Reihe 3 – Platz 58 und 59 – Romeo und Julia

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Gehe ich müde und abgespannt ins Theater, hat jede Inszenierung einen schweren Stand bei mir. Erschwerend kam hinzu, das Romeo und Julia auf dem Spielplan stand. Dieses Stück hat man schon so oft durchgenudelt, das ich wenig Lust hatte, der Inszenierung meine volle Aufmerksamkeit zu widmen.

Entweder gehen die Leute in das Stück,

1.       weil sie Abonnenten sind und ihnen nichts anderes übrig bleibt (so wie bei mir).

2.       weil sie den Kinofilm gesehen haben und nun hoffen, dass Leonardo di Cabrio und Claire Homeland Danes auf der Bühne herumspringen.

3.       weil sie irgendwann einmal unsterblich verliebt waren und aus Sentimentalität mit der Mutter aller Romanzen noch einmal ins Bett gehen wollen.

Wahrscheinlich hat man in Gießen den Umgang mit dem Stoff eher sportlich betrachtet. Im Prinzip kann man das Stück nicht neu erfinden, man kann nur auf die Feinheiten aufmerksam machen, es grell auf andere Weise in Szene setzen oder der allgemeinen popkulturellen Vorstellung Folge leisten.

Die Gießener Inszenierung folgt den ersten beiden Möglichkeiten. Man hat sich glücklicherweise gegen den Kitsch auf der Bühne entschieden.

Unsere Vorstellung von Romeo und Julia ist davon geprägt, dass es um eine Liebesgeschichte mit tragischem Ende geht. Aber eigentlich ist der Hass die Grundlage für die Liebesgeschichte. Zwei verfeindete Familien, die seit Jahren im Clinch miteinander liegen und die noch nicht einmal mehr wissen, warum sie sich hassen, bedrohen den Frieden einer ganzen Stadt.

Das Stück beginnt mit Bürgern in Fahrradklamotten, die einzeln oder im Chor über den Krieg der Familien referieren, der die Zwietracht zwischen den Bürgern von Verona gesät hat. Der Bürgerchor wird fortan einer der Hauptpersonen des Stückes sein. Die Stimme des Volkes erhebt sich schrill über die Handlung und soll an die Gegenwart erinnern. Schließlich vertieft auch heute der Hass auf irgendetwas die Gräben zwischen den Menschen. Damals wie heute war der Hass oft Selbstzweck. Keiner weiß eigentlich mehr worum es geht, aber jeder beschwört Vorurteile, um die gegnerische Partei herab zu setzen und sich selbst über den anderen zu erheben.

Die Damen hat man in Retrostyle mit grünen Perücken gesteckt. Die Herren mussten alle lange Haare und Gymnastikleibchen in Pastellfarben tragen und irgendwie wild und verwegen aussehen. Romeo ist der Einzige, der mit weichem Blick die Welt ausmessen darf. Alle anderen Herren und Damen sind ständig auf Krawall aus. Die Liebesgeschichte zwischen Romeo und Julia hat man erhalten, aber man erschwert ihr die Entfaltung. Die Liebenden haben es in dieser Inszenierung doppelt schwer. Erst der brutale Familienzwist und dann noch das unterkühlte Umfeld, in dem jede melancholische Gefühlsäußerung zur Parodie gefriert. Julias erscheint zu allererst als singendes Tüllknäul, das vom Himmel herabschwebt und als es von den Halteseilen losgelassen wird, erst einmal völlig desorientiert über die Bühne rollt. Genauso werden die berühmte Balkonszene und die genauso berühmte Schlafzimmerszene durch das kühle Ambiente karikiert. Romeo und Julia können in diesem transparenten Raumschiffgebilde, das man auf die Bühne gehängt hat,  nicht schwülstig den Text runterzurasseln. Sie müssen sich wirklich anstrengen, um ihr Verliebtsein glaubwürdig dem Publikum zu vermitteln. Die Schlussszene wird dem Anliegen geopfert, dem Hass mehr Raum als der Romanze zu geben. Sie wird nicht gespielt. Die Schauspieler rezitieren den Text. Das eigentliche Drama um das versehentliche Sterben der Liebenden wird so zur beiläufigen Textstelle und verliert an Bedeutung.

 Meiner Müdigkeit hat das alles keinen Abbruch getan. Nach der Pause habe ich fast jede Sekunde gegen das Gähnen ankämpfen müssen. Die Aussicht auf eine lange Schlussszene hat mich mehrmals wegnicken lassen. Ich kann mich nur daran erinnern, dass ich plötzlich wach wurde, als die Szene in der Familiengruft viel zu schnell endete.

Niemand der Beteiligten kann etwas für meine Müdigkeit. Deshalb alle Daumen hoch. Der veränderte Schwerpunkt der Inszenierung, die engagierte Leistung des Schauspielensembles, insbesondere von Julia (Esra Schreier) und Romeo (Magnus Pflüger), die noch mehr Widerstände als in gewöhnlichen Inszenierungen überwinden mussten und es trotzdem geschafft haben, mit ihrem Spiel den Hass ihrer Familien zu überwinden und sich unsterblich ineinander zu verlieben, ist es zu verdanken, dass dies ein sehenswerter Theaterabend war.

 

Heimat

Zwei weitere Autoren gilt es noch vorzustellen. Beiden ist gemeinsam, dass sie sich an der hessischen Provinz abgearbeitet haben: Andreas Maier und Roderich Feldes.

Roderich Feldes Texte haben als Schauplatz zumeist das mittelhessischen Hinterland. Er ist 1996 gestorben. Leider viel zu früh. Vielleicht ist dies ein Grund, warum er als Autor nie die Popularität erhielt, die er verdient hätte.

Der Kern seiner Texte dreht sich oft um die Veränderung des dörflichen Lebens in Mittelhessen beschäftigt. Das Dorf als Anker für die Gemeinschaft der Einheimischen veränderte sich in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts radikal. Eine abseits liegende Welt öffnet sich. Mit dem einkehrenden Wohlstand übernimmt sie unreflektiert alle äußeren Einflüsse und passt sie auf die Heimat an. Die Straßen und Häuser werden größer und breiter. Überall werden Wohngebiete aus dem Boden gestampft. Alle bauen schicke Einfamilienhäuser, parken ihre kleinen Autos davor, stellen sich den Fernseher ins Wohnzimmer, sammeln dort den Plunder aus den Fabriken dieser Welt und vereinzeln sich. Die Gemeinschaft stirbt zugunsten des Konsums. Es zählt nur das Glück des Einzelnen, dass dieser niemals erreichen kann, weil der Besitz vieler Dinge nur scheinbar Zufriedenheit schenkt. Feldes Bücher handelten oft vom Aufbrechen der Oberflächlichkeit. Unter einer dicken Kruste aus Belanglosigkeit schlummert die Sehnsucht nach etwas Anderem.

Feldes ist kein Heimatdichter. In diesem Sinne ist er mir sehr nahe. Er beobachtet die Veränderungen und weiß, dass sie nicht aufzuhalten sind. Das alte Leben kann man nicht retten, indem man es verherrlicht. Heimatdichter verklären die Vergangenheit. Feldes beschreibt die Orientierungslosigkeit der Menschen, deren Heimat ihnen keine Orientierung mehr gibt. Insofern ist er mein heimliches Vorbild bei meinem Projekt.

