nun an immer beim Schreiben im Blick haben möchte:

  1. Nicht so viel in eine Geschichte reinpacken. Weniger ist mehr.
  2. Die Glaubwürdigkeit meiner Figuren und ihrer Handlungen im Blick haben.
  3. Der Anfang einer Geschichte muss zum Weiterlesen animieren.
  4. Gute und echte Dialoge und keine indirekte Rede verwenden.
  5. Weniger Adjektive.
  6. Meine Figuren wollen von mir geliebt werden.
  7. Ich hole mir in einem früheren Stadium des Schreibprozesses eine zweite Meinung.

Und so mache ich weiter, bis mir das Talent doch noch auf die Füße fällt (Autsch!)