Der Marktschreier

Vor Ostern gelang es mir, das Exposee für Roman Zwo fertig zu stellen. Ich habe sechs Wochen lang an einem Klappentext und ein inhaltliche Zusammenfassung meines des Textes gearbeitet. Diese Art der „Bewerbung“  führt bei mir zur reichlichen Absonderung von Angstschweiß. Es gibt nur wenige Tätigkeiten, die ich noch mehr hasse (z.B. das Ausdrücken von Mitessern an Nasenflügeln).

  Um mich inspirieren zu lassen, habe ich  in den alten Dateien nachgeforscht und festgestellt, dass ich schon einmal vor fast zehn Jahren für den Ursprungstext ein Exposee verfasst und an Literaturagenten verschickt hatte. Ohne Erfolg! Ich las das alte Exposee. Damals benötigte ich Massen an Wörtern, um nichts auszudrücken. Ich schrieb ausschweifende Schachtelsätze, die den Leser überforderten und nicht den Kern der Geschichte sichtbar werden ließen. Ich dachte weder an das Fachpublikum, das meinen Roman beurteilen, noch an die Leser, der unbedingt das Ende der Geschichte erfahren sollte.

 Die Erkenntnis mehr als zehn Jahre mit diesem Projekt verbracht zu haben, hat mich auf den Boden der Realität geprügelt.  Wenn man blutend auf der Straße liegt, jeden einzelnen Knochen im Körper spürt und der Kopf dröhnt, sollte man lieber aufstehen. Ansonsten bleibt man für immer liegen.

 Ich traf die richtige Entscheidung, als ich mir die Mühe machte, den Roman zu überarbeiten, das ganze überschüssige Material zu entfernen und mich auf einen Spannungsbogen zu konzentrieren. Die hohe Kunst der Literatur besteht nicht darin, seine Leser zu langweilen. Autoren können nicht in ihren Turmzimmern sitzen und warten, bis sie jemand dort oben herausholt. Es ist immer die Mühe wert, weiter zu machen, wenn es schwierig wird und an seinen Fähigkeiten zu arbeiten. In dieser Situation lohnt es sich nicht, die Schuld den anderen zu geben. Der Autor ist alleine verantwortlich für die Qualität seines Textes.

 Wenn der Roman doch gut ist, sollte es einem Autor nicht schwer fallen, ein gutes Exposee zu schreiben, oder? Nicht jeder Autor beherrscht die Kunst des Marketings in eigener Sache. Ich habe genau deswegen lange mit dem Exposee gehadert. Ich traue mir nicht zu, Menschen für meine Literatur zu begeistern. Ich bin viel zu selbstkritisch und empfinde es als peinlich, mit meinen Fähigkeiten hausieren zu gehen. Ich hasse es, wie ein Marktschreier meine Ware anzupreisen. Anscheinend gehört es zur Tätigkeit des Autors dazu, eine Rampensau zu sein. Und Plumps bin ich doch wieder der grantige Schreiberling im Turmzimmer, der ich nicht sein will.

….ach, ich drehe mich im Kreis! Das passt ja wie die Faust aufs Auge zum Titel meines Romans:  „der ewige Kreislauf“.  Egal, mein Exposee ist fertig und ich habe es hinaus in die Welt gesendet.

 Anbei stelle ich den Klappentext zur allgemeinen Beurteilung zur Verfügung und wer will, kann auch gerne das Exposee zum Lesen bekommen und meine Damen und Herren und nun kommt noch die Sensation des Tages hinzu, sie bekommen von mir nicht nur einen Klappentext und ein Exposee, jetzt hören Sie genau hin, so eine Angebot bekommen sie nicht alle Tage, stellen sie die Lauscher auf: ICH SUCHE AUCH NOCH TESTLESER! Wer will kann kostenfrei den ganzen Roman lesen und sich dazu auslassen. Na meine Damen und Herren, das ist doch ein Angebot, das kann man sich nicht entgehen lassen….nun der Klappentext zu „der ewige Kreislauf“ als kleine Kostprobe:

Ole und Simon, zwei Freunde, ein Geheimnis. Simon will das Geheimnis hinter sich lassen, Ole will es bewahren.  Der Konflikt zwischen den beiden Endzwanzigern eskaliert als Simon sich auf die Suche nach seinem Vater begibt. Simons narzisstischer Vater, der sich für den Gestalter einer neuen Welt hält, hat überall auf der Welt seine Spuren hinterlassen. Ole und Simon begegnen kaputten Typen, den Simons Vater übel mitgespielt hat. Auf ihrer Reise über mehrere Kontinente finden sie Simons Vater und geben ihr Geheimnis preis. Für sie gibt es aber keine Erlösung, denn sie müssen erkennen, dass sie dem ewigen Kreislauf aus Lügen, Geheimnissen und Verbrechen nicht mehr entkommen können….

Sollte man seine schärfste Kritikerin heiraten?

Die Frage stellt sich mir gar nicht mehr. Ich habe Sie schon vor neun Jahren geheiratet. In vielen Lebensbereichen betrachtet mich meine Ehefrau durch eine rosarote Brille und lässt nichts auf mich kommen. Ich sehe dann, wie sie mich verliebt anstarrt und mich mit den schönsten Umschreibungen auf einen Sockel hebt von dem ich niemals herunter fallen werde. Sie beginnt dann ihre Sätze mit „Mein Mann“. Wenn sie mir die Ehre erweist und mich als ihr Eigentum bezeichnet, impliziert das auch meine Einzigartigkeit, denn die Stelle als ihren Mann hat sie nur einmal vergeben und die habe ich hoffentlich lebenslang inne.

Und trotzdem bin ich nicht der Traummann für alle Fälle. Manchmal legt sie es darauf an, meine Unzulänglichkeiten bloßzustellen und mich in die Schranken zu weisen. Oftmals denke ich, ihre Attacken werden mit der Dauer unserer Beziehung heftiger und sie lässt sich häufiger dazu hinreißen. Bei genauerer Betrachtung stelle ich fest, dass sie schon immer zwischen Jubel und Tadel in schöner Sinusregelmäßigkeit hin- und her oszillierte.

 Es könnte aber auch am oszillieren meiner Selbstwahrnehmung liegen, die einer phasengleichen Schwingung unterliegt wie das Verhalten meiner Frau. Manchmal fühle ich mich wertlos, nicht wertgeschätzt, unsichtbar, glaube nicht an meine Fähigkeiten oder gehe fest davon aus, dass sie niemand außer mir wahrnimmt. Zwei Minuten später spucke ich selbstverliebte Lobeshymnen auf mein Intelligenz, meine Fähigkeiten und meine überragende Persönlichkeit aus. Ich hinterlasse dann den Eindruck, vollkommener Entrücktheit und einer damit verbundenen Arroganz, die alle Anwesenden kalte Luft durch die Zahnreihen ansaugen lässt.

 Ich kenne ja die Ursache meiner Unausgeglichenheit. Ich weiß, wie ich groß geworden bin und in welch merkwürdiger Versuchsanordnung ich meine Kindheit und Jugend verbracht habe. Äußerlich betrachtet bin ich ein typisches westdeutsches Kind, aufgewachsen in den Siebziger- und Achtziger Jahren, wohlbehütet und gut versorgt. Viele aus meiner Generation wissen, was sich hinter der Fassade aus Neubaugebieten, Pauschalreisen in den Süden, Sportschau, bunten Plastikpullis, Farbfernsehgeräten, Videorecordern, C64 Home-Computern und Tiefkühltruhen verborgen hat: Lieblosigkeit, Zukunftsängste, soziale Kontrolle und die Ablehnung bestimmter Denkweisen.

