Eintreten/ Austreten

Am Freitag bekam ich Post von Ver.di . Ich bin jetzt Gewerkschaftsmitglied. Unboxing Ver.di: in einem silbernen Umschlag, aufwändig gestylt, so wie es heute üblich ist. Auch Gewerkschaften haben heutzutage anscheinend Marketingabteilungen:

Die katholische Kirche hat sich auch bei mir gemeldet. Ein Kaplan der Domgemeinde in Wetzlar hat mich nett angeschrieben und meinen Austritt bedauert. Er wünscht sich ein Gespräch mit mir, um meine Beweggründe zu erfahren. Der Brief liegt sein drei Monaten auf meinem Schreibtisch und ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Einerseits finde ich es gut, wenn eine Person sich die Zeit nimmt und einen Brief losschickt (den er wahrscheinlich als Formbrief bei jedem Austritt benutzt), andererseits fühle ich eine noch größere Entfremdung, wenn ich diesen Brief lese, weil mir diese Gemeinde nichts bedeutet und ich vor meinem Austritt auch dieser Gemeinde nichts bedeutet habe. Ein großes Missverständnis, die katholische Kirche und ich!

Nie wieder ist jetzt

Seit ich mich mit Politik beschäftige, als seit fast vierzig Jahren, wird dieses Land regelmäßig von rechtsextremen und völkischen Populisten und Antidemokraten in die Zange genommen.

 Die rechtsextremen Hetzer und Demagogen führten ohne Unterlass ihr schäbiges Drama aus Empörung und ätzendem Hass auf. Zu schrill, zu offensiv und mit offensichtlichen Reminiszenzen an den Faschismus des dritten Reiches erreichten sie in der Vergangenheit nur die Altgestrigen und ein paar Protestwähler. Nach ein paar Erfolgen bei Kommunal- oder Landtagswahlen verschwanden sie bald wieder in der Versenkung,

 Seit dem letzten Aufflammen rechter Umtriebe in den Neunzigern schien rechtsextremes Gedankengut nur noch für durchgeknallte Springerstiefel- und Glatzenträger attraktiv zu sein. Auch wenn drei NSU-Terroristen fast zwanzig Jahre unbehelligt mordend durch die Lande ziehen konnten, gab es den einen breiten Konsens darüber, dass völkisches Gedankengut weder gesellschafts- noch mehrheitsfähig war.

 Allerdings gor im Gedärm der Republik die Sehnsucht nach einer Vergangenheit, in der das Patriachat noch die Oberhand hatte und mit einer gottgegebenen Arroganz den Rest der Menschheit mies behandeln durfte. Nach einem langen Zersetzungsprozess im Dünndarm konnte der Schließmuskel unserer Nation den gewaltigen Dünnpfiff nicht mehr halten. Und so ergoss sich die braune Soße über das Land und nannte sich die Alternative für Deutschland.

 Und nach zehn Jahren, in denen diese Partei keine Gelegenheit ausgelassen hat, um den öffentlichen Diskurs an sich zu reißen und mit ihrem einen Thema zu bestimmen, schienen sie fast am Ziel angelangt zu sein.

  Wie alle Populisten haben die seriös auftretenden Funktionäre  ängstliche und überforderte Menschen angesprochen und hinter sich versammelt. Man hat sie plappern, keifen, schimpfen und diffamieren lassen und nicht nur ihre Fans, sondern auch ihre Gegner haben sich von Ihnen beeindrucken lassen. Dabei hat man einfach vergessen, dass die Angelegenheiten der Menschen schon immer komplex und widersprüchlich und einem stetigen Wandel unterworfen waren. Weil sich die Welt tagtäglich weiterdreht, müssen alte Vereinbarungen wieder neu verhandelt werden. Kriege, Pandemien, Inflation, Transformationsprozesse und Rezessionen hat es schon immer gegeben.  Ein bestimmter Anteil der Menschen reagiert mit Angst und Schrecken auf historische Brüche. Verunsicherte Menschen stellen die perfekten Opfer für Populisten dar. Um ihren persönlichen Schmerz zu lindern, sind sie bereit, irrational zu handeln. Für das Gefühl der Sicherheit lassen sie sich gerne belügen und betrügen. Sie wollen einfach glauben, dass es jemand gibt, der die Welt wieder heile machen kann.

 Auffällig ist für mich, dass die Erzählungen der Populisten bei vielen Menschen verfangen, die sich vorher nie mit Politik auseinander gesetzt haben. Viele Bürger haben eine verzerrte Vorstellung von der Leistungsfähigkeit staatlicher Institutionen. Mir sind viele Menschen begegnet, die sich niemals eingebracht haben, die nie die Tagesschau geschaut haben, niemals eine Tageszeitung gelesen haben, die nie wählen gegangen sind, mir aber genau erklären können, was in diesem Land falsch läuft. Beim Zuhören spürt man schnell, dass es nur um sie und ihre eigenen Ansprüche geht. Viele Menschen denken nicht an das Gemeinwohl und was der kleinste gemeinsame Nenner für alle sein sollte. Errungenschaften der Sozialpolitik wie Mindestlohn und Bürgergeld schrecken Sie ab. Solche Wohltaten der Gesellschaft sind nur ihrer Ansicht da, um missbraucht zu werden. Sie selbst sehen sich als Opfer staatlicher Willkür, weil der Staat ihnen etwas wegnimmt und es anderen gibt. Es ist die gleichen Sorte Mensch, die keine Steuern zahlen will, aber über die Schlaglöcher motzt. Gingen frühere Gesellschaftstheorien nicht davon aus, dass der Bürger seinem Willen den Allgemeinwillen unterordnet, um von der Allgemeinheit Schutz zu bekommen und in Freiheit leben zu können? Man könnte fast annehmen, dass für viele Menschen der Gesellschaftsvertrag nie existiert hat.

 Wenn alte Gewohnheiten und Besitzstände in Frage gestellt werden, sei es die Macht, die Bequemlichkeit, den qualmenden Verbrenner oder das Schnitzel, werfen die Populisten ihre Netze aus. Die beharrliche Leugnung der Wirklichkeit, die vom einer Umwelt- und Klimakatastrophe, ungerecht verteiltem Wohlstand und daraus resultierenden Fluchtbewegungen dominiert wird, kann man nur mit einem gemeinsamen Feindbild aufrechterhalten. Viele Menschen, die sich selbst höchstens als konservativ aber nicht als rechts- rechtsextrem bezeichnen, teilen mit der AFD und dem rechten Milieu die Feindbilder: selbstbewusste Frauen, queere Menschen, Migranten, junge Menschen, die sich für den Schutz der Umwelt einsetzen usw. Ob sie jetzt oder später die AFD wählen ist egal, aber sie stellen Wählerpotential für Populisten dar. Solange die Diskurse am Brodeln sind, trifft man alle in den sozialen Medien an und lässt sie munter zu einer einzigen Bubble verschmelzen. Schon kann eine Partei alle, die ihre Überzeugungen teilen, in dem Glauben bestärken, entweder in der Mehrheit zu sein oder Opfer der gegenwärtigen Mehrheitsgesellschaft zu sein, die von den Mächtigen gegen sie aufgehetzt wird. Man kann sich gegenseitig in diesem Status bestätigen und sich bestärken. Plötzlich ist man ein Held, ein Märtyrer, der nichts anderes macht, als von der heimischen Couch aus als Soldat im Meinungskrieg für die gerechte Sache zu kämpfen.

 Die blaue Pest hat mittlerweile eine Relevanz erreicht, die viele Bürger hat glauben lassen, dass sie uns spätestens nach den Landtagswahlen im Sommer hinraffen wird.

 Die wirkliche Mehrheitsgesellschaft ist endlich aufgewacht. Vielleicht zu spät! Das konspirative Treffen einiger Rechtsideologen, die sich in gediegener Kulisse über die Ausweisung deutscher Staatsbürger unterhalten hat, hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Anders kann ich es mir nicht vorstellen, denn wir haben in den letzten Jahren so viele Angriffe auf unsere Demokratie erlebt und nicht sonderlich gezuckt. Aber jetzt sind wir endlich wieder alle Antifaschisten und vereinen uns hinter dem Artikel eins des Grundgesetzes.

 Meine Familie und ich haben in den letzten zwei Wochen an zwei Demonstrationen gegen die AFD teilgenommen. Wir sind nicht zum ersten Mal auf Demonstrationen gegen rechte Umtriebe gewesen und im Privatleben sind wir es gewohnt, Stellung gegen rechtes Gedankengut zu beziehen. Leider mussten wir in den letzten Jahren immer wieder feststellen, dass die AFD-Thesen auch bei manchen Menschen in unserem weiteren Umfeld salonfähig geworden sind. Ich habe diese Leute immer reden lassen, sie höchstens gemieden oder ignoriert.

 Und ich gebe zu, hinter jungen Menschen herzulaufen, die eine Fahne schwenken und Alerta, Alerta, Antifaschista rufen, gibt mir ein gutes Gefühl. Ich wähne mich auf der richtigen Seite. Es ist ein trügerisches Gefühl. Vor drei Wochen haben sich in Gießen 13000 Menschen versammelt und letzte Woche in Wetzlar 5500 Menschen. Die sehr emotionalen Redebeiträge in Wetzlar auf der Bühne haben viele Demonstranten nachdenklich gestimmt. Aber solche Demonstrationen können die Situation nicht retten. Sie dienen höchstens der Selbstbeschwichtigung. Man vergewissert sich gegenseitig, dass eine große Mehrheit der Menschen nicht in einer antidemokratischen Gesellschaft leben möchte, die nur auf Angst und Ausgrenzung beruht. Und trotzdem müssen wir uns fragen, wie wir die Demokratie wieder für Menschen attraktiv machen können, die schon fast verloren sind, weil sie zwar im gleichen Land aber in einer ganz anderen Welt leben. Die oben beschriebenen Typen oder Gruppen werden sich nicht von Demonstrationen beeindrucken lassen. Im schlimmsten Fall sehen sich bestätigt und bestärkt und drehen erst recht auf. Der positive Effekt, die die Demonstrationen zweifellos hatten, wird schnell verpuffen, wenn nicht alle gesellschaftlichen Kräfte, sich hinter dem Grundgesetz, den Menschenrechten und der Demokratie versammeln und endlich ein positives Gegenbild zu der schlechtlaunigen und bräsigen völkischen Ideologie zeichnen. Wenn wir das nicht schaffen, wird bald nie wieder jetzt sein. 

