Die Frage stellt sich mir gar nicht mehr. Ich habe Sie schon vor neun Jahren geheiratet. In vielen Lebensbereichen betrachtet mich meine Ehefrau durch eine rosarote Brille und lässt nichts auf mich kommen. Ich sehe dann, wie sie mich verliebt anstarrt und mich mit den schönsten Umschreibungen auf einen Sockel hebt von dem ich niemals herunter fallen werde. Sie beginnt dann ihre Sätze mit „Mein Mann“. Wenn sie mir die Ehre erweist und mich als ihr Eigentum bezeichnet, impliziert das auch meine Einzigartigkeit, denn die Stelle als ihren Mann hat sie nur einmal vergeben und die habe ich hoffentlich lebenslang inne.
Und trotzdem bin ich nicht der Traummann für alle Fälle. Manchmal legt sie es darauf an, meine Unzulänglichkeiten bloßzustellen und mich in die Schranken zu weisen. Oftmals denke ich, ihre Attacken werden mit der Dauer unserer Beziehung heftiger und sie lässt sich häufiger dazu hinreißen. Bei genauerer Betrachtung stelle ich fest, dass sie schon immer zwischen Jubel und Tadel in schöner Sinusregelmäßigkeit hin- und her oszillierte.
Es könnte aber auch am oszillieren meiner Selbstwahrnehmung liegen, die einer phasengleichen Schwingung unterliegt wie das Verhalten meiner Frau. Manchmal fühle ich mich wertlos, nicht wertgeschätzt, unsichtbar, glaube nicht an meine Fähigkeiten oder gehe fest davon aus, dass sie niemand außer mir wahrnimmt. Zwei Minuten später spucke ich selbstverliebte Lobeshymnen auf mein Intelligenz, meine Fähigkeiten und meine überragende Persönlichkeit aus. Ich hinterlasse dann den Eindruck, vollkommener Entrücktheit und einer damit verbundenen Arroganz, die alle Anwesenden kalte Luft durch die Zahnreihen ansaugen lässt.
Ich kenne ja die Ursache meiner Unausgeglichenheit. Ich weiß, wie ich groß geworden bin und in welch merkwürdiger Versuchsanordnung ich meine Kindheit und Jugend verbracht habe. Äußerlich betrachtet bin ich ein typisches westdeutsches Kind, aufgewachsen in den Siebziger- und Achtziger Jahren, wohlbehütet und gut versorgt. Viele aus meiner Generation wissen, was sich hinter der Fassade aus Neubaugebieten, Pauschalreisen in den Süden, Sportschau, bunten Plastikpullis, Farbfernsehgeräten, Videorecordern, C64 Home-Computern und Tiefkühltruhen verborgen hat: Lieblosigkeit, Zukunftsängste, soziale Kontrolle und die Ablehnung bestimmter Denkweisen.
Ich habe mich in der Welt meiner Kindheit fehl am Platz gefühlt. Meine ganze Kindheit war bestimmt durch die unbestimmte Ahnung, dass irgendetwas nicht mit mir stimmt. Heute weiß ich: Mit mir war mehr in Ordnung als ich damals wissen konnte. Das ist die Kurzversion der Geschichte meiner psychischen Defizite. Wer sich aber fehl am Platze fühlt, wird entweder ausbrechen oder verhaltensauffällig werden. Ausbrechen versuche ich immer wieder (und scheitere) und verhaltensauffällig werden kann ich auch.
Meine kindliche Erfahrung hatte auch positive Auswirkungen auf mich. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund bin ich relativ bodenständig und verantwortungsbewusst geworden. Meine Macken sind nicht sofort sichtbar und ich bin kein Typ mit irren Blick, der den ganzen Tag damit verbringt, seine Umgebung zu terrorisieren. Irgendwie hat mich meine gefühlte Andersartigkeit dazu bewegt, über meinen Horizont hinauszuschauen und neue Welten für mich zu entdecken.
Und weil mir immer alle meinen Entdeckerreisen ausreden wollten, habe ich mir eine Hartnäckigkeit und Ausdauer anerzogen, die glücklicherweise auf alle Lebensbereich ausstrahlt. Wenn ich mir etwas vorgenommen habe, gebe ich nicht auf, bis ich mein Ziel erreicht habe. Ich habe keine Angst vor unbekannten Terrain und ich brauche immer wieder neue intellektuelle Impulse, um meine Zufriedenheit zu spüren.
Meine Frau ist in einem ähnlichen Milieu groß geworden und doch hat sie eine ganz andere Persönlichkeitsstruktur. Sie denkt geradeaus und hat die seltene Fähigkeit, sachlich und pointiert ihre Standpunkte darzulegen. Sie ist eine kleine und starke Frau, die beim Gehen ihren Kopf immer leicht anhebt und die absolut mit sich im Reinen zu sein scheint. Allerdings schlummern in ihr auch die kleinen Monster der Unzulänglichkeiten. Sie hat sie nur besser unter Kontrolle und ist immer wieder darauf bedacht, ihre inneren Kämpfe still mit sich selbst auszutragen.
Wenn man sie fragt, ob irgendetwas was nicht in Ordnung sei und als Antwort ein Nix bekommt, sollte man in Deckung gehen. Die Bombe in ihr könnte jederzeit platzen. Oft schafft sie es, sie zu entschärfen, aber manchmal fliegt die Bombe allen um die Ohren.
Zudem sind wir beide Menschen, die sich mit vielen Themen intellektuell auseinandersetzen, oft gemeinsam in intensiven Gesprächen, aber bei manchen Themen denken wir für uns alleine.