 Ich habe mich in der Welt meiner Kindheit fehl am Platz gefühlt. Meine ganze Kindheit war bestimmt durch die unbestimmte Ahnung, dass irgendetwas nicht mit mir stimmt. Heute weiß ich: Mit mir war mehr in Ordnung als ich damals wissen konnte. Das ist die Kurzversion der Geschichte meiner psychischen Defizite. Wer sich aber fehl am Platze fühlt, wird entweder ausbrechen oder verhaltensauffällig werden. Ausbrechen versuche ich immer wieder (und scheitere) und verhaltensauffällig werden kann ich auch.

 Meine kindliche Erfahrung hatte auch positive Auswirkungen auf mich. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund bin ich relativ bodenständig und verantwortungsbewusst geworden. Meine Macken sind nicht sofort sichtbar und ich bin kein Typ mit irren Blick, der den ganzen Tag damit verbringt, seine Umgebung zu terrorisieren. Irgendwie hat mich meine gefühlte Andersartigkeit dazu bewegt, über meinen Horizont hinauszuschauen und neue Welten für mich zu entdecken.

 Und weil mir immer alle meinen Entdeckerreisen ausreden wollten, habe ich mir eine Hartnäckigkeit und Ausdauer anerzogen, die glücklicherweise auf alle Lebensbereich ausstrahlt. Wenn ich mir etwas vorgenommen habe, gebe ich nicht auf, bis ich mein Ziel erreicht habe. Ich habe keine Angst vor unbekannten Terrain und ich brauche immer wieder neue intellektuelle Impulse, um meine Zufriedenheit zu spüren.

 Meine Frau ist in einem ähnlichen Milieu groß geworden und doch hat sie eine ganz andere Persönlichkeitsstruktur. Sie denkt geradeaus und hat die seltene Fähigkeit, sachlich und pointiert ihre Standpunkte darzulegen. Sie ist eine kleine und starke Frau, die beim Gehen ihren Kopf immer leicht anhebt und die absolut mit sich im Reinen zu sein scheint. Allerdings schlummern in ihr auch die kleinen Monster der Unzulänglichkeiten. Sie hat sie nur besser unter Kontrolle und ist immer wieder darauf bedacht, ihre inneren Kämpfe still mit sich selbst auszutragen.

Wenn man sie fragt, ob irgendetwas was nicht in Ordnung sei und als Antwort ein Nix bekommt, sollte man in Deckung gehen. Die Bombe in ihr könnte jederzeit platzen. Oft schafft sie es, sie zu entschärfen, aber manchmal fliegt die Bombe allen um die Ohren.

 Zudem sind wir beide Menschen, die sich mit vielen Themen intellektuell auseinandersetzen, oft gemeinsam in intensiven Gesprächen, aber bei manchen Themen denken wir für uns alleine.

 Gerade in Bezug auf Musik und Literatur sind wir höchst unterschiedlich gepolt. Ich mache mich immer lustig über ihre Ahnungslosigkeit in Sachen Musik. Am liebsten dudelt sie die alten Techno- und Grungehits aus den Neunzigern vor sich her (was an sich schon eine krasse Mischung ist). Ich habe alle möglichen Stilrichtungen und Epochen, Pop, Rock, Heavy, ProgRock, Elektro, Minimal, Klassik von frühester Kindheit erforscht und durchdrungen. Die Musik war für mich neben der Literatur die Möglichkeit mich selbst zu bestimmen und die Lieblosigkeit meiner Umgebung zu überwinden. Meine Frau und ich haben beide einen emotionalen Zugang zu Musik. Bei mir ist es nur so, dass ich ständig heulen muss, weil ich ergriffen bin und sie sucht das heillose Vergnügen in schönen Melodien.

 Noch schlimmer ist es bei der Literatur. Natürlich haben wir einen gemeinsamen Kanon, der aber irgendwie immer kleiner wird. Ich lese typische „Männerliteratur“ (ja auch Hannah Ahrendt hat Männerphilosophie betrieben, ihr blieb nichts anderes übrig), große kluge Männerköpfe, die entweder mit großen Wortkaskaden die Welt durchdringen und beschreiben oder mit ihren komplexen und natürlich politisch gefärbten Texten alles nur noch komplizierter machen wollen. Sie liest „Frauenliteratur“, Bücher (manchmal auch von Männern geschrieben), emotionale Schlachtschiffe, Familienepen, immer leicht esoterisch angehaucht.

 Ich glaube der letzten kleine gemeinsame Nenner war dieser Franzose, Edouard Louis, mit seinen ersten zwei Büchern, die ja irgendwie neben viel Sozialkritik auch eine Familiengeschichte erzählen und in seiner gesamten Tragik sehr emotional rüberkommen, die perfekte Mischung zwischen unserem Verständnis von Männer- und Frauenliteratur.

 Meine Frau könnte niemals Gefallen an Thomas Pynchon finden und ich könnte niemals diese Ferrante-Trümmer lesen.

 Als sie meinen Roman zum ersten Mal in die Finger bekam, hat sie die Struktur zu Recht kritisiert und ich habe ihn noch einmal komplett überarbeitet. Und weil ich von ihrem klaren Urteil begeistert war, habe ich ihr die zweite Version wieder zum Lesen gegeben.

 Monatelang habe ich sie angebettelt, sie möge doch die dreihundert Seiten über sich ergehen lassen, sie müsse mir doch nur mitteilen, ob der Text ihre formalen Kriterien eines guten Romans erfülle (Ihre Vorgabe war: schreib deinen Roman wie deine Kurzgeschichten).

 Sie hat sich gewunden, Ausreden gesucht, naja der Sommer war stressig, die Pandemie, wir haben unser Haus modernisiert, habe ich ja gerne Verständnis für aufgebracht. Jetzt nach einem knappen dreiviertel Jahr hat sie mir ihr Urteil über das erste und zweite Kapitel überbracht. Das wäre ja alles total unglaubwürdig. Sie käme ganz schwer in die Geschichte rein. Die zwei Hauptfiguren seien so arrogant und unsympathisch. Warum sie mit dieser Amerikanerin durch Florenz laufen, dass macht ja überhaupt keinen Sinn! Ich habe sie dann darüber aufgeklärt, dass das ganze Buch schon einen gewissen Spannungsbogen habe und die Entwicklung der Figuren das ganze Buch in Anspruch nähme, man am Ende erst die Zusammenhänge verstehe und man ja auch deshalb das Buch lese, weil man die Auflösung am Ende erwarte. Dann habe ich noch irgendetwas von Suspense a la Hitchcock erzählt, ist ja auch so ein Männerding, nackte blonde Frauen, die in Duschen gemeuchelt werden. Sie ist während meiner Ausführungen vor mir weggelaufen und als ich sie im Wohnzimmer in die Enge getrieben hatte, hatte ich noch ein Beispiel parat: Der talentierte Mr. Ripley! Der arrogante Narzisst, die die ganze Zeit damit verbringt seine Verbrechen und seine Identität zu verbergen. „Von einer Frau geschrieben“, rufe ich aus. Meine Gattin starrte mich ungläubig an. Was denn das für ein Beispiel sei? Nachdem sich die Gemüter beruhigt hatten, versprach sie mir, meinen Roman zu Ende zu lesen. Sie könne allerdings immer nur vier oder fünf Seiten lesen und dann müsse sie aufhören, weil sie der ganz abgehobene Sprachduktus nerve. Sie hat mir dann noch meine Flüchtigkeitsfehler vorgeworfen.