Austreten – Eintreten / Teil drei

 Nachdem ich bei der Musterung als wehrtauglich eingestuft wurde, hätte ich nach der Ausbildung meinen Wehrdienst antreten müssen. Schon vor der Ausbildung hatte ich den Entschluss gefasst, zu verweigern. Anfang der Neunziger Jahre hat man schon mit wenig Aufwand den Kriegsdienst verweigern können. Man musste einen Aufsatz einreichen, in welchem man seine Gründe für die Verweigerung darlegte. Es gab ausreichend Vorlagen, die die geforderten Formulierungen enthielten und die in der Szene der angehenden Kriegsdienstverweigerer zirkulierten.  Man berief sich auf sein Gewissen, das einem untersagte, eine Waffe gegen andere Menschen zu richten. In diesem Falle war das Gewissen eine eigene Persönlichkeit, die den jungen potentiellen Rekruten quasi paralysierte, wenn er mit einer Waffe auf einen anderen Soldaten zielen wollte. Eine Verweigerung aus anderen Gründen war möglich, aber nicht gewünscht. In der stockkonservativen Welt der atomaren Abschreckung kam es nicht gut, wenn man aus weltanschaulichen Gründen verweigerte. Das war den Gremien zu kompliziert. Einmal im Leben hatte man die Chance in einem nonkonformistischen Akt der Gesellschaft den Stinkefinger zu zeigen und dann musste man doch wieder opportun sein und schön brav den Anforderungen der Gesellschaft gerecht werden.

 Anstatt meinem Gewissen etwas abzuverlangen, was es gar nicht leisten konnte, hätte ich mich viel lieber offiziell dem Soldatentum verweigert. Ich wollte keine Uniform überstreifen, irgendwelche stumpfen Befehle ausführen und den letzten Rest meines menschlichen Verstandes bei jeder Gelegenheit in billigen Flaschenbier ertränken. Das war nicht meine Welt: Kameradschaft, Herumbrüllen, Korpsgeist, im Schlamm kriechen. Ich war ja eher ein Feingeist, sensibel und schüchtern.

 Ich wollte der Bundeswehr mich nicht zumuten. Da gab es genug Altersgenossen, die viel besser dort aufgehoben waren, weil sie sich mit nackten Oberkörper grunzend im Schlamm und Testosteron wälzen und dabei den Helden spielen wollten.

 Aber ich schrieb brav den Aufsatz und schickte ihn weg.

 Meine Anerkennung kam und bald darauf der „Einberufungsbefehl“ zum Zivildienst und ich musste mir eine Stelle suchen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Plätze für Zivildienstleistende rar. Da mein Bruder zwei Jahre vorher schon eine Stelle als Gemeindezivi in der katholischen Kirche ergattert hatte, habe ich mich beim Bistum Limburg beworben. Man hat mir die Stelle gegeben und im Sommer 1993 konnte ich in der katholischen Gemeinde St. Walburgis in Niedergirmes meinen Zivildienst antreten.

 Niedergirmes hat sich in den letzten hundertfünfzig Jahren vom kleinen Dorf in der Nähe von Wetzlar zum klassischen Arbeitervorort entwickelt. Viele Gastarbeiter hatten sich dort angesiedelt und sich neben der Ursprungsbevölkerung etabliert. Der Stadtteil hatte damals einen sehr schlechten Ruf, der z.T. auf  rassistischen Vorurteile gegenüber Gastarbeiter beruhte. Neben diesen zwei Bevölkerungsgruppen gab es noch eine starke Gruppe der Flüchtlinge, die nach dem zweiten Weltkrieg nach Wetzlar kamen, zumeist aus Schlesien, Spätaussiedler aus Polen inbegriffen. Dazu kamen in den Neunziger Jahren neue Flüchtlinge aus der Türkei, Jugoslawien, Afrika und Asien. Die Flüchtlinge lebten im wahrsten Sinne am Rande der Gesellschaft. Ihre Unterkünfte befanden sich zwischen verkehrsreichen Ausfallstraßen und dem Buderuswerken. Niemand nahm Notiz von den Flüchtlingen. Sie lebten in abbruchreifen Häusern, in denen ansonsten niemand mehr wohnen wollte.

 Meine Aufgaben als Gemeindezivi waren sehr vielfältig. Ich sollte mich um ältere Gemeindemitglieder kümmern, sie zu Hause besuchte, ihnen Gesellschaft leisten oder mit ihnen einkaufen gehen.

 Die Arbeit mit Flüchtlingen war relativ neu hinzugekommen und umfasste Besuche der Flüchtlingsunterkünfte, Unterstützung der Flüchtlinge im Alltag, bei Behördengängen und ähnlichem. Die Flüchtlingsarbeit war in der Gemeinde umstritten. Bischof Kamphaus, der mich ein paar Jahre zuvor gefirmt hatte, war mittlerweile zu einer der wenigen kritischen Stimmen innerhalb der katholischen Amtskirche herangewachsen. Zu diesem Zeitpunkt waren deutsche Bischöfe konservative Erfüllungsgehilfen des Stellvertreter Gottes auf Erden. Bischof Kampfhaus war eine Ausnahme. Kamphaus war z.B. der einzige Bischof in Deutschland, der die Beratung von abtreibungswilligen Schwangeren entgegen der Anweisung vom Papst weiter durchführen ließ.

 Zu dieser Zeit war die Stimmung gegenüber Flüchtlingen sehr aufgeheizt. Für viele Menschen und auch Politiker war Flüchtlinge keine Menschen die Schutz brauchten, sondern Asylanten, die in die Sozialsysteme einwanderten und ihren Status als Flüchtlinge missbrauchten, um die Deutschen und ihren tollen Sozialstaat auszunutzen. Damals brauchte es keine AFD, um die Stimmung anzuheizen. Rassismus war Staatsräson. In Hessen gab es CDU-Politiker wie Manfred Kanther (der zu der Zeit Bundesinnenminister war), die Positionen einnahmen, die heute von der AFD vertreten werden. Sogar die SPD hat sich damals nicht mit Ruhm bekleckert, denn als es darum ging, den Asylanten endlich in Schranken zu weisen, in denen man sie schlechter stellte als einen „deutschen“ Sozialhilfeempfänger, stimmte die SPD im Bundestag für das Asylbewerberleistungsgesetz.

 Diese Stimmung gegen Flüchtlinge beherrschte auch den Diskurs innerhalb der katholischen Gemeinde in Niedergirmes. Es gab viele Gemeindemitglieder, die diese Arbeit mit Nichtchristen als unnötig betrachteten und das obwohl viele dieser Menschen selbst die Ausgrenzung als Flüchtling eine Generation früher erlebt hatten. Von dieser Seite bekam ich immer wieder Druck. Dazu kam, dass mein Vorgesetzter, der Priester der Gemeinde, ein ehemaliger Militärpfarrer war.

 Das erste Gespräch mit ihm begann mit der Frage, ob ich wisse, dass er Militärpfarrer gewesen sei. Nach einer kurzen Pause fügte er noch hinzu, dass ich mir ja dann vorstellen könne, was er von mir und meiner Tätigkeit hielte.

 Also hatte ich den Bischof auf meiner Seite und seinen Angestellten und seine Gemeinde gegen mich. Ich war jung, naiv und nahm diese Ablehnung sehr persönlich. Später habe ich begriffen, dass Engagement heißt, im Sturm gegen den Wind anzurennen. Wenn man etwas bewegen will, muss man sich sein Freunde und Feinde erst einmal verdienen.

 Ich habe in der Gemeinde sehr liebe Menschen gefunden, die mich unterstützt haben und die dafür gesorgt haben, dass ich mich auch über weite Strecken sehr wohl fühlen durfte. Ich bin vielen interessanten Menschen begegnet. Ich habe durch diese Arbeit viel über mich und den Menschen an sich gelernt. Die Betreuung durch das Bistum Limburg war einmalig. Es gab jeden Monat ein Treffen der Gemeindezivis, wir hatten zwei wunderbare Seminarwochen und dort habe ich echte Freunde gefunden. Ein Freund aus dieser Zeit ist mir bis heute geblieben. Christian war damals Zivi in Dillenburg und hat nach dem Zivildienst Philosophie, Mathematik und ich glaube Theologie in Siegen studiert und in Philosophie promoviert. Wir sehen uns heute noch mindestens einmal im Jahr und wir haben neben der Philosophie die Leidenschaft für Literatur, das Rauchen von Pfeifen und Zigarren miteinander gepflegt und alleine schon wegen dieser Freundschaft möchte ich die Zeit als Zivildienstleistender nicht missen.

   Durch diese Erfahrung hat sich meine Haltung zur katholischen Kirche zum Positiven geändert. Auch wenn es viel Gegenwind gab, habe ich doch viele Menschen kennengelernt, die weniger die Kirche als Ort gesehen haben, an welchem sie ihren Glauben ausleben können, sondern als gesellschaftliche Institution, die Schwächeren, ungeachtet ihrer Herkunft und ihrer Religion, Unterstützung und Hilfe anbietet. Diese Menschen rückten für mich in den Vordergrund und ließen mich fast dreißig Jahre lang an einen gesellschaftlichen Nutzen der Kirche glauben.