Roderich Feldes unterscheidet sich von sogenannten Heimatdichtern durch seine literarische Qualität. Genauso wie er die Veränderungen der Menschen und ihrer Umgebung durchdringt, widmet er sich der Ambivalenz der Sprache, die sich wie die Menschen verändert. Es gibt in unserer Gegend eine sehr starke Diversifizierung der Dialekte. Fast jeder Ort spricht eine kleine Abwandlung des Dialektes des Nachbarortes. Wer zwanzig Kilometer in den Westerwald hineinfährt wird das Platt der Leute dort schon fast nicht mehr verstehen. Aber seit zwei Generationen ist der Gebrauch der Dialekte deutlich auf dem Rückzug. Meine Kinder lernen kein Platt mehr und ich habe es zwar noch von meiner Großmutter gehört, aber selbst nicht sprechen gelernt. Diesen Umstand schlägt sich bei Roderich Feldes nieder. Er verwendet viel Alltagssprache, der hessische Dialekt unserer Gegend kommt nur am Rande vor oder wie in ‚Lilar‘ als Anekdote über das Verschwinden der Dialekte. Er beschreibt häufig aus der subjektiven Sicht eines Erzählers, der sich in einer Alltagssprache ausdrückt. Er fügt Beschreibungen hinzu, die wie literarisches Zierwerk wirken und den Text dadurch die nötige Qualität geben. Hier könnte ich von ihm profitieren. Veränderung wird nicht durch den allwissenden Erzähler referiert, sondern von dem Erzähler, der mitten drin steckt und die Veränderungen am eigenen Leib spürt und aus dieser Perspektive schreibt.

Andreas Maier hat sich in einigen Texten mit der Wetterau, seiner Heimat, auseinander gesetzt. Leider habe ich bisher nur ‚Wäldchestag‘, seinen Debütroman gelesen. Trotzdem sollte ich ihn erwähnen, denn in gewisser Weise beschäftigt er sich auf eine andere Art und Weise mit seiner Heimat als es Feldes getan hat.

Man bemerkt bei Maier, dass er aus einer anderen Schriftstellergeneration kommt wie Feldes. Feldes war geprägt von den Achtundsechzigern. Im Subtext schwelt immer die Kritik an einer entfremdeten Konsumgesellschaft. Bei Maier ist der gesellschaftliche Bezug nicht gegeben. In den Kritiken zu ‚Wäldchestag‘ wird immer wieder die sprachliche Verwandtschaft zu Thomas Bernhard bemüht. Maier hat das Buch im Konjunktiv geschrieben, was zur Folge hat, dass der Text genauso wie die Texte von Bernhard etwas distanziertes, wenig konkretes an sich haben. Es gibt viel Raum für Spekulationen. Hier hat Andreas Maier das richtige Mittel gefunden, da es sich in dem Buch auch viel um Gerüchte und Hörensagen dreht. Die Leute reden übereinander und stellen viele Vermutungen an. Man beschäftigt sich mit dem Anderen mehr als mit sich selbst. Maier geht es nicht wie Feldes, um die Veränderungen im Dorfleben, die zu einer übertriebenen Individualisierung führen, sondern um die Einheimischen, die die Dorfgesellschaft nur am Leben erhalten, um über die Mitmenschen herzuziehen. Viele Stimmen reden im Konjunktiv, alle sind gemein zueinander und wünschen dem Anderen nur das Schlechte. Beim Wiederlesen des Textes ist mir aufgefallen, dass Andreas Maier mich so beeindruckt haben muss, dass ich meinen zweiten Roman auch im Konjunktiv geschrieben habe, ohne dass mir dieser Bezug zu Maier bewusst war. Ich war der Meinung, das sei etwas Besonderes.

Also lerne ich von den beiden Heimatdichtern: Subjektivität schadet nicht. Thomas Bernhard ist immer und überall. Ironie und Boshaftigkeit ist die Realität des Lebens und vielleicht das geeignete Mittel gegen Sozialkitsch und man kann Romane über die Provinz schreiben und trotzdem Literatur auf höchstem Niveau produzieren.

 

 

 

 

Thomas 3

Der dritte Thomas ist ein äußerst unbequemer Erzähler, der vor Nichts und Niemanden halt macht. Thomas Pynchon kann man als Mensch nicht erfassen und auch als Schriftsteller entwischt er einem immer wieder. Wenn man das Gefühl hat, seine Intensionen zu erkennen, wirft er einem mit Absicht Knüppel zwischen den Beinen. Er bemüht ständig den subjektiven Gedankenstrom seiner Figuren. Allerdings auf eine andere Art und Weise wie Thomas Bernhard. Bei ihm ist es ein Chor aus unzähligen Stimmen, Karikaturen, Witzfiguren, die unerhörtes und Unmögliches erleben. Ihm fehlt jegliche Psychologie. Mittlerweile bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass Thomas Pynchon entweder Autist ist oder mindestens ein Aspergersyndrom hat. Er sitzt zu Hause an seinem Schreibtische und muss hochgradig komplizierte Texte schreiben um sich wohl zu fühlen. Die Gefühlswelt anderer Menschen bleibt ihm verschlossen und so werden seine Personen Spielbälle der Geschichte, die unmöglichen Verschwörungen aufsitzen oder sie erfinden. Alles bleibt wage, nichts ist konkret. Sein gesamter Kosmos an Figuren ist scheinbar untereinander verknüpft und doch leben sie nebeneinander her, begegnen sich, trennen sich, finden sich wieder, oft geschieht alles auf mehreren Kontinenten zu verschiedenen Zeiten und doch scheint alles gleichzeitig an einem Ort zu geschehen. Thomas Pynchon ist Meister des Fabulierens. Er schert sich nicht um historische Fakten. Alles wird unter seiner Feder umgeformt und historische Ereignisse gebraucht er nur, um seine abstrusen Phantasien zu schildern. Seine Bücher sind hitzige Fieberträume und genauso lesen sie sich auch. In einem Fiebertraum verschmelzen Wirklichkeit und Phantasie. Menschen, denen man im Fiebertraum begegnet, bleiben oft konturenlos und wirken seltsam unecht.

Seltsamerweise hat Pynchon eine große Leserschaft und einen großen Einfluss auf die Literatur der letzten Jahrzehnte, obwohl er mit seinen ausschweifenden Texten weitab jeglichen Mainstreams liegt. Seine Bücher umfassen oft mehr als tausend Seiten und sind voller Mysterien. Er selbst ist ein Mysterium. Es gibt keine Fotos von ihm. Er gibt keine Interviews und entzieht sich völlig der Öffentlichkeit. So jemand kann nach heutigen Maßstäben nicht zum erfolgreichen Schriftsteller werden. Trotzdem ist er einer der bekanntesten amerikanischen Autoren und hat mit seinem Werk den sogenannten postmodernen Roman geprägt. Der großartige David Foster Wallace hätte meiner Ansicht nach, ohne die Vorarbeit eines Thomas Pynchon, keine Chance gehabt, Leser zu finden. An Pynchon scheiden sich die Geister. Seine Fans vertiefen sich in seine Texte, versuchen der Vielzahl der Personen und Geschehnisse Herr zu werden, während seine Gegner von ihm angewidert sind, weil er z.B. pädophile Szenen schreibt, die er abspult wie ganz gewöhnliche Sexszenen. Ich gehöre weder zu der einen, noch zu der anderen Seite. Ich bin fasziniert von seinen Texten, sowie ich von der ganzen postmodernen Szene fasziniert bin. Viel lieber lese ich aber Don de Lillo und David Foster Wallace, die greifbarer und konkreter in ihren Texten werden und auf Teufel komm raus nicht die Wirklichkeit missachten.