„Du hast außerdem geschrieben: Er ist zur Tür hinausgeschlürft!“

Während sie das Wohnzimmer verließ, um sich wieder ihren Arbeiten zu widmen, amüsierte sie sich über meinen Fauxpas. Zu meiner Verteidigung rief ich ihr noch hinter her, dass das jedem Autoren passiere und dass es deswegen nun einmal Testleser und ein Lektorat gäbe. Sie hat es absichtlich überhört.

So haben sich also Autoren gefühlt, die mit ansehen mussten, wenn Marcel Reich-Raniciki ihre Bücher im literarischen Quartett verbal vernichtet hat. Mittlerweile bin ich alt genug, um auch daran nur das Positive zu erkennen.  Wenn ich die Kritik meiner Ehefrau überlebe, muss ich mich vor keinem anderen Kritiker mehr ängstigen. Vielleicht ist das der ganze Clou an der Sache. Ich habe vielleicht in dem Bewusstsein, dass mir nichts mehr geschehen könne, wenn meine schärfste Kritikerin meine Ehefrau wird, diese Frau geheiratet. Wer weiß das schon?

1925 vs. 2029

Häufig ähneln sich gesellschaftliche Entwicklungen unterschiedlicher Epochen ähneln. Autoritäre Gesellschaftsstrukturen mit  starren Klassenstrukturen, die sich nach Faktoren wie Herkunft, Status, Eigentum richten, galten oft genug als Standard. Im Gegensatz dazu stehen die liberalen Gesellschaftsordnungen, die die Bildung von Klassen vermeidet und dementsprechend nach allen Richtungen durchlässig sind. Die letztere Gesellschaftsordnung scheint aus unserer heutigen Sicht das Ideal zu sein. Trotzdem erleben wir gerade im Moment, wie die autoritären Strukturen für viele Menschen anscheinend einen gewissen Reiz ausüben. Man spricht von Elitenbildung, von starken Persönlichkeiten, die wissen, wie der Hase läuft und das man denen doch Politik und Wirtschaft überlassen sollte, weil sie das ganze Chaos der Globalisierung beseitigen werden. Die Forderung nach einer starken Elite ist nicht nur in Europa en Vogue und das obwohl nach dem zweiten Weltkrieg alles dafür getan wurde, um separatistische antidemokratische Gesellschaftsstrukturen zu vermeiden.

Der große Unterschied zwischen 1925 und 2029 ist, dass die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung genau entgegengesetzt verläuft. Man erlebt zwischen den Kriegen ein allgemeines Aufatmen, eine Abkehr von autoritären Herrschaftsformen und beginnt sogar fünfzehn Jahre später den absoluten Endkampf gegen die ausgearteten faschistischen Regime mit ihrem Führerprinzip, die nichts anderes darstellen als eine moderne Übertreibung von absoluter Herrschaft und Klassengesellschaft. In 2029 ist man im Verlauf der letzten dreißig Jahren weltweit genau in diese Kerbe hineingerutscht. Die herrschenden Subjekte einer globalen Gesellschaft setzen alles auf eine utilitaristische Ökonomisierung des Zusammenlebens und ernten dafür eine Elitengesellschaft mit autoritäre Zügen, die dafür sorgt, dass ein Großteil der Menschen in eine wirtschaftliche Abhängigkeit geraten, die kaum Fluchtmöglichkeiten bietet. Natürlich für die Undurchlässigkeit der einzelnen Klassen zu  einem degenerativen Stillstand sozialer Entwicklung. Gerade dieser große Unterschied, die Zeit des Aufbruchs vs. die Zeit des Stillstandes gibt mir als Autor die Chance den Rückgriff auf die Vergangenheit zu wagen, um zu zeigen, was der Zukunft fehlt. Shaw als Bote der Vergangenheit mit seinem ausgeprägten politischen Bewusstsein, der erkennt, dass Gesellschaft sich evolutionär zum Besseren entwickeln kann, in dem jeder am politischen Leben teilnimmt, kann den Unterschied zur politisch unbewussten Alethea deutlich werden lassen, die sich in die autoritären Strukturen einordnet und deren Generation die Teilhabe an Politik gar nicht mehr kennt. Insbesondere ist das für mich als Autor möglich, da beide eine Parallele in ihrer Herkunft aufweisen. Durch das wirtschaftliche Scheitern ihrer Väter haben sie den sozialen Abstieg erlebt. Bei Shaw wie Alethea ist ihr Leben darauf ausgerichtet, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf wieder heraus zu ziehen. Shaw allerdings indem er gegen den Mainstream arbeitet und Alethea indem sie sich anpasst. Alleine daraus ergibt sich die Reibung, die ich brauche, um meine Intention für den Leser sichtbar zu machen.

 

Die Welt im Jahre 2029

Es gilt nun die verschiedenen sozialen Systeme der Ebene Alethea und Shaw Cherry-Garrard zu erforschen, um ihre Gemeinsamkeiten heraus arbeiten zu können. Die gesellschaftlichen Zustände, die in der Ebene Jo Sommer herrschen, habe ich an anderer Stelle ausgiebig dargestellt

 Beginnen wir mit der Zukunft im Jahre 2029: Das soziale Gefüge beruht auf Trennung anstatt Solidarität. Jeder Mensch bekommt zu Beginn seines Lebens eine monetäre Schuld aufgebrummt, die seine Schuld gegenüber der Gesellschaft darstellt und die er im Laufe seines Lebens abarbeiten muss. Jeder Bürger fängt mit den gleichen Schuldenstand an. Durch das erwirtschaftete Einkommen, durch ererbtes Vermögen, also durch Geldleistung kann jeder seine Schuld nach und nach tilgen. Wer von Geburt an in wohlhabenden Verhältnissen lebt, wird seine Schuld sofort tilgen können, derjenige, der in Armut groß wird, hat wenige Chancen die Tilgung seiner Schulden zu erreichen. Dadurch sind drei Kasten entstanden, die mehr oder weniger nebeneinander existieren und die wenige Berührungspunkte haben. Es gibt die Elite, der Geldadel, der schon vor Generationen seinen Reichtum angehäuft hat, die Mächtigen, Banker, Industrielle, dazu gehören die Emporkömmlinge, die durch Zufall und Glück von den unteren Schichten aufgestiegen sind. Sie dienen oft als Alibi für die Elite, die anhand der Existenz der Emporkömmlinge zeigen kann, dass das Kastensystem durchlässig ist. Die Elite stellt in der Bevölkerung nur einen kleinen Anteil. Der weitaus größere Anteil wird von den sogenannten Maden gestellt. Dies sind die gewöhnlichen Arbeitnehmer, deren einziges Ziel ist, ihr Schuldenkonto schnellstmöglich abzuarbeiten. Ihre Chance, irgendwann zur Elite zu gehören, ist illusorisch gering und da alle um diesen Umstand wissen, agieren die meisten Maden wie die Hamster im Hamsterrad. Sie arbeiten Tag und Nacht, haben kaum Zeit, um ihren eigenen Interessen zu folgen und sind grundsätzlich ohne politisches Bewusstsein. Durch den Druck, der auf ihnen lastet, sind viele von ihnen psychisch ausgezehrt, wenn nicht sogar krank und viele neigen dazu, latent aggressiv zu sein. Das Bildungssystem beruht auf der Vereinzelung. Den Maden wird in der Schule beigebracht, dass sie nur die Tilgung ihres Schuldenkontos im Augen haben sollen und deswegen sich auf ihr berufliches Weiterkommen konzentrieren sollen. Fraternisierung mit Gleichgesinnten gilt als verpönt. Man misstraut dem Nachbarn und verhält sich gegenüber anderen gleichgültig oder abweisend. Liebesbeziehungen gelten als altmodisch. Sexualität und Fortpflanzung ist ökonomisiert worden. D.h. man bezahlt für eine Dienstleistung und geht keine langfristigen freiwilligen Beziehungen ein. Eigentlich sind alle sozialen Lebensweisen mit Dienstleistungen verknüpft, die bezahlt werden müssen.