 Die Zeit verging schnell. Ich heiratete eine Katholikin, bekam mit ihr zwei Kinder, die wir taufen ließen. Die Ehe scheiterte und es kam zur Scheidung. Dann lernte ich meine jetzige Frau kennen, die ungetauft ist und noch nie einer Kirche angehört hat. Ich selbst bezeichnete mich mittlerweile als Agnostiker, der die Existenz Gottes nicht als Maßstab für sittliches Handeln sieht, sondern versucht, ein richtiges Leben im falschen zu führen. Obwohl meine Frau und ich in solchen Dingen ähnlich ticken, gibt es zwischen uns beiden einen großen Unterschied. Ich bin nun einmal in der katholischen Kirche groß geworden und hänge mehr an ihren Ritualen, als ich mir eingestehen will. Eine gesetzliche Scheidung hat in der Kirche keine Wirkung und sie straft mich mit Ausschluss von den Sakramenten. Ich hätte nicht gedacht, dass ich diesen armseligen und lächerlichen Anachronismus ernst nehme. Die Kirche schließt Menschen aus, die einen Spagat zwischen Religion und weltlichem Leben hinbekommen wollen. Ich habe mich dem widersetzt, indem ich trotzdem zur Kommunion gegangen bin. Seltsamerweise habe ich mich danach unendlich schlecht gefühlt. Ich habe dann darüber Witze gemacht. Wenn ich die Hostie in den Mund nähme, träfe mich vielleicht der Zorn Gottes in Form eines Blitzes, der mich dann niederstreckt. Die frühe Begegnung mit den Riten der Kirche hat mich mehr beeinflusst als mir lieb war. Dieses miese Gefühl habe ich viele Jahre mit mir herumgeschleppt und jeder, der mich gefragt hat, warum gerade ich noch in der katholischen Kirche bin, bekam zur Antwort, dass ich nun einmal katholisch erzogen sei und ich im Zivildienst eine lebensnahe Kirche erlebt habe. Ich habe auch immer von Bischof Kamphaus und seinem Engagement geschwärmt. Meine Hoffnung war, dass dieser Typus Mensch irgendwann in der katholische zu Macht gelangt, um sie zu reformieren.

 In den letzten Jahren ist viel passiert, aber die Katholische Kirche trotzt allen Reformen. Wir haben einen deutschen Papst bekommen, der noch konservativer war als sein konservativer Vorgänger. Bischof Kamphaus hat man durch einen geltungssüchtigen und scheinfrommen Bischof ersetzt, der viel Geld für Dienstwagen und eine Residenz ausgegeben hat und dann auch schnell wieder gehen musste. Der fürchterliche Missbrauch vieler Kinder und Jugendlichen durch Priester kam ans Tageslicht und damit die Erkenntnis, dass die katholische Kirche ein eigener Staat im Staat ist, der aber gerne die weltlichen Kirchensteuern und Subventionen vom säkularen Staat kassiert.

 Aber auch das habe ich jahrelang beobachtet und daraus keine Konsequenzen gezogen. Im Gegenteil: ich habe die Gemeinschaft der katholischen Christen noch verteidigt, weil ich mich an die Hoffnung auf Reformen klammerte. Als ich zum ersten Mal vom synodalen Weg gehört hatte und dem Ansinnen einiger deutscher Bischöfe bedeutsame Reformen in der Kirche anzustoßen, habe ich gedacht, dass jetzt eine Veränderung kommt, die mein Beharrlichkeit rechtfertigt. Man hat lange und viel miteinander diskutiert und in Rom hat man die Bemühungen einfach abgetan. Man will keine zweite evangelische Kirche sein. Die katholische Amtskirche möchte der exklusive Club alter Männer im Rock bleiben, die ihre unverständlichen Riten bis zum Ende aller Zeiten pflegen wollen, entgegen den Menschen und ihre Belange.

 Dann war ich dieses Jahr auf einer Gewerkschaftsveranstaltung zum 1. Mai und musste erleben, wie Rechte von AFD, NPD und Querdenkern die Redner niedergebrüllt haben. Man konnte sich nur schwer dem Hass und der Hetze entziehen. Wir haben uns machtlos gefühlt.

 Das hat in mir einen Denkprozess angestoßen. Warum unterstützte ich einen menschenverachtenden, undemokratischen Club wie die katholische Kirche, wenn auf der anderen Seite unsere Demokratie und ihre Vertreter von undemokratischen Schreihälsen in Frage gestellt werden. Dann stand der Entschluss fest: nach zweiundfünfzig Jahren verlasse ich die katholische Kirche und trete in die Verdi ein…wahrscheinlich viel zu spät…aber hoffentlich noch rechtzeitig.

Austreten – Eintreten / Teil zwei

Während der nächsten Jahre hielt ich mich von katholischen Messen fern und während der Pubertät weitete sich mein Horizont. Es gab bei uns im Ort eine große evangelische Gemeinde. Die evangelische Kirche vermittelte eine zeitgemäße und lockere Haltung zum christlichen Glauben. Es gab Pfarrer und Pfarrerinnen, die auch noch eine Familie hatten, coole Jugendbetreuter und Konfirmationsfreizeiten, die eher Klassenfahrten glichen. Viele meiner Altersgenossen hatten ein entspanntes Verhältnis zur Religion. Die Konfirmation war eher der Tag des ersten Vollsuffs als der Tag der religiösen Erweckung.

  Zwischen dem dreizehnten und siebzehnten Lebensjahr gab es für uns Jungs nur drei Themen: Fußball, Alkohol und Mädchen. Man traf sich mit Freunden auf den Spielplatz, um sich bei Flaschenbier gegenseitig die Säcke vollzumachen. Mitte der Achtziger schien auch das Leben der Erwachsenen nur aus Arbeit und Konsum zu bestehen. In dieser Welt war wenig Platz für die großen Fragen. Über Politik und Religion sprach man selten. Es waren wilde Zeiten: Aids, Tschernobyl, Startbahn West, Nato-Doppelbeschluss, Kalter Krieg, Hunger in Äthiopien. Alle das schien auf einem anderen Planeten stattzufinden. Falls unsere Eltern mit anderen Erwachsenen über das Weltgeschehen sprachen, dann in kleinen konspirativen von Zigarettenrauchnebel umwobenen Zirkeln, bei einem frisch gezapften Bier, beim Sport und in der Kneipe.

 Meine Eltern sind misstrauische und unsichere Persönlichkeiten, deren Gläser eher halb  leer als halb voll sind. Ihnen ein ausgeprägtes politisches Bewusstsein zuzuschreiben, wäre zu weit gegriffen. Aber sie hatten eine konkrete Vorstellung vom mündigen Bürger, der sich gefälligst mit Politik auseinander zu setzen hatte. Aufgrund ihrer Bildungshistorie war es auch nicht zu erwarten, dass es Ihnen einfach fiel, sich komplexes Hintergrundwissen über das Weltgeschehen anzueignen. Mein Vater ging nach acht Jahren Volksschule in die Lehre und meine Mutter hatte nach der mittleren Reife eine kaufmännische Ausbildung gemacht. Sie waren nicht in der Lage als zur Verfügung stehenden Informationsquellen anzuzapfen, aber sie vermittelten mir, dass man mit wachen Blick die Geschehnisse in der Welt wahrnehmen muss. Meine Eltern schauten abends die Nachrichten im Fernsehen, lasen morgens beim Frühstück die Tageszeitung, im Hintergrund liefen im Radio die Nachrichten. Meine Eltern lasen zudem den Stern und später auch den Spiegel.  

 Zum Erwachsenwerden gehörte bei uns in der Familie die politische Diskussion am Küchentisch. Je älter ich wurde, je mehr ich meine eigene politische Meinung entwickelte und artikulieren konnte, desto hitziger wurden die Debatten am Küchentisch. Mein Vater hätte sich nie einer politischen Richtung zugeordnet. Er wusste, was er nicht sein wollte: Rechts. Meine Eltern sind Demokraten durch und durch und sie hätten es nie geduldet, wenn ich rechte Tendenzen gezeigt hätte. Meine linken Tendenzen konnte sie aushalten, aber nur unter Schmerzen. Die Sozis waren nur geduldet. Sie nahmen es der SPD übel, dass sie gerne ihnen, die hart für ihren Wohlstand arbeiten mussten, Geld durch Steuererhöhungen wegnahmen, um es für soziale Wohltaten zu verwenden. Dort beim Mittagessen, am Frühstückstisch in der Diskussion mit meinem Vater, habe ich gelernt zu diskutieren, andere Perspektiven anzuerkennen oder meine Meinung mit Argumenten zu untermauern. Ab dem neunten Schuljahr entwickelte ich mich zum Klugscheißer. Ich wollte jede Debatte gewinnen. Also eignete ich mir Wissen an, versuchte historische Kontexte zu erfassen, sie einzuordnen und zu vergleichen. Ich habe bei meinen Eltern gesehen, dass sie zwar intuitiv sich eine Meinung bilden konnten, aber sehr leicht zu manipulieren waren. Für meine Generation war der Erwerb von Wissen kein Luxus mehr. Politische Bildung war ab der achten Klasse Teil des Schulunterrichtes. Leider haben nicht alle meine Altersgenossen ihren Vorteil erkannt. Das Ideal der Aufklärung hatte sich in den siebziger und achtziger Jahren vollkommen entfaltet, wurde aber gleichzeitig vom Ideal des Kapitalismus überstrahlt. Für viele meiner Altersgenossen stand der zügellose Konsum im Vordergrund und Wissen war nur etwas für picklige und hässliche Spinner. Man kokettierte gerne mit seiner Unwissenheit und stempelte Menschen, die freiwillig in ihrer Freizeit Bücher lasen, als Langweiler ab.

