Endlich wieder Buchmesse! Unser letzter Besuch liegt drei Jahre zurück und nun wagen wir wieder einen Ausflug nach Frankfurt. Routiniert steigen wir um halb acht in den Zug und kurz nach neun stehen wir am Eingang des Messegeländes.
Wir beginnen wie immer in Halle drei. Es herrscht noch nicht viel Betrieb. Als routinierter Messebesucher sieht man die Veränderungen in der Halle. Weniger Aussteller, breitere Gänge. Einerseits verteilen sich die Besuchermassen besser, andererseits fehlen natürlich so namhafte Aussteller wie der Spiegel.
Meinem siebenjährigen Sohn war das erst einmal egal. Er eilt beim Betreten der Halle sofort zum LEGO-Stand und bekommt eine Individualbetreuung von einem Standmitarbeiter, der ihn die neuesten Produkte seiner geliebten Ninjago-Serie anpreist. Am Fotoautomaten ist er der Erste und so bekommt er ohne Wartezeit sein obligatorisches Ninjago-Foto. Der Tag hat für meinen Sohn schon einmal gut begonnen. Er ist großer Harry-Potter-Fan und kennt die Bücher quasi auswendig. Und weil es viele Menschen wie meinen Sohn gibt, ist Harry Potter eine echte Cash-Cow für die Buchindustrie, die bis auf den letzten Tropfen abgemolken wird. Jedes Jahr gibt es irgendetwas Neues von Harry Potter und mag es noch so abstrus irrelevant sein wie ein Buch über „QUIDITTCH, im Wandel der Zeiten“. Natürlich hat der Carlsen-Verlag als ursprünglicher Harry-Potter-Verlag die Nase vorne. Andere Verlage springen auf den Zug auf und bringen so illustre Werke wie Häkeln im Harry-Potter-Style und ähnliches raus. Mein Sohn muss das alles antatschen und sich anschauen. Außerdem freut er sich über kostenlose Prospekte, Bücher und kleine Give-Aways nach denen er freundlich und höflich, wie er nun einmal ist, an den Ständen fragt. Und so sind wir bis zur ersten Veranstaltung damit beschäftigt, in Halle drei alle Kinder- und Jugendbuchstände abzugrasen.

Einige Veranstaltungen finden dieses Jahr im Congress-Zentrum der Messe Frankfurt statt. Wir müssen etwas suchen, bis wir den Veranstaltungsaal finden, in dem das Spiegel-Gespräch mit Luisa Neubauer, Alexa Hening von Lange und Shelly Kupferberg, die von Susanne Beyer zum Thema „Wie jüngere mit dem Erbe der Großeltern umgehen“ interviewt werden.
Der Spiegel hat in diesem Jahr nur ein großes Gesprächsevent zu bieten. Der große Saal ist halb gefüllt. Ein Großteil der Zuschauer ist jung, weiblich und wahrscheinlich wegen Luisa Neubauer vor Ort und ehrlich gesagt sind wir auch wegen Luisa Neubauer da. Die beiden anderen Damen kenne ich nicht. Wahrscheinlich ist das ein Fehler. Alle drei haben das gleiche Thema: Der Umgang Ihrer Familien mit der eigenen dunklen Vergangenheit. Alle drei können auf hohen intellektuellen Niveau auf die Fragen von Susanne Beyer antworten. Die verschiedenen Perspektiven auf das gleiche Thema lassen uns neugierig zuhören. Ich mag die Gespräche und Diskussionen auf der Buchmesse ganz besonders. Daraus ergeben sich immer wieder neue Ansätze und andere Verknüpfungen, die ich gerne weiter verfolge. Hier ist es für mich der Verweis von Frau Neubauer auf den Soziologen und Rechtsextremismusforscher Matthias Quent, der sich z.B. mit der Frage beschäftigt, inwieweit der Diskurs um den Klimawandel von Rechten instrumentalisiert wird.
Meine elfjährige Tochter hat Feuer und Flamme für das neue Buch von Frau Neubauer und ihrer Großmutter Dagmar Reemtsma gefangen: Gegen die Ohnmacht.