 In der dritten Kaste sammeln sich alle Personen, die in dem System der Maden nicht mitmachen wollen oder nicht mitmachen können. Die Ausgestoßenen möchten sich von ihren Pflichten gegenüber der Gesellschaft befreien. Allerdings haben sie keine Möglichkeit ihrer Schuldenrückführung zu entkommen. Insofern sind sie darauf angewiesen, in irgendeiner Art und Weise ein Einkommen zu generieren. Entgegen den Maden haben sie verstanden, dass ein Überleben nur möglich ist, wenn man sich mit Gleichgesinnten zusammenschließt. Das heißt nicht, dass sie politisch organisiert sind. Sie leben zumeist in kleinen Kommunen abseits der Städte und versuchen durch einen hohen Grad an Selbstversorgung sich eine kleine Freiheit zu verschaffen. Sie werden von den Behörden geduldet, weil sie für ein geringes Einkommen den Maden als Dienstleister zu Verfügung stehen, also sich um ihre Kinder kümmern, Sex mit ihnen haben oder abends gemeinsam mit ihnen Fernsehen schauen. Obwohl sie sich von der Gesellschaft lösen wollen, sind sie Teil des Systems. Der Staat wird gelenkt von der Heiligen Dreifaltigkeit: Gesellschaft, Staat und Arbeitgeber. Es ist eine anonyme Struktur der Macht, die sich nur in ihren Vertretern zur erkennen gibt und die für die Menschen nicht greifbar ist. Es gibt keine grundsätzlich diktatorische Struktur, es gibt keine autoritäre Führung, die sich als Inhaber der staatlichen Gewalt aufspielt. Es gibt nur noch scheindemokratische Teilhabe der Menschen am Staat. Wahlen haben nicht die Funktion, den Bürger seine Geltung als Souverän zu verschaffen, sondern sie dienen dazu, den Menschen das Gefühl zu geben, sie hätten die Möglichkeit etwas zu bestimmen. Dabei bestimmt die anonyme Heilige Dreifaltigkeit die Geschicke eines Staates. Grundsätzlich hat sich durch die ökonomische Verknüpfung ein globales politisches System etabliert, dass eher dynamisch funktioniert und sich nicht an der Idee der Nationalstaaten orientiert. Wirtschaftlichkeit und Effizienz prägen politisches Handeln. Ethische Grundsätze sind nicht mehr maßgebend für politische Entscheidungen. Da der Einzelne sich selbst überlassen ist, gibt es auch aus der Bevölkerung wenige Bestrebungen an politischen Entscheidungen zu zweifeln. Das Denken der Internet-Generation, dass alles dazu dient die Welt besser zu machen und diese Maxime sich auf rein positivistisches und materialistisches Weltbild stützt, hat sich endgültig durchgesetzt. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde hat sich als lästiges Übel überlebt, weil sie der Schaffung eines perfekten Menschen, der nur den wirtschaftlichen Nutzen als einzige normative Kraft anerkennt, im Wege steht. Dazu gehört, dass die technische Entwicklung sich nicht ins unendliche fortgepflanzt hat, sondern auf dem Status von 2015 stehen geblieben ist. Man hat sich in eine Sackgasse manövriert und das politische System verhindert Innovationen und Weiterentwicklung, weil die Menschen keine Zeit haben, um neue Visionen zu entwickeln.

 Alethea Cumberland gehört durch ihre Herkunft eigentlich zu den Maden. Sie schickt sich an in die Kaste der Emporkömmlinge hinein zu wachsen. Sie hat ihr einziges Talent genutzt, um ihr Schuldenkonto in absehbarer Zeit ausgleichen zu können und danach Vermögenswerte anzuhäufen. Dazu gehört allerdings, dass sie weiterhin erfolgreich ist. Ein Fehltritt, ein Flop und sie fängt wieder von vorne an. Alethea profitiert von ihrer Popularität und genießt einige Privilegien der Elitären. Doch der Druck auf sie ist groß. Dementsprechend steckt hinter ihrer Arroganz ein Stück Unsicherheit und Nervosität. Zudem gibt es genug Menschen, die ihr mistrauen, weil sie durch ihre individuelle Kreativität vorangekommen ist und dies nicht zur utilitaristischen Vorstellung von ökonomischem Erfolg passt. 

 

Heureka

Als ich nun die dritte Ebene für meinen Roman über Jo Sommer suchte, fielen mir wieder Cherry-Garrard und George Bernhard Shaw ein. Mein Instinkt als neugieriger Autor sagte mir, dass man diese zwei Geschichte wunderbar miteinander verknüpfen konnte. Warum sollte Jo Sommer nicht ein ähnliches Problem wie ich haben. Sie soll oder will einen Roman über die Südpolexpedition schreiben und verzweifelt an der Umsetzung, weil sie sich nicht befähigt fühlt, mit einem historischen Stoff adäquat umzugehen. Bisher hat sie Fantasyromane geschrieben, wie die Hexen von Iverness und irgendwelche Drachenmumpitz. Es fällt ihr leicht, eine Welt zu erfinden. Die reale Welt zu beschreiben, fällt ihr allerdings schwer.

 Sie lässt ihrer Phantasie freien Lauf und daraus entstehen die Kausalzusammenhänge und sich muss sich nicht mit Kausalzusammenhängen rumschlagen, die einem wirklichen Geschehen entsprechen. Sie sorgt sich, als Autorin an dem historischen Stoff zu scheitern und ihren erreichten Status als Autorin zu verlieren.

 Wie passt nun das Zweigespann Cherry-Garrard und Shaw da rein? Auf dem ersten Blick wohl überhaupt nicht. Und das macht es für mich spannend. Die erste Ebene ist Aletheas Leben in der Zukunft. Sie berichtet über ihr Literaturprojekt, wie sie auf das Thema gekommen ist, ihre Furcht vor dem Versagen, ihre kleine Welt, in der sie als wohlhabende Autorin ihre Marotten und ihre Arroganz pflegt.

