Der dritte Thomas ist ein äußerst unbequemer Erzähler, der vor Nichts und Niemanden halt macht. Thomas Pynchon kann man als Mensch nicht erfassen und auch als Schriftsteller entwischt er einem immer wieder. Wenn man das Gefühl hat, seine Intensionen zu erkennen, wirft er einem mit Absicht Knüppel zwischen den Beinen. Er bemüht ständig den subjektiven Gedankenstrom seiner Figuren. Allerdings auf eine andere Art und Weise wie Thomas Bernhard. Bei ihm ist es ein Chor aus unzähligen Stimmen, Karikaturen, Witzfiguren, die unerhörtes und Unmögliches erleben. Ihm fehlt jegliche Psychologie. Mittlerweile bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass Thomas Pynchon entweder Autist ist oder mindestens ein Aspergersyndrom hat. Er sitzt zu Hause an seinem Schreibtische und muss hochgradig komplizierte Texte schreiben um sich wohl zu fühlen. Die Gefühlswelt anderer Menschen bleibt ihm verschlossen und so werden seine Personen Spielbälle der Geschichte, die unmöglichen Verschwörungen aufsitzen oder sie erfinden. Alles bleibt wage, nichts ist konkret. Sein gesamter Kosmos an Figuren ist scheinbar untereinander verknüpft und doch leben sie nebeneinander her, begegnen sich, trennen sich, finden sich wieder, oft geschieht alles auf mehreren Kontinenten zu verschiedenen Zeiten und doch scheint alles gleichzeitig an einem Ort zu geschehen. Thomas Pynchon ist Meister des Fabulierens. Er schert sich nicht um historische Fakten. Alles wird unter seiner Feder umgeformt und historische Ereignisse gebraucht er nur, um seine abstrusen Phantasien zu schildern. Seine Bücher sind hitzige Fieberträume und genauso lesen sie sich auch. In einem Fiebertraum verschmelzen Wirklichkeit und Phantasie. Menschen, denen man im Fiebertraum begegnet, bleiben oft konturenlos und wirken seltsam unecht.
Seltsamerweise hat Pynchon eine große Leserschaft und einen großen Einfluss auf die Literatur der letzten Jahrzehnte, obwohl er mit seinen ausschweifenden Texten weitab jeglichen Mainstreams liegt. Seine Bücher umfassen oft mehr als tausend Seiten und sind voller Mysterien. Er selbst ist ein Mysterium. Es gibt keine Fotos von ihm. Er gibt keine Interviews und entzieht sich völlig der Öffentlichkeit. So jemand kann nach heutigen Maßstäben nicht zum erfolgreichen Schriftsteller werden. Trotzdem ist er einer der bekanntesten amerikanischen Autoren und hat mit seinem Werk den sogenannten postmodernen Roman geprägt. Der großartige David Foster Wallace hätte meiner Ansicht nach, ohne die Vorarbeit eines Thomas Pynchon, keine Chance gehabt, Leser zu finden. An Pynchon scheiden sich die Geister. Seine Fans vertiefen sich in seine Texte, versuchen der Vielzahl der Personen und Geschehnisse Herr zu werden, während seine Gegner von ihm angewidert sind, weil er z.B. pädophile Szenen schreibt, die er abspult wie ganz gewöhnliche Sexszenen. Ich gehöre weder zu der einen, noch zu der anderen Seite. Ich bin fasziniert von seinen Texten, sowie ich von der ganzen postmodernen Szene fasziniert bin. Viel lieber lese ich aber Don de Lillo und David Foster Wallace, die greifbarer und konkreter in ihren Texten werden und auf Teufel komm raus nicht die Wirklichkeit missachten.
Aber nun ein kleiner Ausschnitt aus die „Enden der Parabel“:
„Schräg über ihm, vier Meter über seinem Kopf, wird Teddy Bloat jeden Augenblick von der Galerie herunterfallen, hat er sich jedoch zum Hinsacken ausgerechnet den Platz ausgesucht, wo irgend jemand vor ein paar Wochen den grandiosen Einfall gehabt hat, zwei der Ebenholzpfosten aus dem Geländer herauszutreten. Nun ist Bloat in seinem Suff natürlich prompt durch die Öffnung gerutscht, sein Kopf, seine Arme und Rumpf hängen schon über der Tiefe, und alles, was ihn oben noch festhält, ist eine leere Champagner-Pikkolo in seiner Hosentasche, die sich irgendwo verhakt hat.