Nach dem Spiegel-Gespräch gehen wir zu dem Stand von Klett und Cotta und suchen das Buch. Glücklicherweise gibt es ein von Frau Neubauer signiertes Exemplar. Ich nehme es an mich, bevor es ein anderer macht und bezahle an der Kasse den gleichen Preis wie für ein Exemplar ohne Autogramm. Später fällt mir an anderen Ständen auf, dass viele Verlage von Autoren signierte Bücher verkaufen. Meine Tochter freut sich riesig und weil sie sich mit ihren elf Jahren ihre eigenen literarischen und politischen Interessen entwickelt hat, gebe ich zwei ihrer Buchtipps weiter

Heartstopper – Eine Grapic-Novel-Serie von Alice Oseman – zwei schwule Jungs, die sich in der Schule ineinander verlieben – die Serie wurde unter Mitwirkung der Autorin dieses Jahr für Netflix verfilmt und mit großem Erfolg ausgestrahlt.
Der perfekte Mord – von Alexander Stevens. Meine Tochter regelmäßig den Podcast „True Crime“ vom bayrischen Rundfunk und Herr Stevens ist einer der Moderatoren.
Wir ziehen weiter. Am Stand des Vorwärts wollen wir uns in der Veranstaltungsreihe ‚Politik trifft Buch‘ das Gespräch zwischen Ulrich Schnabel und Kevin Kühnert zum Buch von Herrn Schnabel mit dem Titel: „Zusammen“ verfolgen. Wenn der SPD-Generalsekretär auf der Buchmesse auftritt ist der Andrang groß. Schon eine halbe Stunde vor Beginn der Veranstaltung sichern sich einige Messebesucher einen Steh- bzw Sitzplatz. Ich gehöre auch dazu und als Kevin Kühnert auf die Bühne kommt, stehe ich drei Meter entfernt von ihm und kann erkennen, dass Ketterauchen und der übermäßige Kaffeekonsum bei ihm zu einer außergewöhnlich blassen Gesichtsfarbe führt. Herr Schnabel ist gut aufgelegt, erzählt eine Anekdote nach der anderen und die Interviewerin und Herr Schnabel versuchen Herrn Kühnert ständig aus der Reserve zu locken und zu irgendwelchen heiklen Aussagen zu zwingen. Aber ganz Politprofi verliert sich Herr Kühnert in ausweichende Antworten, die allerdings nicht so inhaltsleer rüberkommen, wie man es bei einem Politiker vermutet. Wenn redefreudige Professoren auf Rhetorikverliebte Politiker treffen zieht sich alles in die Länge und so überziehen die beiden gewaltig. Mir schmerzen vom Stehen die Füße und nach vierzig Minuten kann ich endlich mal mir die Beine vertreten. Plötzlich ist unser Sohn verschwunden. Wenn es ihm langweilig wird, geht er gerne stiften. Meine Töchter suchen ihn und meine Frau und ich müssen am Stand des Vorwärts warten. Dabei können wir einen gutgelaunten Kevin Kühnert zum Anfassen erleben, der noch lange mit Zuschauern und Messebesuchern spricht, Autogramme verteilt und Selfies mit Zuschauern macht.
Irgendwann muss ich mal ein paar Meter laufen und so durchstreife ich die Gänge auf Suche nach meinem Sohn. Ich muss feststellen, dass die Selfpublisher-Ecke sich fast aufgelöst hat. Dort tummeln sich nun die letzten Reste rechtspopulistischen Verlagswesens. Irgendein Kleinverlag (Gerhard Hess Verlag) präsentiert einen alten weißen Mann im schwarzen Anzug, der Schlips und Sechziger-Jahre-Gesicht trägt und Vortrag über Identitätsbrüche hält. Links neben ihm steht ziemlich alleine ein dürrer, griesgrämiger Typ und verteidigt die Junge Freiheit gegen den linksgrünversipphten Mainstream-Gender-Wahnsinn. Mein Handy klingelt. Meine Tochter hat meinen Sohn wieder gefunden. Weit entfernt am Stand der Bundesbank hat er Lesematerial abgestaubt. Glücklicherweise kommt er doch immer wieder zurück zu uns.
Nun haben wir noch etwas Zeit und meine Frau sucht nach dem Stand des Katapult-Verlages. Der Verlag ist das Folgeprodukt des Magazins Katapult. Beides kommt aus Greifswald und verfolgt neue Ansätze. Z.B. versuchen sie aktuelle Themen anhand von Landkarten aufzubereiten. Mir ist der Titel „Die Säufer und Säuferinnen der Philosophie“ in die Hände gefallen. Eine amüsante Aufbereitung der Philosophiegeschichte anhand der Trinkgewohnheiten berühmter Philosophen.