 In unserer Schule gab es doch einige Lehrer, die in den späten Sechzigern, frühen Siebzigern studiert hatten und an denen die Studentenbewegung nicht spurlos vorbeigegangen war. Mein Deutschlehrer war so ein Mensch: ein Hüne, der stets schwarze Rollkragenpullis, lange fettige Haare und einen Rauschebart trug. Er war streng, zynisch und elitär. Aber immer darauf bedacht in großen Zusammenhängen zu denken. Ich hatte keine guten Noten in Deutsch, blühte trotzdem völlig bei ihm auf. Dieser Lehrer wurde zu meinem großen Vorbild, da er anscheinend alle existierenden Bücher gelesen und verstanden hatte und ein Charisma besaß, das nicht nur mich inspirierte

 Spätestens beim Übergang zur Oberstufe hatte ich Blut geleckt. Ab der elften Klasse war ich Stammgast in der Schulbibliothek und begann philosophische Texte zu lesen. In vielen Dingen war ich Autodidakt. Ich war verdammt schüchtern und unfähig, mir jemanden zu suchen, der mir etwas beibringen konnte. Ich weiß nicht mehr, wie ich an Camus geraten war und ich weiß auch nicht mehr, warum ich glaubte, „Das Sein und das Nichts“ von Sartre lesen zu müssen. In der elften Klasse habe ich mich anfangs noch mit Descartes und Rosseau auseinander gesetzt. Es kann aber auch sein, dass ich damals schon Karl Jaspers gelesen hatte, der mir mit der „Philosophie der Weltanschauungen“ den Weg gewiesen hat und das ich über ihn an die Existenzialisten geraten war.

 Während der ganzen Schulzeit besuchte ich den katholischen Religionsunterricht. Ich hatte dort immer gute Noten und viele Themen haben mich auch interessiert. Schon damals hat man sich im Unterricht mit den anderen Weltreligionen auseinander gesetzt. Das fand ich äußerst spannend, hatte ich doch während meiner Kindheit in der Kirche vermittelt bekommen, dass der Katholizismus den einzig wahren Glauben darstellte. Schließlich hat Gott ja den Christen seine Botschaft verkündet und nicht den anderen. Im säkularen Religionsunterricht lernte ich genau das Gegenteil. Alle Religionen waren gleichwertig. Die Wahrheit an sich gab es nicht. Die Existenz Gottes war wissenschaftlich nicht beweisbar. Glauben war relativ und Religion versuchte nur einen Rahmen für den Glauben an einen oder mehrere Götter zu geben.

 In der zwölften Klasse übernahm ein Lehrer den Religionsunterricht, der mich die nächsten Jahre sehr stark beeinflusste. Wie ich später erfuhr, wollte er in seinen jungen Jahren Priester werden, hatte aber Schwierigkeiten mit dem Zölibat, lernte seine Frau kennen, zog mir ihr drei Kinder auf und wurde Religionslehrer. Er war der erste Mensch mit dem ich leidenschaftlich über Religion und Philosophie diskutieren konnte. Er empfahl mir Hans Küngs „Existiert Gott?“ zu lesen. Das Buch hatte ich verschlungen. Zu der Zeit gehörten auch die verschiedenen Philosophierichtungen zum Lehrplan in Religion. Ich hielt mich für einen Experten auf dem Gebiet. Obwohl mein Wissen aus heutiger Sicht eher als laienhaft zu bezeichnen war, hatte ich mir mit meinen vorlauten Wortbeiträgen die Aufmerksamkeit meines Lehrers bekommen. Ich kam auch nachdem Unterricht mit ihm ins Gespräch. Bis zum Abitur und darüber hinaus gab es mehrere private Treffen, die nur dazu dienten, sich über Religion, Kirche und Philosophie auszutauschen. Ich fühlte mich in dieser Zeit phantastisch. Ich blühte sozial wie intellektuell auf und hatte meine Bestimmung gefunden. Ich war der nervende Klugscheißer, der stundenlang über ein Thema referieren konnte, dabei eine Zigarre rauchte, seine Nase in eine Menge edlen Whiskey tunkte und aufgeputscht von seinen eigenen Thesen die Welt durchdrang.

 Mein mündliches Abitur legte ich im Fach Religion ab. Ich sollte den Freiheitsbegriff im Christentum und im Existenzialismus vergleichen. Ich hatte mich einigermaßen tapfer geschlagen und bekam zwölf Punkte. Damals merkte ich schon, dass mein Autodidaktentum mich schnell an meine Grenzen brachte und da ich finanziell unabhängig von meinen Eltern sein wollte, begann ich nach dem Abitur anstatt eines geisteswissenschaftlichen Studiums eine Ausbildung bei der ortsansässigen Sparkasse.

 Ich hätte gewarnt sein sollen, als mein Vater mich dafür lobte, dass ich doch jetzt so eine tolle Ausbildungsstelle bekommen hätte.

Austreten – Eintreten / Teil eins

Ich habe es getan: Ich bin aus der katholischen Kirche ausgetreten. Mit einer einfachen Unterschrift auf einem Tablet habe ich meine Mitgliedschaft bei diesem Verein beendet. Ich hätte nicht erwartet, dass es mir letztendlich doch so einfach fällt.

 In meinem Umfeld gibt es einige Menschen, die keinerlei Beziehung zu einer Religionsgemeinschaft haben, andere sind einer Religionsgemeinschaft angehörig, ohne die Religion auszuüben und wiederum andere haben einen engen Bezug zu ihrer Religion.

 Ich gehöre zu keiner dieser Gruppen. Mein Verhältnis zur Religion war seit meiner Kindheit nie eindeutig, eher verschwommen, schwer zu umschreiben, voller Ambivalenzen.

 Obwohl meine Eltern wenig Bezug zur katholischen Kirche haben, bin ich katholisch erzogen worden. In der Generation meiner Eltern hatte die Zugehörigkeit zu einer christlichen Religion noch eine andere Bedeutung. Sie war Zeichen von Zugehörigkeit und diente viel stärker der sozialen Kontrolle. Meine Mutter ist Protestantin. Hier in Mittelhessen ist die evangelische Kirche seit Jahrhunderten die mitgliederstärkste Religionsgemeinschaft. Erst nach dem Krieg mit der Ankunft vieler Flüchtlinge aus dem Osten (Schlesier und Sudetendeutsche) bekamen die kleinen katholischen Gemeinden starken Zuwachs. In Wetzlar gibt es alleine vier katholische Kirchen, die nach dem zweiten Weltkrieg gebaut wurden (St. Markus, St. Walburgis, St. Bonifatius, St. Elisabeth). Mein Vater ist Sudetendeutscher und katholisch. Meine Eltern haben in den späten sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts geheiratet und laut der Familienlegende war die Heirat aufgrund der Herkunft meines Vaters nicht unumstritten. In der Regel stimmen Priester einer Eheschließung nur zu, wenn man verspricht, die Kinder aus der Ehe im katholischen Glauben zu erziehen. Meine Eltern hätten sich an das Versprechen nicht halten müssen. Aus irgendeinem Grunde haben sie sich verpflichtet gefühlt und so wurde ich katholisch getauft, ging ich mit acht Jahren in den Kommunionsunterricht und musste 1981 am weißen Sonntag zum ersten Mal vom Leib Christi naschen. Ich habe noch sehr deutliche Erinnerungen an diese Zeit. Erst einmal war der Kommunionsunterricht wider Erwarten sehr lehrreich. Ich hatte zum ersten Mal Kontakt mit der christlichen Lehre und den Geschichten aus dem neuen Testament. Wir hatten einmal in der Woche Unterricht bei einem Ehepaar, das bei uns in der Straße wohnte, liebevoll mit uns umging und darauf achtete, uns die Inhalte kindgerecht näher zu bringen. Ende der Siebziger Jahr war das nicht selbstverständlich, schließlich galt die katholische Kirche schon immer als konservative und rückwärtsgewandte Institution. Die Widersprüche zwischen Außenwirkung und innere Haltung erkannte ich schon früh. Die Gemeinde St. Markus war relativ jung und man hatte gerade ein neues modernes Gotteshaus errichtet. Ein schicker niedriger Bau, ohne Kirchturm und mit viel Sichtbeton. Der Priester dagegen war ein eigensinniger, distanzierter und emotionsloser Hirte, der bei der Messe mit dem Zeigefinger seine Schäfchen abzählte. Ihm war es sehr wichtig, dass ihm keines seiner Schäfchen abhandenkam. Schließlich waren die Verlockungen der Moderne zu groß. Die Schäfchen waren nicht frei von Sünde und konnten jederzeit den Versuchungen erliegen.

 Im Kommunionsunterricht lernte ich früh, dass in der christlichen Lehre der Begriff der Nächstenliebe eine zentrale Bedeutung hatte. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Jesus war ein Vorbild, selbstlos, ohne Allüren, ein einfacher Mensch, der sich um die sozial Schwachen kümmerte und selbst nur der Sohn eines Zimmermanns war. Dagegen stand der Prunk und die Hierarchie in der Amtskirche, alte Männer im Rock, die mit alten Ritualen und Dogmen die Gläubigen an die Kirche zu fesseln versuchten. Die Messe am Sonntag dauerte bis zu zweieinhalb Stunden, davon verbrachte man fast die Hälfte auf Knien und in Büßerhaltung. Die Predigt, die ganzen Sprüche und Formeln klagen hohl und unverständlich. Ich hatte die Messe als eine Veranstaltung des schlechten Gewissens erlebt. Als armer, schwacher Mensch, musste man jede Sekunde seines Lebens auf der Hut vor sich selbst sein. Daher hatte ich auch unheimlich Angst vor der ersten Beichte. Wer ein Sakrament erhält, muss vorher beichten. Ein zehnjähriger, der erklären muss, dass er unkeusche Gedanken hat, seine Eltern nicht ehrt und lügt und betrügt, wenn er die Hausaufgaben nicht macht, kann sich nicht frei fühlen und ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln.

 Die Feier meiner Erstkommunion war für mich die Hölle, ich war unsicher, fühlte mich verloren und sie endete damit, dass ich Windpocken bekam. Während meine Familie und meine Verwandten feierten, lag ich im Bett und wurde von Fieberträumen geplagt.