 Die zweite Ebene ist das Leben von Jo Sommer, die heutige Gegenwart. Ich werde nach und nach ihr Leben beschreiben. Ihr Vater, der nach dem die Mutter die Familie verlassen hat, in Depressionen verfällt und sich um nichts kümmert. Die Vorgeschichte, die Erbschaft, die dazu führt, dass die Ehe der Eltern auseinanderbricht usw.

 Die dritte Ebene handelt vom den Zwiegesprächen zwischen Cherry-Gerrard und Shaw. Sie treffen sich, um über Cherry-Garrards Buchpläne zu sprechen. Die Gespräche eskalieren immer wieder, weil Shaw mit seinen Zynismus den trägen Cherry-Garrard aus der Reserve locken will und die Unterhaltungen nach seinem Gusto gestalten will. Mal verhört er Cherry-Garrard, mal spielt er den liebevollen alten Knaben, mal den Therapeuten. Erst im Laufe der Debatten gelangen sie zum eigentlichen Kern der Geschichte. Cherry-Garrard, der Edelmann aus reichen Hause, der seine Depression und eines posttraumatische Belastungsstörung wie ein Haustier pflegt, wird von Shaw als Vertreter der reichen Klasse enttarnt, der sich einen Weg sucht, um nie wieder am Leben teilnehmen zu müssen. Während Scott keine Chance hatte, der Realität zu entfliehen, weil er sich sein Leben lang gegen den sozialen Abstieg stemmen musste. Er war Sohn eines Brauereibesitzers, der früh verstarb und der seine Familie kein Vermögen hinterließ, so dass Scott nur die Möglichkeit hatte, durch eine Karriere bei der Marine, für den nötigen Unterhalt der Familie zu sorgen und durch die Teilnahme an solchen Expeditionen seine Chance sah, den nötigen Wohlstand für ein beinahe sorgenfreies Leben zu erwirtschaften. Er war Opfer und Held der Geschichte zugleich, während Cherry-Garrard sich zu Unrecht zum Opfer stilisiert.

 Alle Ebenen stehen zuerst selbstständig nebeneinander. Lange Zeit ist zum Beispiel nicht klar, dass Alethea und Jo ein und dieselbe Person sind. Die Ebenen verknüpfen sich über ihre Aussagen, über die Themen die sie behandeln. In allen drei Ebenen geht es letztendlich um drei verschiedene soziale Systeme, die doch vieles gemeinsam haben: es gibt ein starkes soziales Gefälle zwischen einer kleinen Elite, die sich auf ihrem Wohlstand ausruht und dem großen Rest der Menschheit, die sich knechten muss, um zu überleben. Der soziale Aufstieg ist kaum möglich. Shaw und Alethea Cumberland sind in einer ähnlichen Situation. Beide kommen aus gewöhnlichen Verhältnissen und haben aufgrund ihrer Talente den sozialen Aufstieg unter großen Opfern geschafft. Shaw ist bekennender Sozialist und hat sich politisch engagiert, während Alethea ohne politisches Bewusstsein durch ihr Leben schlängelt. Alethea wird im Laufe des Textes die Verbindung zu Shaw und Cherry-Garrard erkennen und ihr politisches Bewusstsein entdecken. Ihr Buch über die Südpolexpedition entwickelt sich zu einer politischen Kampfschrift. Dazu muss sie auch erkennen, dass sie ihr altes Ich, Jo Sommer, im Laufe ihres Lebens zugunsten ihres Strebens nach Anerkennung verraten hat. Der Text soll davon profitieren, dass sich die anfänglich für sich stehenden Ebenen im weiteren Verlauf verzahnen und zu einer Ebene zusammenwachsen.

 

Mir ist kalt

Vor zwei oder drei Jahren habe ich mich aus reinem privatem Interesse mit der Südpolexpedition von Scott auseinander gesetzt. Ich hatte keine Lust mehr Romane zu lesen und nach der Lektüre mehrere recht schwieriger Philosophiebücher (Adorno, Heidegger) hatte ich auch daran kein Interesse mehr. Ich weiß nicht genau, was der Auslöser war. Auf jeden Fall habe ich mir ein Buch über Scotts letzte Expedition besorgt. Als Kind habe ich einen Spielfilm über diese Expedition gesehen und irgendwie hat sich diese tragische Geschichte, an dessen Ende der Held stirbt, in mein Gehirn gebrannt. Das Buch hieß „Scott“ von Ranulph Fiennes und ich habe es verschlungen. Mr. Fiennes war selbst mehrfach am Südpol unterwegs und kennt die Schwierigkeiten, die eine Reise an den Südpol mit sich bringt. In 1910 hatte man wenig Ausrüstung, die auf solche Reisen zugeschnitten war. Man hatte schwere Schlitten, wenig Technik, die die Kälte überstand, Kleidung und Zelte waren aus fast primitiven Stoffen hergestellt, die Kälte und Sturm kaum abhielten. Also nichts gegen unsere heutige Outdoorkultur, wo jeder Schüler schon eine Winterjacke trägt, mit der er mal einen kurzen Ausflug in die Arktis wagen könnte. Es gab keine Kommunikationsmittel, um sich mit der Außenwelt adäquat zu unterhalten. Wer unterwegs war, konnte im Notfall nicht auf Hilfe hoffen. Es gab keine Funkgeräte und auch keine Satellitenhandys. Sobald das Forschungsschiff den letzten Hafen verließ, war man auf sich alleine gestellt. Eine Situation, in der es immer um die Unversehrtheit des eigenen Lebens ging.