Meiner kleinen Tochter ist es langweilig und weil sie mich inspiriert hat, versuche ich sie zu inspirieren und schleppe sie zum Stand des Reclam-Verlages. Sie soll die gelbe Reihe kennenlernen. Als Jugendliche kann man doch den einen oder anderen Klassiker günstig mit seinem Taschengeld kaufen, wenn man weiß, dass es die kleinen gelben Hefte gibt. Außerdem hat der Reclam-Verlag jedes Jahr interessante Neuerscheinungen, mit denen man nicht unbedingt rechnet. Auch diesmal finde ich einige Überraschungen und interessante Titel: Hanns Josef Ortheil – Charaktere in meiner Nähe – Über Herrn Ortheil habe ich schon geschrieben Diesmal hat er 50 literarische Miniaturen verfasst, die der Kunst des genauen Beobachtens gewidmet sind. Übrigens hat Herr Ortheil auf seinem Blog auch ein paar Artikel über die diesjährige Buchmesse geschrieben (Link)

Dann finde ich eine Biographie über Rick Rubin. In dem Wälzer wird sein Wirken als Musikproduzent anhand der von ihm produzierten Alben erzählt. Rick Rubin, der alte Buddha des Musikbusiness, hat unzähligen Künstlern den richtigen Kick gegeben. Ich blättere durch das Buch blättert und staune, welche Meilensteine der Popularmusik von ihm produziert wurden. Übrigens kann ich nur seinen Podcast empfehlen (wer Spotify hat, findet ihn leicht: Broken Record). Mit seiner angenehm warmen und sonoren Stimme kommt er ins Gespräch mit Musikern, die mit ihm über ihre Arbeit reden.
Zu guter Letzt fällt mir von Sandro Zanetti – Literarisches Schreiben – Grundlagen und Möglichkeiten in die Hände. Kein Ratgeber für angehende Autoren, sondern eine intelligente Reflektion über das literarische Schreiben. Mit dem Buch gehe ich ganz schnell zu Kasse. Das muss ich haben.
Mittlerweile ist es Nachmittag und wir sind ziemlich geschafft. Wir wollen den Tag auf der Buchmesse mit Judith Holofernes beenden. Der Podcast-Sender Detektor.fm ist in Halle 4.0. Zu unserem Erstaunen befinden sich in der Halle wenige Aussteller. Man hat viele unterschiedliche Verlage und Anbieter zusammengewürfelt. In einem Gang sind nur Verlage aus dem Nahen Osten, daneben die Schriftsteller-Verbände, Landesvertretungen, Verlage aus Hessen oder Thüringen und die Bundesgesellschaft für Endlagerung. What the Hell suchen DIE auf der Buchmesse…
Etwas irritiert positioniere ich mich bei Detektor.fm und warte auf Judith Holofernes. Ich bin so früh, dass ich noch das Interwiev mit Florence Brokowski-Shekete mitbekomme und aufhorche. Frau Brokowski-Shekete berichtet sehr eindringlich und plastisch über ihre Interwievs mit POC, die in Deutschland leben und ihre eigenen Erfahrungen als farbige Frau in Deutschland. Danach kommt wirklich Judith Holofernes, die Sängerin der Band „Wir sind Helden“. Als die Band ihre größten Erfolge feierten, war ich eingefleischter Fan der Band. Frau Holofernes hat damals mit ihren klugen und witzigen Texten den festgezurrten Rahmen deutscher Popmusik gesprengt. Und nun: Och ja, wenn das echte Leben auf Künstler trifft, neigen sie manchmal dazu zu jammern. Auf einen Schlag verlieren sie ihre intellektuelle Hybris und alles an ihnen wirkt gewöhnlich und naiv. Frau Holofernes stammelt etwas unsicher, sucht lange nach den richtigen Worten und ist leider für mich die Enttäuschung des Tages. Aber auch die Helden sind nur Menschen….
Die Füße tun weh, wir suchen den Ausgang, ab zum Bahnhof. Wir steigen in unseren Zug und fahren nach Hause. Wieder liegt eine Buchmesse hinter uns und hoffentlich die nächste vor uns (man ist ja vorsichtiger mit Zukunftsprognosen geworden….Pandemien, Kriege und so…)