Reihe 3, Platz 58 + 59, Neometropolis von Pat To Yan

Nach drei Monaten Theaterpause sind wir wieder auf unsere Plätze in Reihe Drei zurückgekehrt. Unruhig rutsche auf meinem schmalen Sitz hin und her. Das geschäftige Treiben der anderen Theaterbesucher*Innen macht mich nervös. Wir haben eine harte Woche hinter uns, viel Arbeit, wenig Freizeit und heute Nachmittag als Krönung noch der Kindergeburtstag meines neunjährigen Sohnes. Wir sind durch! Zur Ablenkung beuge ich mich über das Programmheft und versuche folgenden Text zu erfassen:

„Thomas Krupas Inszenierung führt mit sensibler Präzision differente Erzählweisen und semiotische Reservoirs zu einer offenen, aber konsistenten Form zusammen – und konterkariert damit, im Geiste von Pat To Yans lyrisch-märchenhaftem Drama, die Suche nach einer klaren Antwort auf die letzte Frage.“ 

Erinnern sie sich noch an die Peanuts? Witziger Comic aus den Siebziger, in dem die Welt aus der Sicht von altklugen Kindern gezeigt wird. Als ich die Rezension der deutschen Bühne im Programmheft las, fühlte ich mich wie Charlie Brown, der der blechernen und verfremdeten Stimme eines Erwachsenen zuhört und nur ahnen kann, was der Erwachsene von ihm will.

Der elfjährige Junge Earnest ist so etwas wie ein Charlie Brown der Gegenwart. Er lebt mit seinem Vater, einer Katze und einer Zimmerpflanze in einem Hochhaus in der Megacity Neometropolis. Er glaubt, das Wetter kontrollieren zu können, während sein Vater als Chefingenieur eines Techkonzerns die Bürger der Stadt kontrolliert. Und genauso wie Charlie Brown versteht er die Welt der Erwachsenen nicht, weiß aber, dass irgendetwas mit Ihnen nicht stimmt. Die Stadt ist von einem riesigen Wald umgeben, von dem man sich schützen muss. Angeblich stammt aus dem Wald eine todbringende Seuche die viele Stadtbewohner hingerafft hat. Earnest Mutter, eine Botanikerin, holte sich im Wald die Seuche und Earnest weiß nicht wirklich, was mit ihr geschehen ist. Als die Katze von Earnest verschwindet, gelangt er auf der Suche nach dem Tier in den Wald.

Ein zeitgenössisches Stück aus dem Baukasten für Theaterautoren. Überall lauern die Referenzen an die Gegenwart: Pandemien, Naturzerstörung, Übermacht von Techkonzernen, die Degradierung des Menschen zum Konsumenten, die Entfremdung von der Realität, autoritäre Regime, die keine Widerspruch zulassen. Der Autor beschwört eine Dialektik zweier Systeme, die auf einer Symbiose zwischen den einzelnen Bestandteilen beruhen, die aber im absoluten Widerspruch zueinander stehen. Auf der einen Seite die Stadt, in der alle Menschen mit einem Gehirninterface ausgestattet sind, miteinander vernetzt werden und nun ihr Heil in der Körperlosigkeit finden, weil ein Gedanke ausreicht, um das Licht und die Kaffeemaschine anzuschalten. Dagegen steht der Wald, der als einzigartiger Organismus existiert, ein pantheistisches Konstrukt, es strotzt vor Kraft und Geheimnissen, eine metaphysisches Paradies für jeden, der sich dem Organismus hingibt und Wurzeln schlägt.

In Gießen versucht man der Geschichte mit unzähligen Sinnesreizen beizukommen. Der Zuschauer wird  überflutet mit Bildern und Klängen. Die Musikerin Lyhre aus Berlin, die im Bühnenhintergrund aus einem großen Moog-Synthesizer bedrohliche Krachlaute herausschraubt, am Klavier die immer gleiche Akkordfolge variiert und mit ihrem verletzlichen hallumhüllten Nymphensopran schmerzvolle Lieder aus sich herauspresst, ist die eigentliche Hauptdarstellerin des Stückes. Die Musik wird illustriert mit überwältigende Fotos aus der Natur und Schauspielern, die sich in eine feststehende Schuhkonstruktion hineinzwängen und sich wiegen und strecken wie Pflanzen in Zeitraffer. Die Schauspielszenen und die Geschichte bilden nur die Übergänge zwischen den Klang- und Bildinstallationen.

Die Dialektik zwischen Natur und Mensch soll aufgehoben werden. Darauf hat der Autor keine Antwort (auch wenn die Rezension der deutschen Bühne etwas anderes vermuten lässt) und er macht es sich einfach: er lässt alles offen. Der elfjährige hat am Schluss im Wald den Geist seiner Mutter gefunden und ist ihrem Schöpfer begegnet, der alle ausgestorbenen Arten wieder erwecken kann, sein Vater ist ihm in den Wald gefolgt, gibt sich schnell als geläuterter Homo Faber, der nur Gutes wollte und dann stehen sie alle gemeinsam auf der Bühne und der elfjährige spricht den letzten altklugen Satz, der auch von Charlie Brown stammen könnte:
„Dann müssen wir alles noch einmal neu denken.“

Ist ja nett gemeint, aber Freitagabends um 22 Uhr konnten wir die Welt nicht neu denken. Eigentlich konnten wir gar keinen Gedanken mehr fassen. Wir sind noch zur Videokonferenz mit dem Autor gegangen, der sich auf einer großen Leinwand zeigte und zusammen mit dem Regisseur und Ensemblemitgliedern, sich den Fragen des Publikums stellte und auch das war so surreal und anstrengend wie der ganze Abend. Aber vielleicht lag es auch nur an unserer Erschöpfung und dem Wein, den wir getrunken hatten.

Ich will am Schluss gar nicht meckern. Die kreative Inszenierung mit hervorragenden Einfällen, passender musikalischer Untermalung und einer soliden Ensembleleistung war besser als meine Stimmung an diesem Abend. Und doch haben sie mich diesmal nicht abgeholt.

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