Nachdem ich bei der Musterung als wehrtauglich eingestuft wurde, hätte ich nach der Ausbildung meinen Wehrdienst antreten müssen. Schon vor der Ausbildung hatte ich den Entschluss gefasst, zu verweigern. Anfang der Neunziger Jahre hat man schon mit wenig Aufwand den Kriegsdienst verweigern können. Man musste einen Aufsatz einreichen, in welchem man seine Gründe für die Verweigerung darlegte. Es gab ausreichend Vorlagen, die die geforderten Formulierungen enthielten und die in der Szene der angehenden Kriegsdienstverweigerer zirkulierten. Man berief sich auf sein Gewissen, das einem untersagte, eine Waffe gegen andere Menschen zu richten. In diesem Falle war das Gewissen eine eigene Persönlichkeit, die den jungen potentiellen Rekruten quasi paralysierte, wenn er mit einer Waffe auf einen anderen Soldaten zielen wollte. Eine Verweigerung aus anderen Gründen war möglich, aber nicht gewünscht. In der stockkonservativen Welt der atomaren Abschreckung kam es nicht gut, wenn man aus weltanschaulichen Gründen verweigerte. Das war den Gremien zu kompliziert. Einmal im Leben hatte man die Chance in einem nonkonformistischen Akt der Gesellschaft den Stinkefinger zu zeigen und dann musste man doch wieder opportun sein und schön brav den Anforderungen der Gesellschaft gerecht werden.
Anstatt meinem Gewissen etwas abzuverlangen, was es gar nicht leisten konnte, hätte ich mich viel lieber offiziell dem Soldatentum verweigert. Ich wollte keine Uniform überstreifen, irgendwelche stumpfen Befehle ausführen und den letzten Rest meines menschlichen Verstandes bei jeder Gelegenheit in billigen Flaschenbier ertränken. Das war nicht meine Welt: Kameradschaft, Herumbrüllen, Korpsgeist, im Schlamm kriechen. Ich war ja eher ein Feingeist, sensibel und schüchtern.
Ich wollte der Bundeswehr mich nicht zumuten. Da gab es genug Altersgenossen, die viel besser dort aufgehoben waren, weil sie sich mit nackten Oberkörper grunzend im Schlamm und Testosteron wälzen und dabei den Helden spielen wollten.
Aber ich schrieb brav den Aufsatz und schickte ihn weg.
Meine Anerkennung kam und bald darauf der „Einberufungsbefehl“ zum Zivildienst und ich musste mir eine Stelle suchen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Plätze für Zivildienstleistende rar. Da mein Bruder zwei Jahre vorher schon eine Stelle als Gemeindezivi in der katholischen Kirche ergattert hatte, habe ich mich beim Bistum Limburg beworben. Man hat mir die Stelle gegeben und im Sommer 1993 konnte ich in der katholischen Gemeinde St. Walburgis in Niedergirmes meinen Zivildienst antreten.
Niedergirmes hat sich in den letzten hundertfünfzig Jahren vom kleinen Dorf in der Nähe von Wetzlar zum klassischen Arbeitervorort entwickelt. Viele Gastarbeiter hatten sich dort angesiedelt und sich neben der Ursprungsbevölkerung etabliert. Der Stadtteil hatte damals einen sehr schlechten Ruf, der z.T. auf rassistischen Vorurteile gegenüber Gastarbeiter beruhte. Neben diesen zwei Bevölkerungsgruppen gab es noch eine starke Gruppe der Flüchtlinge, die nach dem zweiten Weltkrieg nach Wetzlar kamen, zumeist aus Schlesien, Spätaussiedler aus Polen inbegriffen. Dazu kamen in den Neunziger Jahren neue Flüchtlinge aus der Türkei, Jugoslawien, Afrika und Asien. Die Flüchtlinge lebten im wahrsten Sinne am Rande der Gesellschaft. Ihre Unterkünfte befanden sich zwischen verkehrsreichen Ausfallstraßen und dem Buderuswerken. Niemand nahm Notiz von den Flüchtlingen. Sie lebten in abbruchreifen Häusern, in denen ansonsten niemand mehr wohnen wollte.
Meine Aufgaben als Gemeindezivi waren sehr vielfältig. Ich sollte mich um ältere Gemeindemitglieder kümmern, sie zu Hause besuchte, ihnen Gesellschaft leisten oder mit ihnen einkaufen gehen.