 Mit zwölf Jahren habe ich das nächste Sakrament erhalten: die Firmung. Wieder gab es Unterricht und in Vorbereitung zum Sakrament die obligatorische Beichte. Seit Jahren erduldete ich nun die langweiligen Messen, das falsche Pathos, die gesalbten und heiligen Bewegungsabläufe, einstudiert und einzementiert in die Ordnung einer Amtskirche, die wenig Spielraum für Abweichung zulässt. Ich hoffte mit der Firmung von der Verpflichtung, Sonntagsmessen besuchen zu müssen, befreit zu werden. Ich konnte die Messdiener, Ihr Gebimmel, ihre gewichtigen Schritte, ihre Verbeugungen, ihr stundenlanges Verharren auf den Knien und das arrogante, ausdruckslose Gesicht des Priesters, das Erheben der Hostie, das Nippen am Kelch, das unheimlich affektierte Abtupfen seiner Lippen nach dem Genuss des Blutes Christi, das Weihrauchgedöns und seine unheimlich tristen und von Phrasen durchseuchten Predigten nicht mehr länger ertragen. Ich sehnte mich nach dem Tag der Firmung, weil es meine letzte Messe sein sollte und ich bald jeden Sonntagmorgen ausschlafen konnte.

 Die Firmung war bei weitem nicht so feierlich wie die Erstkommunion. Es wurden nicht alle Verwandten vorgeladen, keine großen Geschenke verteilt und man erwartete nicht, dass wir uns in dunkle Samtanzüge oder weiße Spitzenkleidchen zwängten.

 Die Firmung wird vom Bischof vorgenommen. In unserem Falle war das Bischof Franz Kamphaus. Wetzlar gehört zum Bistum Limburg. Der Dom in Limburg an der Lahn ist vielen Menschen außerhalb Hessens bekannt, weil er bis 1992 auf der Rückseite des 1000 DM-Scheines zu sehen war. Franz Kamphaus hatte sein Amt noch nicht lange inne und viele haben ihn damals in der der Messe als sehr zugewandt und freundlich erlebt. Er schien frischen Wind in das Bistum zu bringen und die Gemeindemitglieder schienen erleichtert zu sein, dass er menschlich und nahbar wirkte. Der frische Hauch der durch den Kirchraum wehte und den Weihrauchmief vertrieb, nahmen sogar wir Firmlinge wahr.

 Trotzdem war für mich mit der Firmung die Angelegenheit erledigt. Ich wollte nichts mehr mit dieser Zwangsgemeinschaft der Christen zu tun haben.

Du bist so dünn! Hast du Krebs?

Es gibt manchmal Begegnungen mit Menschen, die mich fassungslos und irritiert zurücklassen. Leider ist mir das in letzter Zeit mehrfach passiert.

 Meine Geschichte fängt aber viel früher an:

 Von Natur aus bin ich ein langer dürrer Spargel. Das hat sich im Laufe der Jahre geändert. Stress, Frust und viel schlechte Laune ließen meinen Bauch heftig anwachsen. Fettes Fleisch, fettige Pommes, fettige Chips und Schokolade dominierten lange Jahre meinen Speiseplan und haben dafür gesorgt, dass ich mir meine Sorgen schönfressen konnte.  

 Dann kamen mit Mitte vierzig die ersten Anzeichen gesundheitlicher Beeinträchtigung. Mein Blutdruck war schon leicht erhöht. Bei körperlicher Anstrengung habe ich übermäßig geschwitzt und nach Luft geschnappt. Dazu kamen undefinierbare Verdauungsprobleme. Dann haben sie mir meine Gallenblase herausoperiert. Das viele Fett überforderte dieses kleine Organ und hatte es beinahe zum Platzen gebracht. Ich wusste, wenn ich jetzt nichts unternehme, schädige ich auch viel wichtigere Organe. Die Aussicht auf ein verkürztes Leben mit vielen Medikamenten und Krankenhausaufenthalten hat bei mir zu einem Sinneswandel geführt.

Ich habe das Joggen für mich entdeckt, meine Ernährung konsequent umgestellt und innerhalb von zwei Jahren 25 Kilo abgenommen. Jetzt bin ich wieder ein schlanker Spargel, fühle mich topfit und vor allem bin ich vollkommen gesund. Die dazugewonnene Lebensqualität hat mich selbst völlig überrascht.

 Menschen, die mich längere Zeit nicht gesehen haben, haben mich auf die Veränderung meines Erscheinungsbildes angesprochen. Durchaus neugierig hat man mich gefragt und sich mit mir gefreut, dass ich mich gut und gesund fühle. Da waren viele schöne Gespräche dabei, die Zustimmung hat mich motiviert und bestärkt, manche Bewunderung hat mir geschmeichelt.

 Dann gab es aber andere Menschen, die ich sehr lange kenne und die mich auch längere Zeit nicht gesehen hatten und die Gespräche mit dem Satz angefangen haben:

„Du bist so dünn, hast du Krebs?“

Ich war völlig perplex. Sie hatten mich aus der Ferne beobachtet und seltsame Schlüsse gezogen. Wenn ich Ihnen erklärt habe, dass ich völlig gesund sei und den Grund für meine Gewichtsabnahme dargelegt habe, schienen sie fast enttäuscht zu sein.

„Du bist wirklich nicht krank?“

Wie kommt aus solchen Gesprächen wieder heraus? Am besten man wechselt das Thema und redet über das Wetter.

Manchmal tummele ich mich im Internet und schreibe dort mit wildfremden Menschen. Ich bezeichne mich selbst als Menschenfreund, der gerne etwas über andere Menschen erfährt, andere Perspektiven kennenlernen möchte und es nicht verstehen kann, dass viele Menschen gerade im Internet Streit suchen, um ihre schlechte Laune an anderen auszulassen.

 Einmal habe ich mit einem Mann geschrieben, in meinem Alter, sehr nett und höflich und plötzlich ohne Anlass bewertete er ein Foto von mir.

„Bist ganz schön dünn. Siehst ungesund aus.“

Weil er nett zu sein schien, erzählte ich ihm alles über meinen Werdegang. Auch beim Lesen von Texten, kann man anscheinend nicht zuhören, denn er antwortete mit:

„Aber du siehst schlecht aus.“
Ich habe es noch einmal versucht, und ihm erzählt, wie gut ich mich fühle und das es keinen Grund gibt, sich Sorgen um mich zu machen. Ich bin beim Schreiben immer sehr bedacht, freundlich zu bleiben. Schließlich lauern anscheinend alle im Internet und warten nur auf den Moment, in dem sie Beef anfangen können. Wahrscheinlich hatte ich mir, ohne es zu ahnen, ein solches Exemplar eingefangen, denn er reagierte auf meine Ausführungen mit einer ziemlich zornigen und plumpen Antwort.

„Du kannst mir meine Meinung nicht nehmen. Wenn ich sage, dass du ungesund aussiehst, dann hast du das gefälligst zu akzeptieren.“

Ein Aspekt der modernen Kommunikation hatte ich natürlich schmählich vergessen: Das Pochen auf die Meinungsfreiheit. Es impliziert für viele das Recht, alles sagen zu dürfen, auch wenn es verletzend oder dumm oder sogar Beides ist. Wer Meinungen austauscht, verlässt schnell den Debattenpfad. Er begibt sich in eine Dynamik, die nur zum sogenannten Canceln führen kann. Weil unsere Meinungen diametral gegenüberstehen müssen wir uns hassen und nachdem wir uns angebrüllt und beschimpft haben, drücken wir auf Ignorieren und haben es uns richtig gezeigt.

 Man hat ja dann schnell Erklärungen, warum Kommunikation heutzutage manchmal so schwierig ist. Soziale Netzwerke, die allgemeine Verrohung der Gesellschaft, der schwierige politische Diskurs, die Spaltung der Gesellschaft…

 Solche Schlagwörter und Allgemeinplätze können nicht erklären, warum Kommunikation mit manchen Menschen einen merkwürdigen Verlauf nimmt. Vielleicht bedarf es auch keiner Erklärung. Der Andere ist die Hölle, hat ja mal Sarte gesagt und das wird ja oft in solchen Zusammenhängen zitiert, aber vielleicht hätte Sartre auch noch hinzufügen sollen, dass die Anderen immer auch wir selbst sind und wir selbst die Hölle für andere sind.

 Wir können manchmal nicht über unseren Schatten springen, weil nun einmal eigenständige und eigensinnige Einheiten sind. Die Schatten sind allerdings kürzer, die Räume in denen wir uns bewegen, sind enger geworden. Die Versprechungen des Internetzeitalters, dass die Welt zu uns nach Hause kommt, verknüpft mit der Möglichkeit des globalen Austausches von Waren und Dienstleistungen haben uns überfordert. Die meisten von uns waren vorher einfache Dorfmenschen. Übrigens leben auch viel Städter nur in ihrem Viertel und verlassen selten die ausgetretenen Pfade des Alltags. Unsere einzigen Bezugspunkte orientierten sich an der Kirchturmspitze in der Dorfmitte. Nun kommt die Welt zu uns und wir haben nicht nur unsere Bezugspunkte verloren. Man sieht einfach, wer wir wirklich sind. Nicht die netten Wilden aus dem Nirgendwo, die freundlichen Eingeborenen aus irgendeinem abgelegenen Kuhkaff, die hippen, legeren Metropolenhopper, Bergekletterer, Deichhocker, Waldschrate, Inselgemüse und Dialektmurmler, sondern bösartige und missgünstige Individuen, die nur darauf warten, anderen auf die Fresse zu hauen….

Bück dich hoch

Am letzten Samstag war ich mit meiner Frau und zwei meiner Kinder auf dem Auftritt der Band Deichkind in der Frankfurter Festhalle. Für meinen achtjährigen Sohn und meine zwölfjährige Tochter war es das erste Konzertvergnügen dieser Art. Seit ein paar Jahren begleiten mich die Songs von Deichkind. Mir gefällt die Art, wie sie den Gemütszustand meiner Generation kommentieren und ironisch gebrochen widerspiegeln.