Aber nun ein kleiner Ausschnitt aus die „Enden der Parabel“:

„Schräg über ihm, vier Meter über seinem Kopf, wird Teddy Bloat jeden Augenblick von der Galerie herunterfallen, hat er sich jedoch zum Hinsacken ausgerechnet den Platz ausgesucht, wo irgend jemand vor ein paar Wochen den grandiosen Einfall gehabt hat, zwei der Ebenholzpfosten aus dem Geländer herauszutreten. Nun ist Bloat in seinem Suff natürlich prompt durch die Öffnung gerutscht, sein Kopf, seine Arme und Rumpf hängen schon über der Tiefe, und alles, was ihn oben noch festhält, ist eine leere Champagner-Pikkolo in seiner Hosentasche, die sich irgendwo verhakt hat.

 Inzwischen hat`s Pirat geschafft, sich in seinem engen Junggesellenbett hochzurappeln und die Lage zu sondieren. Was für`n Scheiß. Was für`n verdammter Scheiß. Schon kommt von oben das Geräusch  zerreißenden Stoffs. Blitzartige Reflexe hat man ihm bei der Special Operations Executive beigebracht. Er hechtet aus seinem Bett und versetzt ihm rücklings einen Tritt, so daß er auf seinen Rollen in Richtung Bloat rast. Der stürzt ab und schlägt unter vielstimmigen Gedröhn der Bettfedern quer mittschiffs auf. Ein Bein des Bettgestells knickt ab. „Guten Morgen“, entbietet Pirat. Bloat grinst ihn kurz an, kuschelt sich in Pirats Decke und schläft gleich wieder ein.“

 

Ein großer ständiger Klamauk, alle sind in Bewegung und ständig scheint das Tempo der Ereignisse die Welt aus ihrer Bahn zu tragen. ‚Die Enden der Parabel` erzählt die Geschichte von Tyrone Slothrop, der gegen Ende des zweiten Weltkrieges in London als GI stationiert ist und durch Erektionen die Einschläge einer V2 vorausahnen kann. Der Roman beschäftigt sich nur augenscheinlich mit Slothrop Suche nach den Gründen für seine abstruse Fähigkeit. Der Titel des Buches bezieht sich auf die Flugbahn von Raketen und natürlich spielt auch die Rakete als Phallussymbol eine Rolle. Pynchon zieht den großen Bogen durch den zweiten Weltkrieg, die Herstellung der V2 in Deutschland, die Russen spielen eine Rolle usw. Irgendwann gibt es der Leser auf, die Orte und Geschehnisse noch nachvollziehen zu wollen.

Pynchon wechselt nicht nur oft die Erzähler der Geschichte und deren Perspektiven, sondern unterbricht die Texte durch Liedvorträge. Die Lieder haben zumeist etwas von Seemannsliedern oder Musicalstücken und gewollt oder nicht gewollt sind ihre Reime sehr erzwungen und fast unerträglich. Man könnte meinen, auch hier habe Pynchon sich über seine Leser lustig gemacht. Desweiteren ist Pynchon Sprachkunst nicht unerheblich für den Erfolg seiner Bücher. Unter der Oberfläche gärt das Talent eines wahren Schriftsteller alter Machart, der wunderbar Szenen beschreiben und sich gekonnt in Adjektiven verlieren kann. Ich werde das Gefühl nicht los, dass Pynchon irgendwann beschlossen hat, diese alte Kunst der Beschreibung zu dekonstruieren, um sich darüber lustig zu machen.

Was kann ich von ihm lernen? Gerade hinsichtlich seiner wunderbaren Beschreibungen von Szenerien und Hintergründen, die er wie ein Maler mit größter Sicherheit auf die Leinwand bannt, kann ich viel lernen. Diese Vielstimmigkeit, das Chaos, der Klamauk sind mir nicht dienlich für meine Geschichte. Ich habe nun einmal eine Erzählerin, die stringent berichtet. Trotzdem kann ich mir überlegen, ob ich linear erzählen muss. Insofern kann ich viele Erzählstränge aufbauen und sie verknüpfen oder versuchen, den Leser in die Irre zu führen und sie manchmal Erzählstränge aufzubauen, die sich im Nichts verlieren.

 

Wenn ich nun die drei Thomas zusammenführe und mich an ihnen bediene, was bleibt für meinen Sprachstil übrig? Ich werde meine Figuren psychologisch erforschen müssen, meine Erzählerin wird vollkommen subjektiv berichten, ich brauche viele Erzählstränge, meine Beschreibungen müssen kunstvoll in die Geschichte verwoben werden und ich brauche Distanz zu meinen Personen, um nicht des Sozialkitsches anheim zu fallen. D.h. die Prise Ironie, die alle drei Thomas vorgeben, täten meiner Geschichte nicht schlecht. Vielleicht webe ich Versatzstücke, historische Artefakte, zeitgeschichtliche Splitter ein, um das historische Umfeld und dessen Einfluss auf meine Geschichte deutlich zu machen. Dabei ist es wichtig, bei Fakten zu bleiben und nicht die Vergangenheit durchs Fabulieren zu erweitern. Die Figuren erleben die Auswirkung historische Ereignisse, ohne sich dessen bewusst zu werden. Am Ende muss ich die Fäden aus der Zukunft und Vergangenheit zusammenführen.

Damit wir uns klar verstehen: die drei Thomas dienen mir nicht als Vorbild für meinen Sprachstil, sondern sollten mir helfen, mir bewusst zu machen, wie ich Sprache anwenden will, um den Text lebendig werden zu lassen, ihn für den Leser interessant werden zu lassen und natürlich mir den Spaß am Schreiben zu erhalten.

 

Thomas 2

Ich habe nicht viel von Thomas Bernhard gelesen. Wenn ich ehrlich bin, war es nur der Untergeher. Aber ich denke, das der ‚Untergeher‘ repräsentativ für Bernhards Schreibstil stehet. Was ich an Thomas Bernhard sehr schätze ist, dass er sich die dichterische Freiheit heraus nimmt, um Fakten zu frisieren und zu verdrehen. Beim Untergeher geht es um einen Pianisten, der angeblich in Wien zusammen mit seinem Freund Wertheimer und Glenn Gould bei dem bekannten Pianisten Horrowitz studiert hat. Das Seminar hat sein Leben und das seines Freundes total verändert. Sie werden mit dem außergewöhnlichen Talent von Glen Gould konfrontiert und erkennen, dass sie nie seine Klasse erreichen werden. In Wirklichkeit hat Glenn Gould nie in Wien bei Horrowitz studiert.

Jeder hat so sein Bild von Glenn Gould im Kopf. Er war bekannt als extravaganter Sonderling, dessen Talent unbestreitbar war. Der Erzähler und sein Freund sind vielleicht die schlechteren Pianisten, aber die noch größeren Sonderlinge. Mit diesem allseits bekannten Bild von Gould arbeitet Bernhard, um den Leser zu verwirren. Man erfährt über Gould vermeintliche Wahrheiten und man glaubt dem Erzähler, obwohl man ganz andere Dinge über Glenn Gould gelesen hat. Das ganze Buch scheint dazu zu dienen, den Leser zu verwirren, seine Leseweise- und Denkweise auf die Probe zu stellen. Alles kann wahr sein, aber es könnte auch erlogen sein.

Das führt mich zu der Rolle des Erzählers, der absolut subjektiv berichtet. Zwischendurch beschleicht den Leser das Gefühl, dass der Erzähler nur existiert, um die Geschichte des Untergehers zu berichten. Der Erzähler ist das Abbild des Untergehers. Er ist der Mann ohne Eigenschaften, der der Spur seines Freundes und dessen Selbstmord nachspürt, um zu verstehen, warum sein Freund Wertheimer sich das Leben genommen hat. Der Stil besteht aus vielen Wiederholungen, viel ungefährem Geplapper, die Sätze enden mit „denkt er, dachte ich,“ usw.

