Du bist so dünn! Hast du Krebs?

Es gibt manchmal Begegnungen mit Menschen, die mich fassungslos und irritiert zurücklassen. Leider ist mir das in letzter Zeit mehrfach passiert.

 Meine Geschichte fängt aber viel früher an:

 Von Natur aus bin ich ein langer dürrer Spargel. Das hat sich im Laufe der Jahre geändert. Stress, Frust und viel schlechte Laune ließen meinen Bauch heftig anwachsen. Fettes Fleisch, fettige Pommes, fettige Chips und Schokolade dominierten lange Jahre meinen Speiseplan und haben dafür gesorgt, dass ich mir meine Sorgen schönfressen konnte.  

 Dann kamen mit Mitte vierzig die ersten Anzeichen gesundheitlicher Beeinträchtigung. Mein Blutdruck war schon leicht erhöht. Bei körperlicher Anstrengung habe ich übermäßig geschwitzt und nach Luft geschnappt. Dazu kamen undefinierbare Verdauungsprobleme. Dann haben sie mir meine Gallenblase herausoperiert. Das viele Fett überforderte dieses kleine Organ und hatte es beinahe zum Platzen gebracht. Ich wusste, wenn ich jetzt nichts unternehme, schädige ich auch viel wichtigere Organe. Die Aussicht auf ein verkürztes Leben mit vielen Medikamenten und Krankenhausaufenthalten hat bei mir zu einem Sinneswandel geführt.

Ich habe das Joggen für mich entdeckt, meine Ernährung konsequent umgestellt und innerhalb von zwei Jahren 25 Kilo abgenommen. Jetzt bin ich wieder ein schlanker Spargel, fühle mich topfit und vor allem bin ich vollkommen gesund. Die dazugewonnene Lebensqualität hat mich selbst völlig überrascht.

 Menschen, die mich längere Zeit nicht gesehen haben, haben mich auf die Veränderung meines Erscheinungsbildes angesprochen. Durchaus neugierig hat man mich gefragt und sich mit mir gefreut, dass ich mich gut und gesund fühle. Da waren viele schöne Gespräche dabei, die Zustimmung hat mich motiviert und bestärkt, manche Bewunderung hat mir geschmeichelt.

 Dann gab es aber andere Menschen, die ich sehr lange kenne und die mich auch längere Zeit nicht gesehen hatten und die Gespräche mit dem Satz angefangen haben:

„Du bist so dünn, hast du Krebs?“

Ich war völlig perplex. Sie hatten mich aus der Ferne beobachtet und seltsame Schlüsse gezogen. Wenn ich Ihnen erklärt habe, dass ich völlig gesund sei und den Grund für meine Gewichtsabnahme dargelegt habe, schienen sie fast enttäuscht zu sein.

„Du bist wirklich nicht krank?“

Wie kommt aus solchen Gesprächen wieder heraus? Am besten man wechselt das Thema und redet über das Wetter.

Manchmal tummele ich mich im Internet und schreibe dort mit wildfremden Menschen. Ich bezeichne mich selbst als Menschenfreund, der gerne etwas über andere Menschen erfährt, andere Perspektiven kennenlernen möchte und es nicht verstehen kann, dass viele Menschen gerade im Internet Streit suchen, um ihre schlechte Laune an anderen auszulassen.

 Einmal habe ich mit einem Mann geschrieben, in meinem Alter, sehr nett und höflich und plötzlich ohne Anlass bewertete er ein Foto von mir.

„Bist ganz schön dünn. Siehst ungesund aus.“

Weil er nett zu sein schien, erzählte ich ihm alles über meinen Werdegang. Auch beim Lesen von Texten, kann man anscheinend nicht zuhören, denn er antwortete mit:

„Aber du siehst schlecht aus.“
Ich habe es noch einmal versucht, und ihm erzählt, wie gut ich mich fühle und das es keinen Grund gibt, sich Sorgen um mich zu machen. Ich bin beim Schreiben immer sehr bedacht, freundlich zu bleiben. Schließlich lauern anscheinend alle im Internet und warten nur auf den Moment, in dem sie Beef anfangen können. Wahrscheinlich hatte ich mir, ohne es zu ahnen, ein solches Exemplar eingefangen, denn er reagierte auf meine Ausführungen mit einer ziemlich zornigen und plumpen Antwort.

„Du kannst mir meine Meinung nicht nehmen. Wenn ich sage, dass du ungesund aussiehst, dann hast du das gefälligst zu akzeptieren.“

Ein Aspekt der modernen Kommunikation hatte ich natürlich schmählich vergessen: Das Pochen auf die Meinungsfreiheit. Es impliziert für viele das Recht, alles sagen zu dürfen, auch wenn es verletzend oder dumm oder sogar Beides ist. Wer Meinungen austauscht, verlässt schnell den Debattenpfad. Er begibt sich in eine Dynamik, die nur zum sogenannten Canceln führen kann. Weil unsere Meinungen diametral gegenüberstehen müssen wir uns hassen und nachdem wir uns angebrüllt und beschimpft haben, drücken wir auf Ignorieren und haben es uns richtig gezeigt.

 Man hat ja dann schnell Erklärungen, warum Kommunikation heutzutage manchmal so schwierig ist. Soziale Netzwerke, die allgemeine Verrohung der Gesellschaft, der schwierige politische Diskurs, die Spaltung der Gesellschaft…

 Solche Schlagwörter und Allgemeinplätze können nicht erklären, warum Kommunikation mit manchen Menschen einen merkwürdigen Verlauf nimmt. Vielleicht bedarf es auch keiner Erklärung. Der Andere ist die Hölle, hat ja mal Sarte gesagt und das wird ja oft in solchen Zusammenhängen zitiert, aber vielleicht hätte Sartre auch noch hinzufügen sollen, dass die Anderen immer auch wir selbst sind und wir selbst die Hölle für andere sind.

 Wir können manchmal nicht über unseren Schatten springen, weil nun einmal eigenständige und eigensinnige Einheiten sind. Die Schatten sind allerdings kürzer, die Räume in denen wir uns bewegen, sind enger geworden. Die Versprechungen des Internetzeitalters, dass die Welt zu uns nach Hause kommt, verknüpft mit der Möglichkeit des globalen Austausches von Waren und Dienstleistungen haben uns überfordert. Die meisten von uns waren vorher einfache Dorfmenschen. Übrigens leben auch viel Städter nur in ihrem Viertel und verlassen selten die ausgetretenen Pfade des Alltags. Unsere einzigen Bezugspunkte orientierten sich an der Kirchturmspitze in der Dorfmitte. Nun kommt die Welt zu uns und wir haben nicht nur unsere Bezugspunkte verloren. Man sieht einfach, wer wir wirklich sind. Nicht die netten Wilden aus dem Nirgendwo, die freundlichen Eingeborenen aus irgendeinem abgelegenen Kuhkaff, die hippen, legeren Metropolenhopper, Bergekletterer, Deichhocker, Waldschrate, Inselgemüse und Dialektmurmler, sondern bösartige und missgünstige Individuen, die nur darauf warten, anderen auf die Fresse zu hauen….

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