 Genau diese Ungewissheit, sich für Jahre an einem unwirtlichen Ort zu befinden, völlig abgeschnitten von der Außenwelt, hat mich fasziniert. Dazu kam natürlich die Tragik der Geschichte. Scott war Offizier der englischen Marine und hat einerseits durch die Teilnahme an solchen Expeditionen seinen Status und sein Einkommen verbessern wollen. Aber er war kein Abenteurer und Hasardeur. Es ging ihm nicht alleine darum, der Erste zu sein, sondern eine wissenschaftliche Expedition durchzuführen, die der Menschheit Erkenntnisse über die damals wenig erforschte Antarktis bringen sollte. Amundsen war der Erste am Südpol und Scott erreichte den Südpol ein paar Tage später, um auf dem Rückweg mit vier seiner Gefährten den Tod zu finden. In der Nachbetrachtung durch seine Zeitgenossen kam Scott schlecht weg. Man warf ihm Fehlverhalten und Führungsschwäche vor, während Amundsen schlechthin der Sieger war, der alles richtig gemacht hat. Erst später erkannte man, welche Leistung Scott auch in wissenschaftlicher Hinsicht vollbracht hat. Herr Fiennes berichtet viel über die Kontroverse, die unter den Zeitgenossen Scotts entstanden war. Dabei sticht ein Buch über die Expedition heraus, das ca. dreizehn Jahre nach Ende der Expedition veröffentlicht wurde. Der Autor des Buches, Aspley Cherry-Gerard, war selbst Teilnehmer der Expedition. Er hatte die unglückliche Aufgabe übernommen, auf die fünf Expeditionsteilnehmer, die auf dem letzten Wegabschnitt zum Südpol alleine unterwegs waren, an einem vereinbarten Punkt zu warten. Allerdings kamen sie nie dort an. Das Warten hatte kostbare Zeit gekostet und eine Rettung der Südpolmannschaft war nicht mehr möglich. Cherry-Gerard wurde depressiv und hat nie mehr wirklich ins Leben zurückgefunden. Er verzweifelte über diese Expedition und um sich selbst zu therapieren hat er das Buch „Die schlimmste Reise der Welt“ geschrieben. Auch dieses Buch habe ich gelesen. Das Buch ist einerseits ein Tatsachenbericht. Auf der anderen Seite wurde deutlich, wie ein jahrelanger Aufenthalt in der Kälte Menschen verändern kann. Man hört die Melancholie, das Leiden unter den schwierigen Witterungsbedingungen, das Dasein zwischen Leben und Tod, die körperlichen Strapazen, die aus dem jungen abenteuerlustigen Mann Cherry-Garrard einen lebensuntüchtigen kranken Mann gemacht haben. Während der Entstehung des Buches hat Cherry-Garrard sich bei einem berühmten Nachbarn, nämlich George Bernhard Shaw, der große engliche Dramatiker des zwanzigsten Jahrhunderts, Rat geholt. Wir wissen nicht, wie groß der Einfluss von George Bernhard Shaw war. Man weiß nur, dass er Scott nicht leiden konnte. Die Tatsache, dass dieser Zyniker Shaw seine Finger im Spiel hatte, fand ich inspirierend. Ich witterte eine Geschichte, merkte aber schnell, dass sie eine Nummer zu groß für mich war. George Bernhard Shaw ist keiner der Autoren, mit denen ich mich bisher beschäftigt habe. Auch das Leben am Anfang des zwanzigsten Jahrhundert in Großbritannien gehört nicht gerade zu meinen historischen Interessen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich daraus eine Geschichte formen soll. Ich hatte Angst davor, es  nicht zu schaffen, weil ich beim Stochern in historischen Stoffen auf viele Minen treffen konnte, die mich und mein literarisches Schaffen auf einen Schlag in die Luft sprengen konnte. Ich habe genug Bücher gelesen, in denen die Autoren sich wunderbar in der Vergangenheit bewegt haben, aber mir traute ich das nicht zu. Also legte ich den Stoff zur Seite und hoffte, dass ich mir irgendwann das Rüstzeug erarbeiten konnte, um einen solchen Stoff adäquat umzusetzen.

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Es geht weiter im Text

Nach den ersten Schreibversuchen habe ich den Plot, Erzählebenen und Erzählformen deutlich erweitert. Nach den ersten Schreibversuchen habe ich konkrete Überlegungen angestellt, die dazu dienten, den Plot komplexer zu gestalten. Aus den ersten Schreibversuchen ergab sich die Gefahr, einen trivialen Text zu schreiben, der nichts mit meinen Intensionen und meiner Metaebene zu tun hat.

 Mir ging es darum, die Möglichkeiten meiner Geschichte zu erweitern. Bei den ersten Schreibversuchen habe ich für mich gespürt, dass die Geschichte zu eindimensional wirkt, wenn ich Alethea aus der Zukunft berichtet, um uns die Gegenwart ihres kindlichen Ichs als Johanna zu erzählen. Ich wollte keinen Roman über jemanden lesen, der in einer urbanen Zukunftsumgebung lebt, die klinisch kalt wirkt. Wenn wir ehrlich sind, ist das sehr abgenudelt. Ich kann mich dann seitenlang darüber auslassen, welche technischen Neuerungen uns das Jahr 2029 bietet und wie schlimm das Leben in der Stadt der Zukunft ist. Das soll kein Science-Fiction Roman werden. Also brauche ich eine dritte Ebene, die zur Reflektion von Zukunft und Gegenwart dient und die Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede der verschiedenen Ebenen deutlich macht. Okay, wir haben Zukunft und Gegenwart, was uns also fehlt ist die Vergangenheit. Darüber musste ich mir klar werden, bevor ich die erste Version eines ersten Kapitels vorantreiben konnte.

Wie tief darf das Wasser sein?

 

Ich muss mir Einhalt gebieten und mir eine grundsätzliche Frage stellen. Wie tiefgängig sollte ich Charaktere zeichnen? Wann wirken sie platt, wie Abziehbilder oder Klischees? Ab welchen Punkt bekommen sie Tiefe und wirken realistisch? Wann wirken Figuren überfrachtet und viel zu komplex, so dass ich mich als Autor in ihren Wesensmerkmalen verheddere und ich widersprüchliche Figuren schaffe, die ich selbst nicht mehr verstehe?

 Neben dem Sprachstil finde ich den Aufbau der Charaktere das wichtigstes Element der Gestaltung. Wenn man nicht den richtigen Ton findet, kann sich damit jede gut gemeinte Geschichte versauen.

 Ich habe vor mehr als einem Jahrzehnt einen Kurzgeschichtenzyklus vollendet, der mich heute noch beschäftigt. Ich hatte damals ein Faible für Maler und deren Werke entwickelt. Ich setze mich immer wieder mit anderen Kunstformen auseinander und lasse mich davon inspirieren. Eine Geschichte aus dem Kurzgeschichtenzyklus lag mir besonders am Herzen, weil ich vor ca. zwanzig Jahren ein Gemälde im Musee d´Orsay gesehen habe und ich völlig in dieses Gemälde vernarrt war. Es handelt sich um die Heuernte von Bastien Lepage, einen etwas unbekannteren Naturalisten aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Ich brauchte Jahre um die Geschichte zu entwickeln. Damals gab es im Internet noch nicht viele Informationen über unbekanntere Maler und ich wollte unbedingt wissen, welches malerische Genie und auch welche Persönlichkeit hinter diesem Gemälde standen und daraus einen Plot für eine Kurzgeschichte entwickeln. Alleine dafür hat es Jahre und einige Zufälle gebraucht.

  Bastien Lepage kam aus einer Bauernfamilie und lebte Zeit seines Lebens im Schoß seiner Familie. Er starb mit Mitte dreißig und hatte bis dahin einen gewissen Erfolg als Maler gehabt. Er war wohl ein- oder zweimal auf dem alljährlichen Pariser Salon vertreten gewesen, was damals die wichtigste Anlaufstelle für Maler war, die Erfolg haben wollten. Das Gemälde zeigt seine Schwester, die sich während der Heuernte eine Pause gönnt und man sieht ihr ihre Erschöpfung an, allerdings auch die Entspannung während der verdienten Pause. In ihrem Bauernkleid, mit ihren großen schwarzen Augen, ihren groben Wangenknochen und den dicken schwarzen Augenbrauen wirkte sie sehr ländlich und einfach. Das ganze Sujet strahlt eine kontemplative Ruhe aus.

 Meine Geschichte handelte nun von Julius, der alleine am Waldrand in seinem Elternhaus lebt und nachdem er erfährt, dass er nicht mehr lange leben wird, Rückschau hält. Er vergleicht sich mit Bastian Lepage, den er beneidet für sein einfaches Leben und das ihm Zuneigung seiner Mitmenschen sicher war. Auch Julius ist Künstler und verdient sein Geld mit dem Fotografieren von Tierkadavern, die er im Wald findet und für seine Bilder kunstvoll drapiert. Er ist einsam, hat nur wenig soziale Kontakte und die hat er sich mit seiner menschenverachtenden Art auch noch zerstört. Seine Muse Fanny hat ihn verlassen, nachdem ihr einen wenig glaubwürdigen Heiratsantrag gemacht hat.