Hier ein Beispiel:

„Aber der Anfang von Wertheimers Katastrophe war ja schon in den Augenblick eingetreten, in welchem Glenn Gould zu Wertheimer gesagt hat, er sei der Untergeher, das was Wertheimer schon immer gewußt hatte, war von Glenn urplötzlich und ohne Voreingenommenheit, wie ich sagen muß, auf seine kanadisch-amerikanische Art ausgesprochen worden, Glenn hat Wertheimer mit seinem Untergeher tödlich getroffen, dachte ich, nicht weil Wertheimer diesen Begriff dabei um ersten Mal gehört hat, sondern weil Wertheimer, ohne dieses Wort Untergeher zu kennen, mit dem Begriff Untergeher längst vertraut war, Glenn Gould aber in einem entscheidenden Augenblick das Wort Untergeher ausgesprochen hat, dachte ich.“

 Der Text besteht aus nur einem Absatz. Der größte Teil des Textes entspricht dem Gedankengang des Erzählers beim Betreten eines Gasthauses. Er betritt das Gasthaus, dreht sich um, sucht sich einen Platz usw. Sein Gedankenfluss wird nur kurz unterbrochen von Beschreibungen seiner Handlungen in der Gegenwart. Dadurch entsteht der Eindruck der Subjektivität. Aus dem Bewusstseinstrom eines wachen Erzählers entsteht die Geschichte. Dazu gehört auch, dass die Geschichte nicht wirklich einen Anfang oder Ende hat.

Was kann ich davon für meinen Text mitnehmen? Die Erzählerin wird ihre subjektive Sicht erzählen. Es ist die einzige Wahrheit, die der Leser hören wird. Im besten Falle reizt es den Leser zur Spekulation. Dann wäre viel erreicht. Ob ich in Bernhardscher Manier ihren Gedankenstrom darstellen werde, bezweifle ich. Ich finde es sympathisch, sie sprechen zu lassen, ohne etwas hinzu zu fügen. Sie wird selbst die Verknüpfungen zwischen Historie und ihrem Leben heraus finden, ohne dass ich als Autor die Richtung vorgebe. Somit kann ich von Bernhard lernen. Die Wahrheit kann nur der Erzähler herbei lügen. Ich kann ihm nur eine Stimme geben.

 

Nennen wir die Kinder doch beim Namen

Als nächstes beschäftige ich mich ausführlich mit den Personen. Zwei wichtige Personen habe ich schon genannt und ihnen Rollen zugewiesen. Es geht im Folgenden darum, den Personenkreis zu erweitern und diese Personen lebendig werden zu lassen. Dazu gehören Details wie Namen, Charakterbeschreibungen und die Historie jeder Person. Es ist überaus wichtig, ihnen Leben einzuhauchen und dazu gehören nun einmal auch die Herkunft und die Einflüsse, die einen Menschen prägen. Für mich hat es sich als praktisch erwiesen, eine Art Dossier zu jeder Person zu entwerfen. Dabei erstreckt sich diese Feinarbeit auf Hauptpersonen und wichtigen Nebenfiguren. Alles andere führt zu weit und ist wieder kontraproduktiv. Am Ende entsteht ein eigener Mikrokosmos, der die Grundlage für die Entwicklung der Handlung darstellt. Meine Arbeit beginne ich, indem ich mir einen Kreis an Hauptpersonen überlege. Anfangs sind das drei bis fünf Personen. Nach und nach kommen noch ein paar Hauptpersonen hinzu. In diesem Fall ist es einfach: Im Mittelpunkt steht eine Familie. Also: Mama, Papa, Kinder. Sollen es mehrere Kinder sein? Sohn und Tochter oder nur Töchter? Die Hauptperson soll am Anfang der Erzählung ca. 12 Jahre alt sein. Erfahrungsgemäß sind die ältesten Kinder einer Familie am meisten von Konflikten in der Familie betroffen. Sie fechten viele Konflikte für die jüngeren Kinder aus. Sie sind oft diejenigen, die den Streit der Eltern am ehesten zu spüren bekommen, weil niemand älteres da ist, der sie beschützt und ihnen Rat geben kann. Zumeist haben sie die Verantwortung für ihre jüngeren Geschwister. Also bekommt die Hauptperson ein jüngeres Geschwisterkind an die Seite gestellt. Wir nehmen ein Mädchen, das etwas jünger ist, so etwa sechs bis acht Jahre alt. Die Familie besteht aus einem Vater, Mutter und einer Tochter 12 Jahre alt und einer Tochter acht Jahre alt. Ich modelliere erst einmal diese vier zentralen Figuren und erarbeite mir den Familienkosmos. Die Verbindungen und Vernetzungen zwischen den vier Personen müssen vor dem Schreiben schon deutlich erkennbar sein. Z.B. welche Tochter ist ein Vater- oder Mutterkind? Wie fasst die Mutter ihre Rolle in der Erziehung auf? Ist der Vater mit seiner Position in der Familie glücklich? Wie sieht diese aus? Aber am Anfang steht erst eine ganz banale Angelegenheit: Die Menschen brauchen Namen. Ein heikles Thema. Es gibt durchaus Autoren, die die Namen ihrer Figuren mit einer Symbolik beschweren. Das bekannteste Beispiel: Die Ehre der Katharina Blum von Heinrich Böll. Dazu muss man sagen, dass ich nie ein großer Böll-Fan war. Die meisten deutschen Autoren aus der Nachkriegszeit, egal ob Gruppe 47 oder nicht, langweilen mich auf die eine oder andere Weise. Katharina Blum soll unschuldig und vielleicht sogar etwas naiv klingen, naturnah und rein. Wenn man Angelika Winkler in der Verfilmung sieht, denkt man, dass der Regisseur nicht viel von der Namensgebung gehalten hat. Sie wirkt verstört und gebrochen, anstatt naiv und verletzlich. Mit der Symbolik nehme ich es nicht sonderlich ernst. Es sollten in dem Fall der Familie bodenständige Namen sein. Namen, die typisch zu der Zeit der Geburt der Personen war, verbunden mit einem gewöhnlichen häufig vorkommenden Nachnamen. Dahinter steckt nicht die Überlegung die Namen mit Symbolen oder einer Konnotation aufzuladen. Diese Familie ist nicht aus der Zeit gefallen. Sie soll die Auseinanderentwicklung der sozialen Schichten repräsentieren und deswegen sind es Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die nun einmal nicht Baronin von und zu heißen. Das junge Mädchen wird als Erwachsene für die Ausübung ihres Berufes als Schriftstellerin einen Künstlernamen benutzen, der natürlich abgefahren und interessant klingen muss.