Die Arbeit mit Flüchtlingen war relativ neu hinzugekommen und umfasste Besuche der Flüchtlingsunterkünfte, Unterstützung der Flüchtlinge im Alltag, bei Behördengängen und ähnlichem. Die Flüchtlingsarbeit war in der Gemeinde umstritten. Bischof Kamphaus, der mich ein paar Jahre zuvor gefirmt hatte, war mittlerweile zu einer der wenigen kritischen Stimmen innerhalb der katholischen Amtskirche herangewachsen. Zu diesem Zeitpunkt waren deutsche Bischöfe konservative Erfüllungsgehilfen des Stellvertreter Gottes auf Erden. Bischof Kampfhaus war eine Ausnahme. Kamphaus war z.B. der einzige Bischof in Deutschland, der die Beratung von abtreibungswilligen Schwangeren entgegen der Anweisung vom Papst weiter durchführen ließ.
Zu dieser Zeit war die Stimmung gegenüber Flüchtlingen sehr aufgeheizt. Für viele Menschen und auch Politiker war Flüchtlinge keine Menschen die Schutz brauchten, sondern Asylanten, die in die Sozialsysteme einwanderten und ihren Status als Flüchtlinge missbrauchten, um die Deutschen und ihren tollen Sozialstaat auszunutzen. Damals brauchte es keine AFD, um die Stimmung anzuheizen. Rassismus war Staatsräson. In Hessen gab es CDU-Politiker wie Manfred Kanther (der zu der Zeit Bundesinnenminister war), die Positionen einnahmen, die heute von der AFD vertreten werden. Sogar die SPD hat sich damals nicht mit Ruhm bekleckert, denn als es darum ging, den Asylanten endlich in Schranken zu weisen, in denen man sie schlechter stellte als einen „deutschen“ Sozialhilfeempfänger, stimmte die SPD im Bundestag für das Asylbewerberleistungsgesetz.
Diese Stimmung gegen Flüchtlinge beherrschte auch den Diskurs innerhalb der katholischen Gemeinde in Niedergirmes. Es gab viele Gemeindemitglieder, die diese Arbeit mit Nichtchristen als unnötig betrachteten und das obwohl viele dieser Menschen selbst die Ausgrenzung als Flüchtling eine Generation früher erlebt hatten. Von dieser Seite bekam ich immer wieder Druck. Dazu kam, dass mein Vorgesetzter, der Priester der Gemeinde, ein ehemaliger Militärpfarrer war.
Das erste Gespräch mit ihm begann mit der Frage, ob ich wisse, dass er Militärpfarrer gewesen sei. Nach einer kurzen Pause fügte er noch hinzu, dass ich mir ja dann vorstellen könne, was er von mir und meiner Tätigkeit hielte.
Also hatte ich den Bischof auf meiner Seite und seinen Angestellten und seine Gemeinde gegen mich. Ich war jung, naiv und nahm diese Ablehnung sehr persönlich. Später habe ich begriffen, dass Engagement heißt, im Sturm gegen den Wind anzurennen. Wenn man etwas bewegen will, muss man sich sein Freunde und Feinde erst einmal verdienen.
Ich habe in der Gemeinde sehr liebe Menschen gefunden, die mich unterstützt haben und die dafür gesorgt haben, dass ich mich auch über weite Strecken sehr wohl fühlen durfte. Ich bin vielen interessanten Menschen begegnet. Ich habe durch diese Arbeit viel über mich und den Menschen an sich gelernt. Die Betreuung durch das Bistum Limburg war einmalig. Es gab jeden Monat ein Treffen der Gemeindezivis, wir hatten zwei wunderbare Seminarwochen und dort habe ich echte Freunde gefunden. Ein Freund aus dieser Zeit ist mir bis heute geblieben. Christian war damals Zivi in Dillenburg und hat nach dem Zivildienst Philosophie, Mathematik und ich glaube Theologie in Siegen studiert und in Philosophie promoviert. Wir sehen uns heute noch mindestens einmal im Jahr und wir haben neben der Philosophie die Leidenschaft für Literatur, das Rauchen von Pfeifen und Zigarren miteinander gepflegt und alleine schon wegen dieser Freundschaft möchte ich die Zeit als Zivildienstleistender nicht missen.
Durch diese Erfahrung hat sich meine Haltung zur katholischen Kirche zum Positiven geändert. Auch wenn es viel Gegenwind gab, habe ich doch viele Menschen kennengelernt, die weniger die Kirche als Ort gesehen haben, an welchem sie ihren Glauben ausleben können, sondern als gesellschaftliche Institution, die Schwächeren, ungeachtet ihrer Herkunft und ihrer Religion, Unterstützung und Hilfe anbietet. Diese Menschen rückten für mich in den Vordergrund und ließen mich fast dreißig Jahre lang an einen gesellschaftlichen Nutzen der Kirche glauben.