 Deichkind hat als Band schon einige Jahre auf dem Buckel und daher auch verschiedene Schaffensphasen kreieren dürfen. Angefangen haben sie als typische Deutschrap-Band der Neunziger Jahre. Später gab es einen Umbruch in der Band und nach einer schlimmen Phase mit ulkigen Partylieder und Saufhymnen, die sie mit Stampfbeats, tiefen Grummelbässen und hellen Technosounds unterlegt haben, entwickelte sich die Band zu einem Gesamtkunstwerk mit wilden Bühneninszenierungen, grotesken Texten und Kostümen und sehr einfallsreichen Videos. Die Bühnenshow von Deichkind ist legendär. Wer dabei still sitzen bleibt, um den Flow der Reime zu analysieren, hat den Schuss nicht gehört.

 Der Song „Bück dich hoch“, der bei den Auftritten mit einem Bürostuhlballet inszeniert wird, karikiert den Zwang zur Selbstaufgabe in der Arbeitswelt. Der Song stammt aus dem Jahre 2012 und als ich damals den Song rauf und runter gehört habe, fand ich in den Textzeilen viele Analogien zu meinem Job. Bei einigen Führungskräfte galt damals die Selbstaufgabe für das Unternehmen als unbedingte Notwendigkeit. Familie, Freunde, Hobby alles nur Ablenkung, die einem vom Pfad des Erfolges abbringen.

„Du brauchst Konkurrenz, keine Friends. Do your fucking Job till the end.“

Gerade diese Textzeile entsprach der damaligen Haltung in meiner Branche. Wir hatten gerade Finanzkrise und Eurokrise hinter uns und glaubten immer noch, ein Herzinfarkt ist eine Trophäe und der Burn-Out ein Zeichen von Schwäche. Ich kannte Führungskräfte, die Untergebenen den Abbau von Überstunden untersagten, weil sie ja nur siebzig Überstunden hatten. Nur die Harten kommen in den Garten. Überstunden kannst du abfeiern, wenn du auf dem Friedhof liegst.

 Als die Bürostuhlarmada ihre Pirouetten auf der Bühne drehten musste ich kurz innehalten. Ein paar Tage vorher hatte ich ein dienstliches Seminar besucht. Der Zeitgeist der Totalaufgabe für die Arbeit ist mittlerweile einem angeblichen positiven Mindset von der Work-Life-Balance gewichen und mein Arbeitgeber versucht alles, um die traurige Vergangenheit der fehlgeleiteten Leistungsanreize vergessen zu machen und doch scheint diese Vergangenheit immer noch präsent zu sein.

 Ein großes Thema, wie wahrscheinlich in fast allen Unternehmen, ist der Fachkräftemangel und die Diskussion wie wir junge Menschen für unseren Beruf begeistern können. Und dann kam der Satz, über den ich mich noch an dem Samstag während des DK-Konzertes aufregen konnte:

„Die jungen Leute wollen ja nicht mehr arbeiten. Die wollen nur noch die vier-Tage-Woche und ansonsten ihrem Vergnügen nachgehen.“

Ich bin immer überrascht, dass Mensch schnell das Lebensgefühl ihrer Jugend vergessen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich mich gefühlt habe, als ich mit neunzehn Jahren meine Ausbildung begonnen habe. Jeden Tag auf die Arbeit zu rennen und das die nächsten fünfundvierzig Jahre machte mir eine Heidenangst. Am Beginn meiner Ausbildung habe ich in den ersten Wochen abends zu Hause gesessen und mir gedacht, dass ich am nächsten Tag nicht mehr hingehe. Nicht, weil mir die Arbeit nicht gefallen hätte, sondern weil die Arbeit mich einfach überfordert hatte. Ich musste mir ein anderes Auftreten, ein anderes Verhalten anerziehen, viele neue Regeln lernen, immer freundlich und nett bleiben und musste mich an das starre Korsett der betrieblichen Abläufe gewöhnen. Als junger Mensch will man nicht ins Hamsterrad. Man macht es, weil es die Eltern wollen, weil man Geld verdienen will, weil man sich etwas im Leben aufbauen und erreichen will. Irgendwann gewöhnt man sich dran und man bekommt Routine, schläft sich aus, schüttelt sich und macht weiter. Ich war ein guter Azubi, meine Kollegen mochten mich und ich kam besser mit den Kunden klar, als manch altgedienter Kollege.

 Während dem Seminar habe zu dieser Diskussion nichts beitragen wollen. Ich wollte die unsägliche Meinungsäußerung einiger Kollegen nicht mit Gegenargumenten unnötig in die Länge ziehen. Aber es half nichts. Zwei oder drei Kollegen haben sich gegenseitig aufgeschaukelt.

 Immer wieder: die jungen Leute wollen keine Leistung bringen, die wollen nur Vorteile genießen usw.

 Ich träumte ich in eine andere Gegenwart, in der ich mich feierlich erheben wollte, um eine pathetische Ansprache zu halten:

„Sind wir denn unseren Kindern gute Vorbilder gewesen? Wir waren Sklaven des Leistungswillens. Der Erfolg oder das was wir dafür gehalten haben, hat uns krank gemacht. Worauf beruhen den unser Wohlstand und unsere Freiheit? Auf unserem eigenen Unglück und dem Unglück anderer Menschen! Wir haben uns selbst das Glück versagt, um jedes Jahr dreimal in den Urlaub fliegen zu können, alle zwei Jahre ein größeres Auto fahren zu können und dem Nachbarn nicht einmal das Schwarze unter den Fingernägeln zu gönnen. Was hinterlassen wir unseren Kindern? Eine kaputte Infrastruktur, eine kaputte Welt, eine kaputte Demokratie und kaputte Menschen. Wir sind die Monster, nicht unsere Kinder!“

 Ich hatte in der anderen Welt schon eine Arschbacke in der Luft und einen Zeigefinger gen Himmel gereckt, um auf mich aufmerksam zu machen und dann hat mich der Anblick der verhärmten und mitleidlosen Mienen meiner Kollegen wieder in die Wirklichkeit zurückgeholt.

 Während Deichkind auf der Bühne tobte und ich mich verschwitzt und melancholisch an dem Moment in dem Seminar erinnerte, warf ich einen Blick auf meine beiden Kinder, die beiden staunend dem Spektakel in der Festhalle beiwohnten und war mir sicher, dass sie auf meine Kollegen nicht hören und einen anderen Weg beschreiten werden.

Leichen im Keller

Ich  habe mir lange Zeit genommen. Mehr als zwei Monate habe ich gegrübelt und die Schreibprozess für den zweiten Teil meines Romanprojektes vorbereitet. Kaum hatte ich meinen letzten Beitrag über das Romanprojekt geschrieben, war mir wieder eingefallen, warum ich nicht weiter komme. Ich scheue den Abstieg in den Keller, in dem die Leichen liegen. Jeder Roman beruht auf den sprichwörtlichen Leichen im Keller. Man wohnt im ersten und zweiten Stock des Hauses und auch wenn man in den Keller hinabsteigt, um Wäsche zu waschen oder Getränke zu holen, wird man nicht gleich über die Leichen stolpern. Aber irgendwas sagt einem, dass es sie gibt.

 Es ist die Geschichte hinter der Geschichte, die einen Roman interessant macht (genauso wie beim Film). Der Leser fragt sich: äh! Wie kommt das jetzt zustande? Und weil er es wissen will, liest er weiter.

D.h. als Autor muss ich die Leichen in den Keller legen, die Geschichte hinter der Geschichte schreiben, den Überblick behalten und nachher in den Romantext einarbeiten. Figuren beziehen sich auf die Leichen im Keller, sie handeln, weil sie Angst haben, dass man die Leichen entdeckt und der Autor beginnt, das Geheimnis zu lüften und am Ende zeigt er dem Leser, die Stelle im Keller, wo die Leichen begraben sind.

Es gibt über den zweiten Teil ein altes Exposee, das nicht viel hergibt. Ich habe es mehrfach gelesen und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich keine einzige Zeile schreiben kann, wenn ich mich auf dieses Exposee beziehe. Es wäre wirklich die gähnende Langeweile bei mir und meinen Lesern aufgekommen.

Also musste ein neues Exposee her. Eins das offenlegt, was im Detail passiert und wer die handelnden Personen sind und warum sie so handeln, wie sie handeln. Das führt automatisch zu deren eigenen Geschichte. Jede Person in dem Roman hat natürlich einen eigenen Antrieb und einen eigenen Hintergrund und jeder ist aus einem anderen Grunde in die Geschichte hineingeraten.

Man schreibt für jede Personen einen eigenen Plot. Herkunft, Alter, Beruf, Eltern, Einflüsse all das spielt eine Rolle. Es muss das Abbild einer realen Person entstehen, die natürlich nicht real ist. Jetzt kann man nicht für ca. 10 Personen das ganze Leben erfinden und aufschreiben. Man entwirft die für den endgültigen Ablauf der Geschichte entscheidenden Momente.

Das ist eine harte Arbeit und unter Umstände sehr aufwändig. Fast so als schreibt man für einen Roman noch einen Roman. Wenn ich dreihundertfünzig Seiten Roman schreibe, schreibe ich wahrscheinlich die gleiche Anzahl im Laufe der Vorbereitung zusätzlich.

Es ist weniger eine literarische Tätigkeit, eher eine biographische. Und trotzdem müssen meine Formulierungen ausgefuchst und detailliert sein, damit ich selbst Vertrauen zu den Personen fasse. Ich muss mich immer fragen, wie glaubwürdig ist das, was ich dort schreibe. Und wenn ich alle Personen zu Trennungskindern mache und das nur beschreibe, klingt das alles sehr gehaltlos. So und so kommt aus so und so und seine Eltern haben sich getrennt, darunter hat er sehr gelitten. Ich bekomme keinen Draht zu den Personen. Mein Roman wird dann zu einer Selbsthilfegruppe für Scheidungskinder. Also muss ich mir genau Gedanken machen, was die Eltern für Menschen waren, wie es zur Trennung kam, warum das Kind (die eigentliche Romanfigur) darunter litt oder nicht litt und was es mit ihm in der Zukunft gemacht hat. Natürlich muss ich Bezug nehmen auf die Zeit und den Ort in dem das geschehen ist. Mittlerweile ist eine Scheidung normal und wenn es fünf meiner zehn Personen widerfahren ist, passt das in die Gegenwart. Schreibe ich aber eine Geschichte aus dem letzten Jahrhundert, ist es eher ungewöhnlich, dass sich Eltern getrennt haben usw. Und das ist die Hauptarbeit. Die Geschichte hinter der Geschichte muss in den Kontext passen, es muss das Panoramabild des Romanes harmonisch vervollständigen. Das braucht länger als man denkt und jedes Mal schläft mir das Gesicht ein, wenn ich daran denke, für jede Person eine Lebensgeschichte entwickeln zu müssen.