Name der Hauptperson:

Jo (hanna) Sommer Hauptperson Künstlername: Alethea Cumberland

Lu (isa) Sommer Schwester

Olaf Sommer Vater

Kerstin Sommer Mutter

Der Fluch der Berliner Republik

 

Die Geschichte beginnt im Jahre 1998 und wird von einer Frau erzählt, die am Beginn der Geschichte zwölf Jahre alt ist und die zweitausendfünf mit neunzehn, nach dem Erwerb der Hochschulreife das elterliche Zuhause fluchtartig verläßt. In der Gegenwart ist die Erzählerin ca. 28 Jahre alt. Sie berichtet als dreiundvierzigjährige aus dem Jahre 2029. Warum Vergangenheit und Zukunft in Relation setzen, um auf die Gegenwart Bezug zu nehmen? Nach meiner persönlichen Meinung haben in 1998 einige Ereignisse stattgefunden, die eine zentrale und nachhaltige Bedeutung für unsere Gegenwart und unsere Zukunft haben. Das Jahr markierte das Ende der Kohl-Ära und der Bonner Republik. Menschen wie ich, die aus einem linksliberalen Umfeld kommen, haben sich viel von dem Ende der Kohl-Regierung versprochen. Grundsätzlich misstrauten wir der Errichtung einer Berliner Republik, weil wir Berlin als Hauptstadt aus historischen Gründen ablehnten. Für mich waren die Kohl-Jahre eine Zeit der konservativen Restauration und die Anti-Epoche zu den aufregenden Aufbruchsjahren ab 1968. Wir wurden von einem Menschen regiert, der voller Selbstsucht nur darauf achtete, dass sein Lebenswerk später in den Geschichtsbüchern glorreich gefeiert wird. Er selbst hat den Beginn seiner Regierung mit einer geistig-moralischen Wende verbunden. Dabei bringen Wendungen eher etwas was neuartiges und spannendes hervor. In diesem Fall verherrlichte Herr Kohl die Errungenschaften der miefigen Kriegsgeneration, die sich immer noch an der Oberflächlichkeit der sogenannten Wirtschaftswunderjahre labte. Es roch alles nach Pfälzer Saumagen und entsprechenden Darmwinden. Mit der Bundestagswahl 1998 endete diese Epoche. Mit Herrn Schröder und Herrn Fischer an der Macht hatte der Marsch durch die Institutionen ihr glorreiches Ende gefunden. Die Grünen waren zum ersten Mal an der Regierung der Bundesrepublik Deutschland beteiligt und alleine diese Tatsache hatte eine euphorisierende Wirkung auf uns. Wir verbanden damit die Chance auf eine Änderung der Energiepolitik. Wir erwarteten durch eine nachhaltige und soziale Ordnungspolitik eine grundlegende Änderung der gesamten Ökonomie. Wir hatten folgende Rechnung aufgemacht: Mit dem Atomausstieg wird die Wirtschaft gezwungen, Ökonomie mit ökologisch sinnvollen Handeln zu verbinden und durch ein grundlegende Reform der Sozialsysteme gelingt eine generationsübergreifende Absicherung der sozialen Gerechtigkeit. Her Kohl hätte schon 1982 die sozialen Systeme reformieren müssen. Leider hat er die Sozialkassen, insbesondere die Rentenkasse, benutzt, um andere Löcher zu stopfen oder Geschenke zu verteilen. Zu guter Letzt stand auf unserem Zettel die Umgestaltung der Familienpolitik. Jungen Menschen wie mir sollte die Gründung einer Familie erleichtert werden. Bis Ende der Neunziger hatte man das Gefühl keine Kinder in die Welt setzen zu können, ohne Angst vor Armut haben zu können. Bis zu diesem Zeitpunkt sollten die Frauen sich bitte schön als Hausfrau betätigen und aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Allerdings sah die Wirklichkeit anders aus. Man brauchte seit der Mitte der Neunziger mindestens zwei Einkommen in einer Familie, um sich nicht völlig vom Wohlstand abzukoppeln, da die Belastungen durch die Wiedervereinigung fast nur durch die Arbeitnehmer geschultert werden sollten. Unsere Rechnungen gingen nicht auf und Erwartungen wurden fast alle enttäuscht. Mit dem Atomkonsens 2000 hatte man mit vielen Kompromissen, die fast wie eine Anbiederung an die Energieunternehmen wirkten, die Abschaltung der AKWs in ferner Zukunft erreicht. Zudem nahm die Koalition aus CDU und FDP diesen Beschluss wieder zurück, um dann nach Fukushima mit einem radikalen Kurswechsel die wirkliche Energiewende einzuleiten, die wahrscheinlich scheitern wird, weil man durch die unzähligen halbherzigen Versuche, die Energiepolitik in den Griff zu bekommen, es versäumt hatte, geeignete Infrastrukturen für diese Energiewende zu schaffen. Die Sozialsysteme wurden nur insoweit reformiert, dass mit den Änderungen die deutsche Wirtschaft zwar wettbewerbsfähiger wurde, allerdings zu Lasten der sozialen Gerechtigkeit. Die Hartzreformen haben einen Keil in die Gesellschaft getrieben. Sozial Schwache wurden stigmatisiert, weil sie generell unter Generalverdacht standen, ihren Zustand selbst herbei geführt zu haben. Die Rente mit siebenundsechzig halte ich persönlich für eine der besseren Ideen der rotgrünen Regierung und seltsamerweise ist dies der Errungenschaft mit der die SPD am meisten hadert. Jetzt haben wir wieder eine Rente mit dreiundsechzig, die komischerweise nicht wirklich den Arbeitern, die sich im Stahlwerk den Buckel krumm gearbeitet haben hilft (das war ja das Lieblingsargument von Frau Nahles), sondern den Schreibtischtätern aus dem Dienstleistungsbereich hilft, die jetzt wieder schneller heimgeschickt werden dürfen, weil man sie nicht mehr braucht. Die Familienpolitik hat Herr Schröder als Gedöns abgetan. Erst Frau von der Leyen, eine Urkonservative mit sieben Kindern, die sich aber als Ärztin trotz vieler Kinder im Beruf durchsetzen konnte und der auch bewusst war, dass sich Normalverdiener keine Kinderfrau leisten können, hat die Familienpolitik in Deutschland modernisiert. Und das soll man noch einmal sagen, Politik kennt keine Ironie. Ganz zu Beginn hat die Schröder-Regierung den Finanzmarkt liberalisiert, weil es in den angloamerikanischen Ländern en Vogue war mit der grenzenlosen Gier der Banker das Wirtschaftswachstum anzufachen. Da Deutschland auch einen Strukturwandel weg von den alten Industrien zu neuen Branchen erlebte und man den Finanzplatz Deutschland für ausländische Investoren interessant gestalten wollte, gab man jeglichen Ordnungsrahmen für Finanzmärkte leichtfertig auf. Mit erheblichen Folgen, wie es sich in der Finanzmarktkrise 2007 gezeigt hat.

Indiana Jones ist ein Langweiler !?

  Mir war es wichtig, neben den realistischen Handlungsorten, die Charaktere der Personen vorzuformen. Ich wollte Personen auftreten lassen, die ich vorher kennen gelernt hatte, über deren Innerstes ich mir vorher Gedanken gemacht habe. Gerade bei den Hauptpersonen ist es wichtig, dass mir klar ist, wie sie in den einzelnen Situationen zwangsläufig handeln werden. Welche Handlungsweise passt zu welchem Charakter? Diese Frage war für mich essentiell, weil ich bei früheren Projekten Personen aufgebaut habe und sie dann unglaubwürdig gehandelt und so den Plot und die Metaebene in Verruf gebracht habe. Teilweise habe ich ganze Kapitel umschreiben müssen. Diesen Aufwand wollte ich nicht noch einmal bei der Korrektur eines Textes betreiben. Durch gute Vorarbeit ist dieser Fehler leicht vermeidbar. Um es zu verdeutlichen: Stellen Sie sich vor, sie schreiben etwas über Indiana Jones, der Inbegriff der Tatkraft, der keine Risiken scheut und keiner Gefahr aus dem Weg geht und sie lassen ihn einfach zu Hause bleiben und stellen dar, dass er als Weichei zu Hause sitzt und sich anstatt um archäologische Rätsel um seine Briefmarkensammlung kümmert. Er sitzt abends gramgebeugt und halbblind bei Kerzenschein und zieht mit einer Pinzette an irgendeiner alten Briefmarke herum, während seine Ehefrau ihn auf der anderen Seite des Tisches sitzend anschnauzt, dass er endlich den Müll herunterbringen soll und er ihr mit weinerliche Stimme entgegnet, dass er Angst habe bei Dunkelheit in den Garten zu gehen. Okay, es würde funktionieren, wenn sie eine Satire über Indiana Jones schreiben wollen, aber das wollen sie nicht. Sie wollen, das Indiana Jones als ihre Figur glaubwürdig ist und sich tummelt, um gefährliche Abenteuer zu bestehen. Wenn sie jetzt wollen, dass Indiana Jones sich aus dem Sessel schält und seine Peitsche schwingt, werden sie passende Formulierungen dafür finden. Allerdings glaubt ihnen das kein Leser mehr. An der Stelle klemmt die Geschichte und egal was sie schreiben, sie können es nicht mehr retten.