Gerade in Bezug auf Musik und Literatur sind wir höchst unterschiedlich gepolt. Ich mache mich immer lustig über ihre Ahnungslosigkeit in Sachen Musik. Am liebsten dudelt sie die alten Techno- und Grungehits aus den Neunzigern vor sich her (was an sich schon eine krasse Mischung ist). Ich habe alle möglichen Stilrichtungen und Epochen, Pop, Rock, Heavy, ProgRock, Elektro, Minimal, Klassik von frühester Kindheit erforscht und durchdrungen. Die Musik war für mich neben der Literatur die Möglichkeit mich selbst zu bestimmen und die Lieblosigkeit meiner Umgebung zu überwinden. Meine Frau und ich haben beide einen emotionalen Zugang zu Musik. Bei mir ist es nur so, dass ich ständig heulen muss, weil ich ergriffen bin und sie sucht das heillose Vergnügen in schönen Melodien.
Noch schlimmer ist es bei der Literatur. Natürlich haben wir einen gemeinsamen Kanon, der aber irgendwie immer kleiner wird. Ich lese typische „Männerliteratur“ (ja auch Hannah Ahrendt hat Männerphilosophie betrieben, ihr blieb nichts anderes übrig), große kluge Männerköpfe, die entweder mit großen Wortkaskaden die Welt durchdringen und beschreiben oder mit ihren komplexen und natürlich politisch gefärbten Texten alles nur noch komplizierter machen wollen. Sie liest „Frauenliteratur“, Bücher (manchmal auch von Männern geschrieben), emotionale Schlachtschiffe, Familienepen, immer leicht esoterisch angehaucht.
Ich glaube der letzten kleine gemeinsame Nenner war dieser Franzose, Edouard Louis, mit seinen ersten zwei Büchern, die ja irgendwie neben viel Sozialkritik auch eine Familiengeschichte erzählen und in seiner gesamten Tragik sehr emotional rüberkommen, die perfekte Mischung zwischen unserem Verständnis von Männer- und Frauenliteratur.
Meine Frau könnte niemals Gefallen an Thomas Pynchon finden und ich könnte niemals diese Ferrante-Trümmer lesen.
Als sie meinen Roman zum ersten Mal in die Finger bekam, hat sie die Struktur zu Recht kritisiert und ich habe ihn noch einmal komplett überarbeitet. Und weil ich von ihrem klaren Urteil begeistert war, habe ich ihr die zweite Version wieder zum Lesen gegeben.
Monatelang habe ich sie angebettelt, sie möge doch die dreihundert Seiten über sich ergehen lassen, sie müsse mir doch nur mitteilen, ob der Text ihre formalen Kriterien eines guten Romans erfülle (Ihre Vorgabe war: schreib deinen Roman wie deine Kurzgeschichten).
Sie hat sich gewunden, Ausreden gesucht, naja der Sommer war stressig, die Pandemie, wir haben unser Haus modernisiert, habe ich ja gerne Verständnis für aufgebracht. Jetzt nach einem knappen dreiviertel Jahr hat sie mir ihr Urteil über das erste und zweite Kapitel überbracht. Das wäre ja alles total unglaubwürdig. Sie käme ganz schwer in die Geschichte rein. Die zwei Hauptfiguren seien so arrogant und unsympathisch. Warum sie mit dieser Amerikanerin durch Florenz laufen, dass macht ja überhaupt keinen Sinn! Ich habe sie dann darüber aufgeklärt, dass das ganze Buch schon einen gewissen Spannungsbogen habe und die Entwicklung der Figuren das ganze Buch in Anspruch nähme, man am Ende erst die Zusammenhänge verstehe und man ja auch deshalb das Buch lese, weil man die Auflösung am Ende erwarte. Dann habe ich noch irgendetwas von Suspense a la Hitchcock erzählt, ist ja auch so ein Männerding, nackte blonde Frauen, die in Duschen gemeuchelt werden. Sie ist während meiner Ausführungen vor mir weggelaufen und als ich sie im Wohnzimmer in die Enge getrieben hatte, hatte ich noch ein Beispiel parat: Der talentierte Mr. Ripley! Der arrogante Narzisst, die die ganze Zeit damit verbringt seine Verbrechen und seine Identität zu verbergen. „Von einer Frau geschrieben“, rufe ich aus. Meine Gattin starrte mich ungläubig an. Was denn das für ein Beispiel sei? Nachdem sich die Gemüter beruhigt hatten, versprach sie mir, meinen Roman zu Ende zu lesen. Sie könne allerdings immer nur vier oder fünf Seiten lesen und dann müsse sie aufhören, weil sie der ganz abgehobene Sprachduktus nerve. Sie hat mir dann noch meine Flüchtigkeitsfehler vorgeworfen.
„Du hast außerdem geschrieben: Er ist zur Tür hinausgeschlürft!“
Während sie das Wohnzimmer verließ, um sich wieder ihren Arbeiten zu widmen, amüsierte sie sich über meinen Fauxpas. Zu meiner Verteidigung rief ich ihr noch hinter her, dass das jedem Autoren passiere und dass es deswegen nun einmal Testleser und ein Lektorat gäbe. Sie hat es absichtlich überhört.
So haben sich also Autoren gefühlt, die mit ansehen mussten, wenn Marcel Reich-Raniciki ihre Bücher im literarischen Quartett verbal vernichtet hat. Mittlerweile bin ich alt genug, um auch daran nur das Positive zu erkennen. Wenn ich die Kritik meiner Ehefrau überlebe, muss ich mich vor keinem anderen Kritiker mehr ängstigen. Vielleicht ist das der ganze Clou an der Sache. Ich habe vielleicht in dem Bewusstsein, dass mir nichts mehr geschehen könne, wenn meine schärfste Kritikerin meine Ehefrau wird, diese Frau geheiratet. Wer weiß das schon?