 Julius Eltern haben sich getrennt als er ein Kind war. Seine Schwester und sein Vater sind in die Stadt gezogen und seine Mutter und er sind im Haus am Waldrand geblieben. In der ursprünglichen Version habe ich die Schwester als verzogene Göre aus der Stadt beschrieben, die sehr egozentrisch agiert und nichts anderes im Kopf hat als sich in irgendeiner Art zu profilieren. Ich habe sehr stark auf den sexuellen Aspekt ihrer pubertären Entwicklung reduziert. Sie stellte eine plumpe Verführerin dar, die Julius in jeglicher Hinsicht den Kopf verdreht. Als seine Mutter stirbt, lässt sie Julius im Regen stehen, da sie das Interesse an ihm verloren hat. Dadurch scheint Julius Schicksal besiegelt zu sein. In einer Kurzgeschichte hat man als Autor nicht viel Raum für tiefschürfende psychologische Analysen. Ich bin also glücklicherweise gezwungen die psychischen Motive der Figuren aufs Nötigste zu reduzieren. Das macht das Schreiben von Kurzgeschichten so interessant. Man pickt sich nur einen Teil der Handlung heraus, man pickt sich auch ein oder zwei Aspekte einer womöglich viel komplexeren Persönlichkeit heraus. An dieser Stelle hat das nicht gereicht, weil die Figuren dadurch zu eindimensional wirkten.

 Leider habe ich immer ein Problem, jemanden zu finden, der sich als Lektor für meine Texte betätigen will. Bevor man einen Text auf die Öffentlichkeit los lässt, sollte jemand mit Sachverstand sich dem Text widmen. Das ist auch eine Angelegenheit des Vertrauens, weil jeder, der einen Text liest, eine Meinung dazu hat, aber wenige können aus einer objektiven Perspektive heraus, die Qualität eines Textes beurteilen.

 Momentan kenne ich eigentlich nur zwei Personen, die ich an meine Texte heran lasse und denen ich das nötige Vertrauen entgegenbringe. Dazu habe ich auch schon zu viele schlechte Erfahrungen mit gutgemeinten Ratschlägen gemacht. Das Spektrum reicht von Ignoranz (ja, ich habe deine Kurzgeschichte gelesen, aber worum es ging, habe ich vergessen) bis zu Besserwisserei (die Geschichte kenne ich schon, die hat doch so´en Typ aus der Schweiz schon mal geschrieben) habe ich alles erlebt. Also überlasse ich das Lektorieren meiner Frau und meinem besten Freund Christian. Beiden vertraue ich ohne Einschränkung, dafür haben sie ein anderes Problem: Sie haben keine Zeit.

 Meine Frau Henrike hat einen ähnlichen hohen Anspruch an literarische Qualität wie ich. Sie hat aber auch teilweise einen anderen Geschmack wie ich. Sie liest anspruchsvollen Mainstream und hat nicht die Neigung zu abstruser Literatur oder Romanen der Weltliteratur. Die Philosophie geht ihr total ab. Sie findet es wahrscheinlich ganz toll, dass ihr Ehemann sich da ein wenig auskennt, aber sie kann damit nicht viel anfangen. Eigentlich stelle ich mir in meinen heimlichen Schriftstellerträumen so meinen Leser vor. Solche Menschen sollen meine Bücher kaufen. Bei Christian ist es völlig anders. Er ist Doktor der Philosophie und schreibt selbst. Zu ihm schaue ich herauf, wenn es um die Philosophie geht. Bei der Literatur haben wir einen ähnlichen Geschmack. Er ist belesener als ich. Das liegt daran, dass er einfach schon immer und überall Bücher liest und wahrscheinlich auch manches einfach nur quer liest, während ich ja einer von denen bin, die Bücher von der ersten bis zur letzten Seite liest, egal wie anstrengend und schlecht es ist. Ich kann nicht aufhören ein Buch zu lesen, bis ich die letzte Seite erreicht habe. Wenn Christian meine Texte liest, sind seine Anmerkung fundiert und die eines Literaten, der also auch genau die Wirkung des Textes auf den Leser allgemein erfassen kann.

 Er hat die Kurzgeschichtensammlung angefangen zu lektorieren und mir bei meinem letzten Besuch, es war ein trüber Herbsttag und wir sind im strömenden Regen durch den Wald gestapft, zu eröffnen, dass bei der Heuernte die Schwester sehr platt getroffen sei und darunter die gesamte Geschichte leide. Es reiche nicht aus, die Schwester als lüsterne Stadtgöre zu zeichnen.

 Die Geschichte habe ich wie gesagt vor langer Zeit begonnen und die Kurzgeschichtensammlung ist ein Flickenwerk. Andere Geschichten habe ich viel später geschrieben. Z.b. die zweite Geschichte ist ca. acht Jahre alt. Ich habe dort zum ersten Mal eine Begebenheit aus meinem Leben verarbeitet. Normalerweise verabscheue ich die autobiographischen Schilderungen von Autoren. In diesem Falle habe ich mich hinreißen lassen und hier wirkte der Text auf Christian wesentlich stringenter und durchdachter.

 Mein Fazit war, dass ich mich doch als Autor weiter entwickelt habe und viele meiner alten Texte dadurch an Qualität verlieren, weil ich bei den Personen nicht wirklich authentische Möglichkeiten der Charakterzüge herausgearbeitet, sondern nur Klischees verwendet habe.

 Also habe ich mich noch einmal, nach langer Zeit, an den Text heran gewagt. Nun ist es nicht mehr von Bedeutung, dass die Schwester in der Stadt groß geworden ist und deswegen sich zu einem bösen Luder gemausert hat. Die Schwester ist nun eine ambivalente Person, die einerseits von ihrem Bruder, dessen einzige Bezugsperson sie zu sein scheint, genervt ist, andererseits aber es auch genießt, Macht über ihn zu haben. Sie verzweifelt an dieser Situation und als die Mutter stirbt, nimmt sie die Gelegenheit wahr, um Julius mitzuteilen, dass sie ihn nicht mehr sehen will und ihn damit auch beschützen möchte, weil er ansonsten nie ein eigenes Leben führen wird. Was Julius daraus macht, kann der geneigte Leser hoffentlich irgendwann mal in einem gebunden Buch oder E-Book nachlesen.

 

Selbstversuch

Nachdem ich mir Gedanken über meine Möglichkeiten der Sprachformung gemacht habe, habe ich mich auf eine Konstante festgelegt. Johanna Sommer berichtet aus ihrer Zukunft  als Ich-Erzählerin über ihre Gegenwart und ihre Vergangenheit. Sie hat in der Zukunft die Identität der Schriftstellerin Alethea Cumberland angenommen. Aus einer möglichst subjektiven Sicht gilt es ihre Sinneswahrnehmungen, ihre Gedankengänge darzustellen. Das Leben in der Zukunft, ihre Gegenwart, wird immer auch auf die Vergangenheit verweisen. Meine ersten Schreibversuche sind nur kleine Fingerübungen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie Alethea klingen könnte, wie ihr Sprachduktus sich formen muss, um nachvollziehbar und authentisch zu wirken. Dementsprechend unausgegoren und auch oberflächlich wirken sie noch auf den Leser. Der Leser möge es mir verzeihen.