In meinem Fall habe ich mir die Freiheit genommen, ca. fünf bis sechs Personen vorzuzeichnen. Es betrifft Personen, die miteinander in Verbindung stehen, die familiär aneinander gebunden sind und alleine dadurch bestimmte Handlungsweisen vorbestimmt sind. Alle anderen Personen, die den Protagonisten an den Stationen der Reise begegnen, habe ich erst im Laufe der Geschichte entwickelt. Ansonsten hätte ich die Geschichte komplett vorschreiben müssen. Dieses Korsett hätte mich persönlich beim Schreiben gehemmt. Die Stationen der Weltreise waren geplant und es war vorgegeben, dass sie am Ausgangsort enden musste. Ein Kapital im hinteren Teil sollte einen phantastischen Teil enthalten. Ich nannte es „Reise zum Mond“ und habe anfangs wirklich gedacht, ich schicke die beiden Protagonisten auf den Mond. Im Nachhinein machte es keinen Sinn. Allerdings schrieb ich eine Art Traumszene, die sich gut in die Handlung eingefügt hat und sie auch voranbringt. Meine Geschichten sollen immer einen irrealen Teil, eine Phantasie, einen Traum, ein Wahnvorstellung enthalten, ohne dass die eigentliche Geschichte aus dem Ruder läuft. Ein kleiner Spleen, der mich in die Nähe mancher postmoderner Autoren bringt, deren Texte oft zwischen Wirklichkeit und Wahn schwanken. Ansonsten ließ ich alles andere offen. Somit habe ich für meine Verhältnisse relativ viel Zeit mit der Vorbereitung verbracht. Irgendwann kam der richtige Moment, um mit dem Schreiben der Geschichte zu beginnen. Ich hielt es nicht mehr aus, fühlte mich gut gerüstet und wollte endlich loslegen.

 

Toll und jetzt!?

  Ich habe eine Metaebene! Wunderbar!! Habe ich dadurch eine Geschichte? Nein! Hier beginnt die wirkliche Arbeit. Es gibt auch hier mehrere Ansätze und viele unterschiedliche Herangehensweisen. Im Grunde geht es wie bei jeder handwerklichen Arbeit um die Arbeitsvorbereitung. Die verschiedenen Ansätze unterscheiden sich darin, wie intensiv man vor dem Schreiben der eigentlichen Geschichte durch Recherche, Festlegen der Handlung usw. den Schreibprozess abkürzen will. Manche Autoren stürzen sich mit einer wagen Idee in die Schreibarbeit und legen los, ohne einen konkreten Plan zu haben. Manche haben jahrelange Recherche betrieben und sich um Atmosphäre und Fakten gekümmert, konkrete Handlungsabläufe vorgegeben, alle Personen inklusive Nebenfiguren ausmodelliert und schon Plot inklusive Exposition, Klimax und Ende wie in einem Drehbuch festgelegt, um dann nur noch den Text auszuführen. Beides hat seine Berechtigung und beides führt am Ende zum fertigen Text.

Im Laufe meiner Entwicklung als Autor habe ich mich vom Schreiben aus dem Bewusstseinsstrom heraus verabschiedet und mich zum Autor entwickelt, der eine gewisse Vorarbeit leistet und sich grundsätzlich Gedanken um den Plot macht. Ich schreibe erst den Text, wenn ich das Gefühl habe, die Bausteine des Plots fügen sich zu einem Ganzen zusammen. Früher wiederholte ich unablässig das Mantra, dass recherchierte Geschichten automatisch schlecht sein müssten, weil die Geschichten nur aus einer Aufzählung von Fakten bestehen und dadurch dem Text der Tiefgang fehlt. Ich habe als Beispiel immer die Texte von Tom Glancy angeführt. Aber eigentlich wollte ich nur einen guten Freund ärgern, der ein Fan von Tom Glancy war. Als Retourkutsche hat er alle meine Texte im Vorhinein abgetan mit den Worten: „Das kenne ich doch schon. Das hat ein Anderer vor dir geschrieben.“ Mittlerweile recherchiere ich viel, da ich begriffen habe, dass gute Recherche mir ein Fundament gibt und meine Möglichkeiten erweitert. Ein Beispiel dafür ist mein Roman „Kommt“. In diesem Roman geht es um zwei junge Männer, die um die Welt reisen, um den Vater des einen Protagonisten zu finden. Dabei sollten die zwei Jungs möglichst viele Länder bereisen und nicht nur als Touristen auftreten. Sie sollten Einheimische, die Kontakt mit dem Vater hatten, in ihrer gewohnten Umgebung aufsuchen. Sie bereisten Indien, USA, Russland, Brasilien, Italien usw. Einige der Reiseziele kannte ich aus eigener Anschauung. Die erste Station der Reise spielte in der Toskana, seltsamerweise in der Gegend, die ich 2007 mit meiner Frau durchwanderte. Ein anderer Teil der Reise führte nach Paris, auch dort war ich schon mehrfach. Ein Kapitel behandelte Freiburg und Umgebung. Einige meiner Familienurlaube in den letzten fünfzehn Jahren haben mich in den Schwarzwald geführt. Ich bin aber nicht polyglott genug, um nach Brasilien zu reisen, auch bin ich kein Freund von Kreuzfahrten und ferne Länder wie Indien erschrecken mich eher, als das ich sie bereisen will. Also habe ich Reiseführer gelesen. Möglichst welche, die sich mit den einheimischen Sitten und Bräuchen und nicht mit Ferienclubs auseinandersetzen. Ich habe im Internet bestimmte Reiserouten für Kreuzfahrtschiffe studiert und mich über die Möglichkeiten einer Reise auf einem Frachtschiff informiert. Die Recherche hat insgesamt ca. ein Jahr in Anspruch genommen und ich denke, ich werde insgesamt mit den Philosophiebüchern die ich noch lesen wollte, um gewisse Elemente bestimmter Philosophen in die Geschichte einfügen zu können, ca. 15 bis 20 Bücher gelesen haben. Ich wollte beispielweise das Verhältnis zwischen Heidegger und Adorno auf die Schippe nehmen, weil es in Wirklichkeit ein absolutes Nichtverhältnis zwischen Naziprofessor und emigrierten Juden war und Adorno mit einer gewissen persönlichen Motzhaltung Heidegger auf philosophischer Ebene angegriffen hat und Heidegger zumeist einfach nicht darauf reagiert hat. Also habe ich ungefähr drei Bücher von Adorno gelesen und natürlich ‚Sein und Zeit‘ von Heidegger gelesen und dementsprechend Sekundärliteratur bemüht. Diese ganze Recherche nahm wenig Einfluss auf die Handlung, aber viel Einfluss auf den Handlungsrahmen. Meine roter Faden hat sich dadurch nicht geändert, aber ich konnte dem Text neue interessante Nuancen hinzufügen und musste mir nicht im wahrsten Sinne irgendetwas aus den Fingern saugen. Der Text wirkt hoffentlich plastischer und realistischer und neben dem Spaß, den ich dabei hatte, konnte ich meinen Horizont erweitern.