Die Zeit verging schnell. Ich heiratete eine Katholikin, bekam mit ihr zwei Kinder, die wir taufen ließen. Die Ehe scheiterte und es kam zur Scheidung. Dann lernte ich meine jetzige Frau kennen, die ungetauft ist und noch nie einer Kirche angehört hat. Ich selbst bezeichnete mich mittlerweile als Agnostiker, der die Existenz Gottes nicht als Maßstab für sittliches Handeln sieht, sondern versucht, ein richtiges Leben im falschen zu führen. Obwohl meine Frau und ich in solchen Dingen ähnlich ticken, gibt es zwischen uns beiden einen großen Unterschied. Ich bin nun einmal in der katholischen Kirche groß geworden und hänge mehr an ihren Ritualen, als ich mir eingestehen will. Eine gesetzliche Scheidung hat in der Kirche keine Wirkung und sie straft mich mit Ausschluss von den Sakramenten. Ich hätte nicht gedacht, dass ich diesen armseligen und lächerlichen Anachronismus ernst nehme. Die Kirche schließt Menschen aus, die einen Spagat zwischen Religion und weltlichem Leben hinbekommen wollen. Ich habe mich dem widersetzt, indem ich trotzdem zur Kommunion gegangen bin. Seltsamerweise habe ich mich danach unendlich schlecht gefühlt. Ich habe dann darüber Witze gemacht. Wenn ich die Hostie in den Mund nähme, träfe mich vielleicht der Zorn Gottes in Form eines Blitzes, der mich dann niederstreckt. Die frühe Begegnung mit den Riten der Kirche hat mich mehr beeinflusst als mir lieb war. Dieses miese Gefühl habe ich viele Jahre mit mir herumgeschleppt und jeder, der mich gefragt hat, warum gerade ich noch in der katholischen Kirche bin, bekam zur Antwort, dass ich nun einmal katholisch erzogen sei und ich im Zivildienst eine lebensnahe Kirche erlebt habe. Ich habe auch immer von Bischof Kamphaus und seinem Engagement geschwärmt. Meine Hoffnung war, dass dieser Typus Mensch irgendwann in der katholische zu Macht gelangt, um sie zu reformieren.
In den letzten Jahren ist viel passiert, aber die Katholische Kirche trotzt allen Reformen. Wir haben einen deutschen Papst bekommen, der noch konservativer war als sein konservativer Vorgänger. Bischof Kamphaus hat man durch einen geltungssüchtigen und scheinfrommen Bischof ersetzt, der viel Geld für Dienstwagen und eine Residenz ausgegeben hat und dann auch schnell wieder gehen musste. Der fürchterliche Missbrauch vieler Kinder und Jugendlichen durch Priester kam ans Tageslicht und damit die Erkenntnis, dass die katholische Kirche ein eigener Staat im Staat ist, der aber gerne die weltlichen Kirchensteuern und Subventionen vom säkularen Staat kassiert.
Aber auch das habe ich jahrelang beobachtet und daraus keine Konsequenzen gezogen. Im Gegenteil: ich habe die Gemeinschaft der katholischen Christen noch verteidigt, weil ich mich an die Hoffnung auf Reformen klammerte. Als ich zum ersten Mal vom synodalen Weg gehört hatte und dem Ansinnen einiger deutscher Bischöfe bedeutsame Reformen in der Kirche anzustoßen, habe ich gedacht, dass jetzt eine Veränderung kommt, die mein Beharrlichkeit rechtfertigt. Man hat lange und viel miteinander diskutiert und in Rom hat man die Bemühungen einfach abgetan. Man will keine zweite evangelische Kirche sein. Die katholische Amtskirche möchte der exklusive Club alter Männer im Rock bleiben, die ihre unverständlichen Riten bis zum Ende aller Zeiten pflegen wollen, entgegen den Menschen und ihre Belange.
Dann war ich dieses Jahr auf einer Gewerkschaftsveranstaltung zum 1. Mai und musste erleben, wie Rechte von AFD, NPD und Querdenkern die Redner niedergebrüllt haben. Man konnte sich nur schwer dem Hass und der Hetze entziehen. Wir haben uns machtlos gefühlt.
Das hat in mir einen Denkprozess angestoßen. Warum unterstützte ich einen menschenverachtenden, undemokratischen Club wie die katholische Kirche, wenn auf der anderen Seite unsere Demokratie und ihre Vertreter von undemokratischen Schreihälsen in Frage gestellt werden. Dann stand der Entschluss fest: nach zweiundfünfzig Jahren verlasse ich die katholische Kirche und trete in die Verdi ein…wahrscheinlich viel zu spät…aber hoffentlich noch rechtzeitig.