Splitter 1

Fast jeden Abend begutachte ich den Sonnenuntergang durch das Panoramafenster meiner Wohnung im dreißigsten Stockwerk. Im Hintergrund surrt die Klimaanlage. Nach Angaben des Herstellers soll sie bei konstanten zweiundzwanzig Grad Raumtemperatur mein Wohlbefinden garantieren. Schraffierte Rotschattierungen bestimmen den bedeckten Himmel. Ein heller Strahlenkranz der Sonne kriecht unter den Wolken hervor und bricht sich an den Quadern der Hochhäuser, die wie schwarze Schatten im Zwielicht liegen. Ich lebe über der Stadt, hermetisch abgeriegelt und fern des Getümmels der Maden, die schon lange die Straßen beherrschen. Eine angenehme Perspektive. Als stünde ich über den Dingen. Ein elitäres Anrecht einer erfolgreichen Frau, die von den Maden geliebt wird. Ich will nicht geliebt werden, genauso wenig, wie sich mein Wohlbefinden bei zweiundzwanzig Grad einstellt. Unser Denken hat sich in den letzten Dekaden sehr vereinfacht. Wir haben freiwillig auf wichtige Denkkategorien verzichtet. Wir haben geglaubt, unser Schmerz über unsere leidvolle Existenz verschwindet, wenn wir uns nicht mehr an ihn erinnern können. Nun reichen zu einem glücklichen Leben eine angenehme Raumtemperatur und die Selbstsuggestion einer nicht vorhandenen Zuneigung.

Splitter 2

Glas und Beton, Glas und Beton, es hämmert in meinem Kopf, niemand will es sehen, niemand will ihn hören, der Schmerz ist nur ein Schatten im Zwielicht. Unter dem Radar eines Strahlenkranzes, der den bedeckten Himmel am Ende des Tages durchbricht, liegt meine Pein, die Pein einer ganzen Generation, ein Zeitalter, das vergessen will. Ich throne und unterdrücke, eine angesehene Frau, ein Mitglied der allwissenden Elite, die aus Menschen Maden macht. Das bin ich, oben im Himmel im dreißigsten Stockwerk, starrend auf das Draußen und nach innen horchend und das Echo der Leere wahrnehmend. Alles habe ich gegeben, mein Selbst verschenkt, um nicht mehr leiden zu müssen und doch leide ich mehr als je zuvor.

 Mein Antlitz spiegelt sich in der Fensterscheibe. Ich drehe mein Profil und meine Gesichtszüge werden von denen meines Vaters überlagert. Ich nehme ein Flüstern wahr. Vielleicht meine Stimme, vielleicht die meines Vaters, wer kann das genau sagen? Ich soll berichten, wie ich zu Alethea Cumberland, die ruhmreichste, schönste und wohlhabendste Schriftstellerin aller Zeiten wurde. Das kann ich nicht berichten. Dafür beschäftige ich einen Biographen, der mein Leben besser kennt als ich. Das Flüstern nennt einen Namen: Jo Sommer. Ich kenne niemanden, der Jo Sommer heißt. Das Flüstern schärft sich mit bissigen Beiklang und jedes Wort wird zum Messer, dass mir die Seele zersticht. Lügner, Lügner, du bist Johanna Sommer. Ich trete weg vom Fenster. In der Küche hole ich mir einen Tee. Das Flüstern verschwindet.  

Splitter 3

In den Städten lasten Beton und Stahl auf den winzigen und erbärmlichen Maden mit kleinen Gehirnen. Sie verstehen einfache Befehle. Steh auf, setz dich, hol dir was zu essen, schweig, schlaf, kacke. Konditionierung eines Tieres, das einst den Namen Mensch trug.

Splitter 4

Der Tag war lang, ich bin erschöpft. Das Hetzen von einem Ort zu anderen. Meine Beine sind schwer, ich spüre sie kaum noch. Niemals können sie mich in Ruhe lassen. Dieses Spießrutenlaufen. Pressekonferenz, Autogramme geben, jeder fragt dich die immer gleichen Fragen und erwartet von dir die immer gleichen Antworten, Lesungen, Podiumsdiskussionen, belanglose Kommentare zu Scheinthemen. Wann kommt ihr nächstes Buch? Warum sind sie nicht verheiratet? Warum haben sie keine Kinder? Warum haben sie einen englischen Namen, wenn sie doch aus Deutschland kommen? Haben sie schon einmal überlegt, viel mehr Zeit in Charityprojekte zu investieren? Nein, nein, nein und nochmals nein. Die Antwort lautet immer nein, ob sie nun passt oder nicht. Dabei lächle ich und sage betont freundlich und gelassen, dass mein Buch im Winter erscheinen wird, das ich noch nicht den richtigen Mann gefunden habe, ja, schade, auch ich liebe Kinder, ich habe mir einen Künstlernamen angeeignet, weil ich die Phantasie meiner Leser anregen wollte, ich möchte mehr Zeit in meine Stiftung ‚Winterherz‘ investieren, ich habe damit sehr viele Projekte angestoßen, um Kindern aus benachteiligten Familien zu helfen. Dabei bin ich das einzige Kind, dem man helfen sollte.

 Ich bin das Kind, das sich so sehr nach Gesellschaft sehnt und dann nur die Einsamkeit bekommt. Diese verzweifelte Einsamkeit, wenn viele Menschen anwesend sind und man sie um Hilfe anbettelt, aber sie es nicht hören können und wenn man dann alleine ist, schreit man hinter dicken Wänden und draußen hört niemand das Jammern des Kindes. Nie hat das Kind erlebt, wie es ist, die Gesellschaft eines Menschen zu genießen, der dem Kind zuhört, es wahrnimmt, es schätzt und liebt und das dann alleine sein kann, ohne von seiner Angst und seinem Schmerz überflutet zu werden.

 

Nach vier Textsplittern breche ich meine ersten Schreibversuche ab. Ich bin nicht zufrieden mit den Ergebnissen. Folgende Selbstkritik drängt sich mir beim Lesen gerade der ersten Zwei Splitter auf: viel zu viel Pathos. Die Texte verlieren sich in hochtrabende Beschreibungen. Wenn ich die subjektive Sicht des Ich-Erzählers nutzen will, muss ich die Gedankengänge des Ich-Erzählers schildern. Außerdem spüre ich beim Schreiben ganz deutlich, dass es mir nicht leicht fällt, aus der Sicht einer Frau zu schreiben. Gerade der erste Textsplitter ist von einer männlichen Sachlichkeit getragen. Diesem Problem muss ich größere Aufmerksamkeit widmen. Im vierten Splitter komme ich der Sache näher. Ich bekomme ein Gefühl für Aletheas Gedankengänge. Auch merke ich, dass ich nicht linear schreiben darf. Wer aus der Erinnerung heraus seine Geschichte als Gedankengang schildert, wird nie linear beschreiben, sondern sobald seiner Erinnerung von irgendeinem äußeren Einfluss angeregt wird, taucht die passende Erinnerung auf. Das heißt nicht, dass ich die ersten Textsplitter einfach wegwerfen sollte. In Ihnen stecken wichtige Informationen über die Ich-Erzählerin. Die Menschen als Maden zu bezeichnen finde ich z.B. eine gelungene Idee.