Metaebene für Projekt X

Die Metaebene für mein Projekt X beruht auf der Annahme, dass gesellschaftliche Werte in rein dialektischer Form, als reine Gegensätze und Widersprüche konstruiert werden. Es gibt zu jeder positiven Eigenschaft ein negatives Gegenbild. Wir haben uns daran gewöhnt, Menschen in schön und hässlich, arm und reich, gescheitert und erfolgreich einzuteilen. Kategorien, die zuerst nur eine Einschätzung widergeben, die anfänglich nicht unbedingt eine gesellschaftliche Realität darstellt. Daraus ergeben sich verheerende Entwicklungen für die komplexen Vernetzungen zwischen Menschen, die aufgrund eines ständigen Drangs zur Vereinfachung nicht nur nach den simplifizierten Gegensatzpaaren kategorisiert werden, sondern allmählich zur gesellschaftlichen Relevanz und damit zur Realität werden. Der Vereinfachungstrieb hat uns Menschen erfasst und man könnte viele anthropologische Untersuchungen durchführen, um herauszufinden, ob dieser Trieb nicht im Menschen seit je her angelegt ist. Eine Tatsache ist auffällig: viele reden von der Intransparenz der Welt, als sei sie eine Entwicklung der Neuzeit. Dabei wird schnell vergessen, dass die Erkenntniskraft der Menschen schon immer auf ihr kleines Umfeld beschränkt war und es Menschen schwerfällt, über den Tellerrand zu schauen. Es gibt immer nur einige wenige, die mutig und neugierig genug sind, um die Welt außerhalb einer kurzen Reichweite zu entdecken. Ich befürchte, dass es sich um eine Ausrede handelt. Man bleibt in seiner Komfortzone, wenn man nicht hinschauen muss und kann schnell Urteile über Mitmenschen fällen. Haben wir nicht gelernt, dass der erste Eindruck bei der Begegnung mit einem Fremden sich im Folgenden bestätigt? Sie treffen einen fremden Menschen. Sie machen das tagtäglich dutzendfach. Sie gehen in den Supermarkt einkaufen und nehmen die anderen Kunden und die Angestellten des Supermarktes wahr. Wie viele Sekunden brauchen sie, um über jeden dieser Fremden ein Urteil zu fällen? Seien sie ehrlich! Es sind wenige Sekunden. Welche Etiketten kleben sie an die Fremden und welche Eigenschaften gestehen sie aufgrund der Etiketten den Menschen zu? Der guckt aber unfreundlich, man der hat auch so Falten auf der Stirn und die Klamotten, die der anhat, jetzt kauft er auch noch Zigaretten, ganz bestimmt Kettenraucher, wahrscheinlich auch noch Alkoholiker, siehste er hat sich eine Kiste Bier gekauft, ich kaufe mir immer nur einzelne Flaschen, eine ganze Kiste würde bei uns schlecht werden, dieses teigige Gesicht, ganz klar, der hat Probleme, wahrscheinlich schlägt er seine Frau….Wissen sie, ob der Mann nicht vielleicht gerade von der Arbeit kommt, noch seine Arbeitsklamotten trägt und er müde und gereizt ist, weil sein Tag sehr kräfteraubend war und er nur nach Hause will? Den Kasten Bier besorgt er sich für eine Feier, die er am Wochenende ausrichten will. Er hat alte Freunde eingeladen, die er schon seit Jahren nicht mehr gesehen hat und dies ist momentan seine einzige Freude. Wahrscheinlich wird jeder von den Gästen zwei oder drei Flaschen Bier trinken. Das Rauchen hat er schon vor Jahren aufgegeben. Allerdings gönnt er sich im Kreise seiner Freunde den Genuss, eine paar Zigaretten zu rauchen. Es mag ihm ein angenehmes Gefühl für den Moment geben. Am nächsten Morgen wacht er auf und denkt nicht an die Zigaretten, sondern an seine Frau, die letztes Jahr an Krebs gestorben ist. Er blickt auf die leere Stelle im Ehebett und es überkommt ihn der Schmerz und die Trauer darüber, dass er viel zu früh die Liebe seines Lebens verloren hat…..und sie haben aus dem armen Kerl einen gewalttätigen Säufer gemacht. Aber trösten sie sich: sie denken so, ich denke so und wir finden uns schnell bestätigt. Es gibt nur noch erfolgreiche, wohlhabende, schöne Menschen oder gescheiterte, arme und hässliche Menschen. Dazwischen gibt es recht wenig. Wir gestehen niemanden zu, dass unsere Einschätzung falsch ist und dass er einen Grauton abbildet. Es ist nicht nur so, dass die Durchdringung der Grautöne vermieden wird, es ist auch so, dass Menschen die Grautöne als Teil ihres Daseins ausschließen wollen. Alle streben nach der positiven Seite und bewundern die, die auf der vermeintlich positiven Seite wohnen. Ihnen wird auch nicht mehr die Möglichkeit des Scheiterns eingeräumt. Schauen sie sich Sportler an. Wehe sie werden zweiter oder dritter. Man ist fast beleidigt, wenn der persönliche Held oder die favorisierte Mannschaft verliert und gesteht ihnen nicht zu, das Scheitern zur sportlichen Karriere dazugehört und das aus der Niederlage ein erneuter Erfolg oder eine Läuterung erwachsen kann, die den Sportler zum interessanteren Menschen macht. Ist einmal jemand sozial abgestiegen, ist er abgestempelt und bekommt wenige Chancen zum sozialen Wiederaufstieg. Man ist sozusagen in seine Kaste hinein geboren worden und warum sollte aus einem Jungen mit Migrationshintergrund und mit Eltern, die noch nicht einmal richtig Deutsch können, eines Tages ein erfolgreicher Anwalt werden? Diese Optionen erkennen wir nicht mehr an. Alle Errungenschaften der letzten zweihundert Jahre Aufklärung scheinen sich langsam aufzulösen. Zum Glück gibt es die Grautöne und die Wirklichkeit bietet uns genügend Geschichten und Schicksale an denen man als Autor zeigen kann, dass ein wertvolles Leben, ein gut geführtes Leben von unendlich vielen Faktoren abhängt und es eigentlich nicht im Auge des Betrachters liegt, der leichtfertig sein Urteil fällt, sondern in der Perspektive desjenigen, der das Leben führt. Eine weiterer Aspekt: Wir fällen nicht nur ungerechte Urteile, wir schielen nach den Urteilen der Anderen und richten uns Handeln danach aus. Unser Handeln scheint holzschnittartiger zu werden und vollkommen auf Außenwirkung abgestellt. Wir beobachten und werden beobachtet. Wir legen keinen Wert mehr auf die Betrachtung der eigenen Innerlichkeit, des Selbstbildes. Meine Metaebene bildet einen Hintergrund, der vielfältige Ansatzpunkte bietet und es mir schwer machen wird, die Linie zu halten. Das ist meine Herausforderung und ich bin gespannt, ob ich beim Entwickeln der Geschichte zu jeder Zeit darauf Rücksicht nehme oder unweigerlich ins Ungefähre abschweife.