Bis zu einem gewissen Punkt strengt mich diese Arbeit unheimlich an und ich gehe ihr aus dem Weg. Aber dann plötzlich platzt der Knoten und das Panorama ist vollständig und wunderschön. Die Handlung ergibt plötzlich ganz voll selbst, Bezüge der Personen untereinander ergeben sich ganz von selbst und es fühlt sich alles sehr realistisch an.

Daher hasse und liebe ich diese Arbeit. Ich brauche diese Arbeit, um den Roman lebendig und glaubwürdig werden zu lassen. Aber ich brauche diese Arbeit nicht, um als Autor glücklich zu werden.

Nach über zwei Monaten bin ich fertig. Ein neues Exposee und eine Biographie der handelnden legen nun die Grundlage für den Text, der später veröffentlicht werden soll.

Ich habe beim Schreiben die Dateien mit Exposee und Personenbeschreibung geöffnet, um immer wieder quer zu lesen und mir einerseits Inspiration für den Weitergang der Geschichte zu holen, aber auch um den Plot im Blick zu haben.

Dabei hilft mir, dass ich in den Vorbereitung zwar detailliert zu Gange war, aber nicht alles festgelegt habe. Änderungen sind also möglich, wenn nicht sogar notwendig. Beim Schreiben ergeben sich neue Tatsachen, bessere Abläufe oder Ideen für Handlungen oder für die Personen, denen man folgen sollte, sonst macht das Leichen aus dem Keller kratzen keinen Spaß…..

Einen Ausflug in den Westerwald – Teil 2

Ich fuhr über die A 45, die momentan bis Siegen nur aus Baustellen besteht. Dort kann man das Auto nicht voll ausfahren. Der Zoe ist bei 140 KM/h am Ende seiner Möglichkeiten. In Anbetracht der Tatsache, dass so grüne Spinner wie ich sich selbst die Freiheit nehmen wollen und nur noch mit maximal 130 über die Autobahn preschen wollen, ist das vollkommen ausreichend. Und wenn man ins Ausland fährt…komisch da sind nirgends diese Ökoterroristen an der Macht und trotzdem darf nirgends schneller fahren als 120 KM/H…klar diese Ausländer haben ja auch keine Ahnung von Freiheit… Schland, Schland unser Vaterland, wir lieben es, wegen den Autobahnen, dem Fußball und dem Reinheitsgebot…

Bei Herborn fährt man von der Autobahn runter und dann über eine gut ausgebaute Bundesstraße tief ins Hinterland.  Mein Weg führte vorbei an bewaldeten Hügeln, riesigen Industriegebieten, durch kleine Dörfer, und links und rechts der Fahrbahn wucherten riesige klaffende Wunden in den Wäldern, Schneisen der Zerstörung, die das friedliche Bild einer geordneten Landschaft störten.

Ich bog von der Landstraße ab, geriet auf ein kleines Sträßchen und verpasste den Treffpunkt. Mein Freund  Christian hatte mich zum Friedhofsparkplatz von Streithausen gelotst. Nachdem ich meinen Irrtum bemerkt hatte, wendete ich in einer Seitenstraße und fuhr zurück.

Meine Zoe kommt auf dem Parkplatz zum Stehen und der Ladestand meines Akkus zeigt 51 % an. Das reicht locker um wieder nach Hause zu kommen und auch noch die eine oder andere zusätzliche Wegstrecke zurück zu legen. Ladesäulen in der Nähe? Fehlanzeige. Erst im 10 Kilometer entfernten Bad Marienberg gibt es eine Ladesäule, von der ich nicht in Erfahrung bringen konnte, ob ich sie nutzen kann. Das ist wirklich noch ein Problem. Wenn es zum Beispiel in einem Ort wie Streithausen (ein kleines Kaff) ein öffentlicher Ladepunkt vorhanden gewesen wäre, hätte ich während der Wanderung, die mehr als zwei Stunden dauerte, ganz entspannt das Auto wieder aufladen können. Solange wir auf den Dörfern keine Ladepunkte haben, sind Ausflüge mit dem E-Auto unter Umständen doch eine logistische Herausforderung. Ich habe zwar ein Ladekabel für die ganz normale Haushaltssteckdose. Allerdings dauert es  dann angeblich einen ganzen Tag, um den Akku aufzuladen. In eine solche Notsituation wollte ich erst gar nicht geraten.

 Mein Freund Christian begrüßte mich und wir liefen sofort los. Christian kenne ich schon seit den neunziger Jahren. Wir haben uns im Zivildienst kennengelernt.  Wir sind über die Jahre im Kontakt geblieben, habe viele Stunden miteinander verbracht, um über Literatur, Philosophie, Politik und das Leben im Allgemeinen zu sinnieren. Jedes Treffen mit ihm ist eine Inspiration. Ich kenne keinen Menschen, der so viele Ideen in sich trägt, soviel Wissen mit sich herumschleppt und auch noch den schwierigsten Sachverhalt mit seinem Denken durchdringen kann. Gleichzeitig ist er einfach ein netter Kerl, großherzig und ein Menschenfreund.  

Er hatte mich auch zur Wanderung eingeladen, weil er auf dem langen Rundweg einige Geocaching-Verstecke lagen, die er aufsuchen wollte. Ich bin zwar gerne im Wald, aber dieser modernen Form der Schnitzeljagd konnte ich bisher nichts abgewinnen. Wir liefen zu einem Platz oberhalb des Friedhofs. Ein weißes Kreuz oberhalb von Streithausen war unser Startpunkt. Durch das Dickicht folgten wir dem „Baum-des-Jahres“-Pfad. Jedes Jahr wird der Baum des Jahres bestimmt und hier hat man es sich zur Aufgabe gemacht, hier die einzelnen Baumarten zu pflanzen und mit Hinweisen versehen. Während Christian schon die ersten Verstecke ansteuerte, vertieften wir uns schon in einen interessanten Dialog über die letzten anderthalb Jahre in denen wir uns nicht sehen konnten. Wir unterquerten die Bundesstraße und folgten einigen Waldwegen. Bald lag die alte Straße vor uns, die von Streithausen wegführte und nun als Radweg und Fußweg genutzt wurde. An eine der ersten warmen und sonnigen Tage im diesem Jahr waren hier viele Jogger und Radfahrer unterwegs. An einem Baumstumpf, dessen ausgefranste Spitzen in den Himmel ragten, vermutete Christian ein Versteck, konnte es aber nicht finden.

 Beim Geocaching sucht man anhand der Koordinaten Verstecke. In den Verstecken liegen Behältnisse mit einem Logbuch. Man trägt sich in das kleine Buch ein und bekommt evtl. noch Hinweise auf die Koordinaten eines Bonusversteckes. Das Behältnis legt man für den nächsten Suchenden wieder an seinen Platz zurück. Manchmal liegen in den Behältnissen Süßigkeiten und kleine Plastikfiguren, die man gegen andere Gegenstände eintauschen kann. Die Behältnisse stecken oft in witzigen Artefakten, in künstlichen Tierschädeln, bunten Plastikfiguren, Holztornistern usw. Ich hatte mir zur Aufgabe gemacht, jeden Cache mit der Kamera zu dokumentieren. Christian posierte jedes Mal mit dem Behältnis vor der Kamera. Obwohl er mich in die Suche eingebunden hatte,  habe ich eine Weile gebraucht, um das Prinzip zu verstehen.

 Wir kamen an einigen Waldbrachen vorbei, die ein ähnliches Bild der Zerstörung boten, wie die Schneisen, die ich neben der Bundesstraße gesehen hatte. Die Borkenkäfer hatte unzählige Hektar Wald niedergemäht, einen Teil der Bäume hatte man gefällt, um der Plage Einhalt zu gebieten.  Christian hatte sich schon längere Zeit damit beschäftigt. Als er den Namen Peter Wohlleben erwähnte, war ich schon leicht genervt. Wir haben darüber diskutiert, ob solche Typen, die mit simplen Botschaften über die Natur ein Haufen Bücher verkaufen und ständig in den Medien präsent sind, wirklich eine Bewusstseinsänderung bei den Menschen erreichen oder nur leicht verdauliche Waren produzieren, die Menschen, ohne die großen Zusammenhänge zu verstehen, einfach konsumieren. Der deutsche Wald wurde schon immer verklärt und romantisiert und das Reden über die Natur auf „Landlust“-Niveau wird keinen einzigen Wald retten oder bei den Menschen eine Verhaltensänderung herbeiführen. Christian selbst suchte nicht nur nach Verstecken im Wald, sondern versuchte zu verstehen, was im Wald aktuell geschah. Er hat aber auch sich bei anderen weniger bekannten Wald- und Naturkennern herumgetrieben, wie z.B. ein Mann im Wald. 