Inzwischen hat`s Pirat geschafft, sich in seinem engen Junggesellenbett hochzurappeln und die Lage zu sondieren. Was für`n Scheiß. Was für`n verdammter Scheiß. Schon kommt von oben das Geräusch zerreißenden Stoffs. Blitzartige Reflexe hat man ihm bei der Special Operations Executive beigebracht. Er hechtet aus seinem Bett und versetzt ihm rücklings einen Tritt, so daß er auf seinen Rollen in Richtung Bloat rast. Der stürzt ab und schlägt unter vielstimmigen Gedröhn der Bettfedern quer mittschiffs auf. Ein Bein des Bettgestells knickt ab. „Guten Morgen“, entbietet Pirat. Bloat grinst ihn kurz an, kuschelt sich in Pirats Decke und schläft gleich wieder ein.“
Ein großer ständiger Klamauk, alle sind in Bewegung und ständig scheint das Tempo der Ereignisse die Welt aus ihrer Bahn zu tragen. ‚Die Enden der Parabel` erzählt die Geschichte von Tyrone Slothrop, der gegen Ende des zweiten Weltkrieges in London als GI stationiert ist und durch Erektionen die Einschläge einer V2 vorausahnen kann. Der Roman beschäftigt sich nur augenscheinlich mit Slothrop Suche nach den Gründen für seine abstruse Fähigkeit. Der Titel des Buches bezieht sich auf die Flugbahn von Raketen und natürlich spielt auch die Rakete als Phallussymbol eine Rolle. Pynchon zieht den großen Bogen durch den zweiten Weltkrieg, die Herstellung der V2 in Deutschland, die Russen spielen eine Rolle usw. Irgendwann gibt es der Leser auf, die Orte und Geschehnisse noch nachvollziehen zu wollen.
Pynchon wechselt nicht nur oft die Erzähler der Geschichte und deren Perspektiven, sondern unterbricht die Texte durch Liedvorträge. Die Lieder haben zumeist etwas von Seemannsliedern oder Musicalstücken und gewollt oder nicht gewollt sind ihre Reime sehr erzwungen und fast unerträglich. Man könnte meinen, auch hier habe Pynchon sich über seine Leser lustig gemacht. Desweiteren ist Pynchon Sprachkunst nicht unerheblich für den Erfolg seiner Bücher. Unter der Oberfläche gärt das Talent eines wahren Schriftsteller alter Machart, der wunderbar Szenen beschreiben und sich gekonnt in Adjektiven verlieren kann. Ich werde das Gefühl nicht los, dass Pynchon irgendwann beschlossen hat, diese alte Kunst der Beschreibung zu dekonstruieren, um sich darüber lustig zu machen.
Was kann ich von ihm lernen? Gerade hinsichtlich seiner wunderbaren Beschreibungen von Szenerien und Hintergründen, die er wie ein Maler mit größter Sicherheit auf die Leinwand bannt, kann ich viel lernen. Diese Vielstimmigkeit, das Chaos, der Klamauk sind mir nicht dienlich für meine Geschichte. Ich habe nun einmal eine Erzählerin, die stringent berichtet. Trotzdem kann ich mir überlegen, ob ich linear erzählen muss. Insofern kann ich viele Erzählstränge aufbauen und sie verknüpfen oder versuchen, den Leser in die Irre zu führen und sie manchmal Erzählstränge aufzubauen, die sich im Nichts verlieren.
Wenn ich nun die drei Thomas zusammenführe und mich an ihnen bediene, was bleibt für meinen Sprachstil übrig? Ich werde meine Figuren psychologisch erforschen müssen, meine Erzählerin wird vollkommen subjektiv berichten, ich brauche viele Erzählstränge, meine Beschreibungen müssen kunstvoll in die Geschichte verwoben werden und ich brauche Distanz zu meinen Personen, um nicht des Sozialkitsches anheim zu fallen. D.h. die Prise Ironie, die alle drei Thomas vorgeben, täten meiner Geschichte nicht schlecht. Vielleicht webe ich Versatzstücke, historische Artefakte, zeitgeschichtliche Splitter ein, um das historische Umfeld und dessen Einfluss auf meine Geschichte deutlich zu machen. Dabei ist es wichtig, bei Fakten zu bleiben und nicht die Vergangenheit durchs Fabulieren zu erweitern. Die Figuren erleben die Auswirkung historische Ereignisse, ohne sich dessen bewusst zu werden. Am Ende muss ich die Fäden aus der Zukunft und Vergangenheit zusammenführen.
Damit wir uns klar verstehen: die drei Thomas dienen mir nicht als Vorbild für meinen Sprachstil, sondern sollten mir helfen, mir bewusst zu machen, wie ich Sprache anwenden will, um den Text lebendig werden zu lassen, ihn für den Leser interessant werden zu lassen und natürlich mir den Spaß am Schreiben zu erhalten.