 

Judith Hermann- Aller Liebe Anfang und die Metaebene 3

Was macht sie? Ein Beispiel:“Jason sagt nichts, und Stella schweigt ein wenig und sagt dann, ich möchte vielleicht gerne im Center an der Kasse sitzen. Ich möchte Kaffee und Crossaints verkaufen in diesem kleinen Stand da in der Mitte der Halle. Ich möchte eine Saison lang Erdbeeren pflücken. Eine Ausbildung zur Floristin machen. In der Buchhandlung aushelfen. Im Büro rumsitzen, so wie Paloma. Ich möchte vielleicht Paloma sein? Stella fällt ein, dass es riskant sein könnte, mit Jason über Ideen von einem anderen Leben zu sprechen, einen anderen Beruf. Was soll er dazu sagen? Aber er lacht jetzt, leise, und sagt, dann mach doch einfach. Nicht Paloma sein, aber alles andere- warum machst du`s es nicht einfach. Weil es nicht einfach ist, sagt Stella. Für mich jedenfalls nicht einfach. Nichts kommt mir einfach vor auf dieser Welt, außer vielleicht, für Ava das Abendbrot zuzubereiten oder die Betten neu zu beziehen oder das Geschirr ordentlich abzuwaschen.“

Mal abgesehen vom Sprachduktus, der eher nach Sendung mit der Maus als nach ernsthafter Literatur klingt und mit dem Frau Hermann ihren Figuren als naiv und leicht schwachsinnig demaskiert, ist inhaltlich ausgedrückt, worum es in den Roman anscheinend geht. Ein junges Paar, ein Kind, er, Jason, Fliesenleger, der für andere Häuser am See baut und irgendwie unglücklich dabei ist und Sie, Stella, Krankenpflegerin, die vier Patienten den ganzen Tag versorgt und den kranken Menschen in Zeitlupe beim Hinsiechen zuschauen darf, ein Kind, Ava, die den Tag im Kindergarten verbringt, wo auch die Kinder den Kopf auf den Tisch legen, weil sie in völliger ahnungsloser Larmoyanz an ihrem trögen Dasein verzweifeln, leben in einer Siedlung, in der nichts passiert. Irgendwann taucht Mister Pfister auf und belästigt Stella mit Briefen und Klingelstreichen. Das soll der Aufreger im Buch sein und dümpelt so dahin. Stella braucht lange, bis sie etwas gegen Mister Pfister unternimmt und irgendwann am Schluss reicht es allen Beteiligten und Jason haut Mister Pfister voll auf die Omme. Hätte man dem sanften eher triebgedämpften Jason gar nicht zugetraut. Stella will weg aus der Siedlung und irgendwo finden sie sich wieder und sie scheint einfach nur in einer anderen Siedlung vor sich her zu seufzen. Keine Metaebene, keine Absicht, keine Spannung. Man möchte immer etwas ändern, aber vielleicht könnte es einfach sein, aber eigentlich ist nichts einfach. Was soll das? Wo kommt es her, wo geht es hin? Einheitsgesülze von einem Durchschnittsleben, das kurz von einem unangenehm empfunden Störfaktor unterbrochen wird, um nach einem kurzen Paukenschlag wieder weiter zu machen, wo es so schön war, sich über sein Leben zu beschweren. Jede Situation wird mit endlosen Aneinanderreihungen von Objekten beschrieben und das macht es noch tröger. Beispiel“Im Wintergarten riecht es nach Erde und nassem Kies. Über dem Sofa eine orangene Decke, auf dem Tischchen davor Kinderbücher, Wachsmalstifte, eine Teekanne, auf dem Teppich ein einzelner Schuh von Ava neben einem Stapel Zeitschriften. Vom Sofa aus geht der Blick aus den Fenstern in den Garten über den Zaun hinweg auf das Feld hinaus. Das Wintergras steht noch mattgrün, es sieht aus wie ein Wasser. Der Wind scheint mit den Händen ins Gras, ins Wasser zu greifen. Die Wolken ziehen schnell.“ Das mag nach Poesie klingen und wird aber im Laufe des Buches immer aufdringlicher und naiver. Dabei macht Frau Hermann nur einen Fehler. Sie konzentriert sich zu sehr auf das Filetieren von Wörtern und hinterlässt zu viel mageres Fleisch. Vielleicht sollte man ihr sagen, das Fett manchmal auch ein guter Geschmacksträger ist. Zu meiner Überraschung fand ich einige existenzialistisch anmutende Formulierungen, die auch von Herrn Sartre hätten stammen können. Stella liest bei ihren alltäglichen Arbeiten im Haus gleichzeitig in Büchern, indem sie ein oder zwei Seiten liest, allerdings auch schnell vergisst, was sie gerade gelesen hat. Es geht beim Lesen,“um einen Widerstand. Oder um ein Widersprechen. Vielleicht geht es auch ums Verschwinden.“ Als sie Mister Pfister von ihrem Fenster aus beim Rauchen beobachtet, zerdehnt sich die Zeit zwischen ihnen. Wow! Sehr tiefsinnig, aber eigentlich nur Abklatsch. Bei Herrn Sartre waren solche Sätze aufgeladen und durchdrungen von seiner philosophischen Grundhaltung. Jeder dieser Sätze, die seltsam klangen und den Leser zusammen zucken ließen, weil sie eine Störung im Sprachfluss darstellen, hatte seinen Zweck. Bei Frau Hermann dienen sie der Ökonomisierung des Textes. Man muss sich nicht lange aufhalten, wenn sich die Zeit dehnt. Alles ist gesagt. Und das macht diesen Text für mich unerträglich. Ich frage ich andauern, was hat sich die Autorin dabei gedacht und werde aggressiv bei der Entdeckung, dass sie sich nichts dabei gedacht hat. Ich will nicht gemein sein und kann nicht beurteilen, wie Frau Hermanns Leben verläuft. Allerdings kann ich mir denken, dass sie ein Leben wie es Stella und Jason führen nicht kennt. Sie sitzt in Berlin, ohne Mann und Kind, ist fast Mitte vierzig, geht immer am Prenzlauer Berg an den Spielplätzen vorbei und ertappt sich bei dem Gedanken, dass sie das gar nicht kennt, mit den Familien, den Ehen, dem gewöhnlichen Leben, den sie war immer nur die traurige Schriftstellerin, die Preise dafür gewann, langweilig zu sein. Also schrieb sie sich ihre Not vom Leib und ermutigte die Versager ihrer Generation dazu ermutigen, zu sagen, ja Stella und Jason so ist das Leben, es könnte vielleicht eventuell besser sein, wenn man Kassiererin im Aldi ist oder Raumpflegerin und noch nicht einmal den Mindestlohn verdient, aber warum selbst was ändern, warten bis man geändert wird, weil man alt ist oder Mister Pfister vorbeischaut. Erst dann ist die Not groß genug und man muss sofort alles ändern, sprich man zieht in eine andere Siedlung. Ein Leben, was Frau Herrmann nicht kennt und doch mit ihrem Leben gleichgezogen hat. Ein durch und durch bürgerlichen Roman hat Frau Hermann geschrieben. Herr Sartre hätte daran seine Freude gehabt, um ihn wegen seiner bürgerlichen Spießigkeit zu zerreißen. Sie ist ein wenig der Idiot der Familie. Unbewusst hat sie den zögernden, zaghaften in Weltscherz versinkenden Zeitgenossen die Hand gereicht und alles nur, weil sie anscheinend sich vorher keine wirklichen Gedanken über eine Metaebene gemacht hat.