Der Westerwald ist wie viele Waldgebiete in Deutschland auf die wirtschaftliche Nutzung von Holz ausgelegt (ha, ha so viel zur Romantik). Im Westerwald hatte man im vorletzten Jahrhundert Monokulturen aus Nadelhölzern angesiedelt. In der Hauptsache Fichten, die schnell wachsen und daher gut verwertbar waren. Die Wälder haben das Holz geliefert, das man zur Industrialisierung dringend benötigte. Nun hat die Industrialisierung dazu geführt, dass viel CO2 ausgestoßen wurde. Die Sommer wurden heißer und trockener. Fichten können Borkenkäfer als Eindringlinge mit ihrem Harz bekämpfen. Sobald ein Käfer sich ins Holz frisst, wird er vom Harz umschlossen und gekillt. Wenn Trockenheit herrscht, können Fichten kein Harz bilden. Den Borkenkäfer fiel es leicht,  die Bäume zu befallen und die Plage hat sich ungehindert ausgebreitet. In Mischwäldern wird die Verbreitung gestoppt, da die Borkenkäfer nur Nadelhölzer befallen. Sobald sie an einen Laubbaum geraten, ist alles vorbei. Nun kommt es zu einem Kreislauf, der vielen Menschen gar nicht bewußt ist. Bäume binden CO2. D.h. wenn Baumbestand vernichtet wird, gibt es weniger Bäume, die CO2 binden und damit erwärmt sich die Welt weiter, wird es noch trockener usw. Wir regen uns ja gerne über die verheerende Zerstörung des Regenwaldes in Südamerika auf, vergessen aber gerne das Drama vor unserer Haustüre.

Wir liefen einige Stunden durch den Wald, aus 11 Kilometern wurden 15. Christian musste immer wieder vom Hauptweg ins Unterholz abbiegen. Das hat die Wanderung unheimlich in die Länge gezogen und als ich auf dem Heimweg vollkommen erschöpft und hungrig an einer Tankstelle im Nirgendwo einkehrte (mit einem E-Auto, welch Ironie) um mir Essen und Trinken zu besorgen, dachte ich über die Zerstörung der Wälder nach. Ich fragte mich, ob die Frau hinter der Theke, die mir eine in Plastik verpackte Biffi-Roll und eine große PET-Flasche Wasser verkaufte, ahnte, dass ihre unmittelbare Existenz vielleicht durch die Elektromobilität bedroht ist, die viel größere Bedrohung aber hinter ihr im Wald lauerte. Ich saß draußen in der grellen Nachmittagsonne auf einem kleinen Bank, kaute auf dem industriell hergestellten Würstchen herum, trank aus meiner Flasche Wasser, dass nach dem Plastik der PET-Fasche schmeckte und stellte mein eigenes Handeln in Frage.  Ich fuhr vielleicht ein Elektroauto, achtete darauf, unverpackt Dinge des Alltags zu kaufen, die nach biologischen Maßstäben und in der Region produziert wurden,  flog nicht mit dem Flugzeug in die Ferne, um mich in der Sonne brutzeln zu lassen und doch hatte ich keine Ahnung, was wirklich in der Natur geschah. Bin ich nicht doch nur ein kleiner Angeber, der das Statussymbol SUV gegen ein das neue Statussymbol Elektroauto getauscht hatte?

 Als Christian im Wald ein Cache suchte, der in einem Birkenwald liegen sollte, fragte er mich, ob ich irgendwo um uns herum Birken sah. Ich zeigte auf niedrige dürre Bäume und er antwortete belustigt von meiner Einfalt: Nein Matthias, das sind Haselsträucher!

Ein Ausflug in den Westerwald

Vor ca. vier Wochen habe ich mir mein erstes Elektroauto gegönnt. Ich hatte die Faxen dick! Die letzten Jahre musste ich mir zu oft das Herumgeheul verbitterter Anhänger von Verbrennungsmotoren anhören. Eigentlich wissen wir seit Jahrzehnten, das  irgendwann das Ende der fossilen Energieträger naht und nicht nur wegen den CO2-Emmisionen, sondern auch weil diese irgendwann zu Neige gehen. Solange aber ein drei Tonnen schweren SUV, den man mit 200 über die Autobahnen hetzt,  ein Zeichen für Wohlstandes und Prosperität darstellt, haben viele Eigentümer dieser Statussymbole richtige Verlustängste. Eigentlich gehören sie alle in eine kollektive Therapie. In ihrem Geheule drückt sich die Angst vor dem sozialen Abstieg aus, der sie wahrscheinlich nicht ereilen wird, wenn sie auf eine andere Antriebsart umsteigen. Wenn ich mit einem Freund des Verbrennungsmotors die übliche Diskussion beginne, höre ich schon an ihren Argumenten, wie verzweifelt sie sind. Mir wird ohne Umschweife die Welt erklärt: Der Akku im E-Auto  schädigt die Umwelt (als hätte diese Menschen vorher der Zustand der Natur interessiert). Die für den Akku benötigen seltenen Erden werden von Kindern im Kongo aus dem Boden gekratzt werden (Dabei tippt man nervös auf seinem neuen Iphone, dass man jedes Jahr austauscht). Man verliert seine gottgegebene Freiheit, weil der Akku ja nur für zweihundert Kilometer reicht. Außerdem muss man das Auto wieder mühsam aufladen. E-Autos machen nur Sinn, wenn man Strom aus regenerativen Energien tankt. Wo soll der ganze saubere Strom denn herkommen. Schließlich haben wir ja ohne Not alle Kernkraftwerke abgeschaltet (auch so ein Trauma. Was ist an Kernkraft sauber? Siehe Tschernobyl und Konsorten) und jetzt schalten wir noch die modernen Kohlekraftwerke ab, soviel Windräder kann man ja gar nicht aufstellen….bla…bla…bla…

Mein alter Dacia 7-Sitzer-2 Tonner mit 115 PS und Anhängerkupplung war hinüber und ich wollte kein großes Auto mehr fahren. Ich habe keine fünf Kinder mehr im Haushalt (deswegen damals der Siebensitzer), ich fahre wie ein Großteil der Bevölkerung maximal 30 Km im Durchschnitt am Tag und ich brauche eigentlich nur einen Kofferraum für den Wocheneinkauf und versuche seit Jahren die Wege des Alltags mit dem Fahrrad zurückzulegen.

Okay, ich lebe mitten in der Stadt, unsere Wege sind kurz, um die Ecke gibt es sogar vier Ladeplätze unseres regionalen Energieversorgers und zu Not kann ich in meiner Garage einen Ladeplatz installieren. Ich bin privilegiert,  das stimmt, aber ist das nicht genau der Grund, um es einfach mal mit der Elektromobilität auszuprobieren?

Ich war neugierig und plötzlich haben sich viele Argumente pro E-Auto aufgetan. Ich gebe zu: den traumatisierten treuen Anhänger des Verbrenners  möchte ich gerne den gedanklichen Stinkefinger zeigen. Aber ich möchte auch die aktuelle Technik auszuprobieren, um die gängigen Vorurteile zu entkräften. Neben den Miesmachern gibt es unheimlich viele Menschen, die völlig verunsichert sind, für die Mobilität ein großer Kostenfaktor, die auf ein Fahrzeug angewiesen sind. Also schadet es nicht, wenn die verunsicherten unter den Autofahrern sehen, dass das E-Auto eine echte Mobilitätsalternative ist.

Übrigens ist es mein Ziel, mittelfristig ohne Auto auszukommen. Kein Auto zu besitzen, schont die Umwelt am ehesten. Da kann die Elektromobilität der erste Schritt in die richtige Richtung sein. Um so weit zu kommen, braucht es auch eine durch die Gesellschaft und Politik getragene Verkehrswende, weg vom Individualverkehr, hin zu Öffentlichen Nahverkehr und alternativen Mobilitätkonzepten. Jeder, der ein E-Auto fährt, kann seine Bereitschaft zur echten Veränderung signalisieren, außer er ersetzt seinen Ölstinker durch einen drei Tonnen schweren Luxuswagen mit einem monströsen Akku, der eine Reichweite von 700 Kilometer ermöglicht.

Ich habe mir einen Renault Zoe besorgt, ein etabliertes Kleinwagenmodell, das als reines E-Auto konzipiert wurde. Eine Stromladung hält auf meinen üblichen Strecken 300 KM. Das Fahren macht unheimlich Spaß und ist total einfach. Ich fahre etwa einmal die Woche an eine Ladestation. Meistens am Wochenende. Fürs Laden benötige ich bis zu zwei Stunden. Ich stelle das Auto ab, stecke mein Kabel in Ladesäule und Auto, gehe heim, sehe auf meiner App den Ladestatus und wenn der Akku vollgeladen ist, mache ich einen kleinen Spaziergang und hole mein Auto wieder ab. Seitdem grinse ich immer lässig, wenn ich an einer Tankstelle vorbeifahre. Der Beninpreis ist mir zum ersten Mal seit 30 Jahren kackegal.

Das Zurücklegen längerer Strecken stellt eine logistische Herausforderung dar. Es ist nicht unmöglich oder zu kompliziert. Aber man muss das Auto gut kennen und jedes Mal vorher schauen, ob der Strom für die Strecke reicht und wenn nicht, wo man die Karre wieder aufladen kann.

Um dafür ein Gefühl zu bekommen mache ich Moment kleine Ausflüge und schaue mir auch die Ladesäulen an, die auf dem Weg liegen. Und das ist für mich im Moment noch das einzige Problem, mit dem ich hadere. Es gibt keinen einheitlichen Standard für Ladesäulen. Es gibt Apps, die einem die Lage anzeigen und welchen Stecker man braucht und ob eine Ladekarte benötigt wird usw. Allerdings stehe ich meist vor diesen rätselhaften Apparaturen und bin hilflos.  

Also plane ich im Moment eher Ausflüge, die ich mit meiner Reichweite 300 KM gut absolvieren kann. Letztes Wochenende hat sich ein Ausflug in den Westerwald angeboten. Ein guter Freund von mir hat mich zu einer Wanderung eingeladen. Wir haben uns wegen Corona fast zwei Jahre nicht gesehen und da wir beide wenigstens einmal geimpft sind  und die Inzidenzen rückläufig sind, wollten wir uns endlich wieder einmal treffen. Mein Freund wohnt in der Nähe von Linz am Rhein und ich in Wetzlar. Auf halbem Wege zwischen Linz und Wetzlar liegt das Hachenburger Land, rund um Hachenburg und Bad Marienberg, im tiefsten Westerwald.

Also bin ich an einem Sonntagmorgen losgedüst….mit 75 % Ladung. Eine Strecke von 65 Kilometer lag vor mir….