Gehe ich müde und abgespannt ins Theater, hat jede Inszenierung einen schweren Stand bei mir. Erschwerend kam hinzu, das Romeo und Julia auf dem Spielplan stand. Dieses Stück hat man schon so oft durchgenudelt, das ich wenig Lust hatte, der Inszenierung meine volle Aufmerksamkeit zu widmen.
Entweder gehen die Leute in das Stück,
1. weil sie Abonnenten sind und ihnen nichts anderes übrig bleibt (so wie bei mir).
2. weil sie den Kinofilm gesehen haben und nun hoffen, dass Leonardo di Cabrio und Claire Homeland Danes auf der Bühne herumspringen.
3. weil sie irgendwann einmal unsterblich verliebt waren und aus Sentimentalität mit der Mutter aller Romanzen noch einmal ins Bett gehen wollen.
Wahrscheinlich hat man in Gießen den Umgang mit dem Stoff eher sportlich betrachtet. Im Prinzip kann man das Stück nicht neu erfinden, man kann nur auf die Feinheiten aufmerksam machen, es grell auf andere Weise in Szene setzen oder der allgemeinen popkulturellen Vorstellung Folge leisten.
Die Gießener Inszenierung folgt den ersten beiden Möglichkeiten. Man hat sich glücklicherweise gegen den Kitsch auf der Bühne entschieden.
Unsere Vorstellung von Romeo und Julia ist davon geprägt, dass es um eine Liebesgeschichte mit tragischem Ende geht. Aber eigentlich ist der Hass die Grundlage für die Liebesgeschichte. Zwei verfeindete Familien, die seit Jahren im Clinch miteinander liegen und die noch nicht einmal mehr wissen, warum sie sich hassen, bedrohen den Frieden einer ganzen Stadt.
Das Stück beginnt mit Bürgern in Fahrradklamotten, die einzeln oder im Chor über den Krieg der Familien referieren, der die Zwietracht zwischen den Bürgern von Verona gesät hat. Der Bürgerchor wird fortan einer der Hauptpersonen des Stückes sein. Die Stimme des Volkes erhebt sich schrill über die Handlung und soll an die Gegenwart erinnern. Schließlich vertieft auch heute der Hass auf irgendetwas die Gräben zwischen den Menschen. Damals wie heute war der Hass oft Selbstzweck. Keiner weiß eigentlich mehr worum es geht, aber jeder beschwört Vorurteile, um die gegnerische Partei herab zu setzen und sich selbst über den anderen zu erheben.
Die Damen hat man in Retrostyle mit grünen Perücken gesteckt. Die Herren mussten alle lange Haare und Gymnastikleibchen in Pastellfarben tragen und irgendwie wild und verwegen aussehen. Romeo ist der Einzige, der mit weichem Blick die Welt ausmessen darf. Alle anderen Herren und Damen sind ständig auf Krawall aus. Die Liebesgeschichte zwischen Romeo und Julia hat man erhalten, aber man erschwert ihr die Entfaltung. Die Liebenden haben es in dieser Inszenierung doppelt schwer. Erst der brutale Familienzwist und dann noch das unterkühlte Umfeld, in dem jede melancholische Gefühlsäußerung zur Parodie gefriert. Julias erscheint zu allererst als singendes Tüllknäul, das vom Himmel herabschwebt und als es von den Halteseilen losgelassen wird, erst einmal völlig desorientiert über die Bühne rollt. Genauso werden die berühmte Balkonszene und die genauso berühmte Schlafzimmerszene durch das kühle Ambiente karikiert. Romeo und Julia können in diesem transparenten Raumschiffgebilde, das man auf die Bühne gehängt hat, nicht schwülstig den Text runterzurasseln. Sie müssen sich wirklich anstrengen, um ihr Verliebtsein glaubwürdig dem Publikum zu vermitteln. Die Schlussszene wird dem Anliegen geopfert, dem Hass mehr Raum als der Romanze zu geben. Sie wird nicht gespielt. Die Schauspieler rezitieren den Text. Das eigentliche Drama um das versehentliche Sterben der Liebenden wird so zur beiläufigen Textstelle und verliert an Bedeutung.
Meiner Müdigkeit hat das alles keinen Abbruch getan. Nach der Pause habe ich fast jede Sekunde gegen das Gähnen ankämpfen müssen. Die Aussicht auf eine lange Schlussszene hat mich mehrmals wegnicken lassen. Ich kann mich nur daran erinnern, dass ich plötzlich wach wurde, als die Szene in der Familiengruft viel zu schnell endete.
Niemand der Beteiligten kann etwas für meine Müdigkeit. Deshalb alle Daumen hoch. Der veränderte Schwerpunkt der Inszenierung, die engagierte Leistung des Schauspielensembles, insbesondere von Julia (Esra Schreier) und Romeo (Magnus Pflüger), die noch mehr Widerstände als in gewöhnlichen Inszenierungen überwinden mussten und es trotzdem geschafft haben, mit ihrem Spiel den Hass ihrer Familien zu überwinden und sich unsterblich ineinander zu verlieben, ist es zu verdanken, dass dies ein sehenswerter Theaterabend war.