Wieviel Leben passen in ein einziges Leben hinein?

Nachdem mich das richtige Leben wieder einmal ein halbes Jahr vom Schreiben abgehalten hat, versuche ich wieder an meine Romanidee vom Sommer 24 anzuknüpfen. Ich hatte ja großspurig ein paar Kurzgeschichten versprochen. Trotz allem war ich nicht untätig, aber zu Kurzgeschichten hat es nicht gereicht. Im Moment strukturiere ich die Geschichte, um einen Plot herauszufiltern, der mich und hoffentlich auch die Leser ansprechen wird. Dabei kommen manchmal ulkige Dinge zum Vorschein, wie z.B. der folgende nicht ganz ernst gemeinte Klappentext…obwohl er schon die wirklichen Figuren und ein Konflikt beinhaltet, der mich an der Geschichte interessiert.

Hier nun der Klappentext für den Roman: „Wieviel Leben passen in ein einziges Leben hinein?“

Die Familie Rabe ist eine scheinbar glückliche Familie. Fabian Rabe ist ein erfolgreicher Unternehmer, seine Frau Leonie eine tolle Mutter und die dreijährige Elli ein kleiner Sonnenschein. Sie leben glücklich und einträchtig in einem neuen schicken Haus am Stadtrand. Eines Tages zieht die Kinderfrau Tula Andersen zu ihnen und entdeckt hinter der Fassade der glücklichen Familie ein Geheimnis.

Fabian Rabe führt ein Doppelleben: tagsüber der eloquente Unternehmer, abends der treusorgende Vater und nachts umtriebig unterwegs, um seine Begierde freien Lauf zu lassen.

Als er alles aufs Spiel setzt und mit seiner Geliebten und seinem Geliebten ein neues hedonistisches Leben beginnen will, stellt sich ihm Tula in den Weg….was wird er tun? Wird er Tula aus dem Weg räumen und ein Leben auf der Flucht führen? Wird er reumütig zu seiner lieben Frau und seiner süßen Tochter zurückkehren? Lesen sie dieses spannende und moralisch einwandfreie Machwerk über das Glück, dass Mann nur in einer heterosexuellen gesetzlich legitimierten Ehe finden kann.

(Das KI-generierte Bild zum Klappentext ist genauso erschreckend flach wie der Klappentext…da hat die KI gut getroffen…)

Ein Autor macht sich nackig…

Mein letzter Blogeintrag ist schon wieder ein paar Wochen her und ich hatte versprochen, auf die Kurzgeschichte näher einzugehen. Entgegen der landläufigen Annahme, Autoren ließen sich nicht in die Karten schauen, ist es mir ein dringendes Anliegen, die zukünftigen Leser meiner Romane mit auf die Reise zu nehmen. Man soll wissen, wie ich ticke. In dieser Hinsicht bin ich ein sehr schlechter Autor. Und in vielerlei anderer Hinsicht wahrscheinlich auch. Ich eigne mich nicht zum Massenphänomen. Eher verschwinde ich in den dunklen und staubigen Nischen der Bedeutungslosigkeit. Niemand sollte glauben, ich hadere. Im Gegenteil: mein Unvermögen ist meine Stärke. Ich muss nicht liefern, ich muss keinen Markt befriedigen, ich muss meine Zielgruppe nicht mit billigen Tricks ködern. Und daher, liebes Publikum, feuere ich die volle Ladung meines Dilettantismus auf auch ab.

 Daher: ich weiß nicht, wie man einen Roman schreibt. Ich habe es des Öfteren getan, aber wie man seine Ideen pflegt wie ein geliebtes Haustier, um später daraus eine Geschichte zu extrahieren, ist mir dabei vollkommen verborgen geblieben. Manchmal am Ende einer Tiefschlafphase, wenn das Bewusstsein in meinen Hirnlabyrinth nach einem Ausgang sucht, überkommen mich Ideen für Geschichten. So fängt es immer an und so geht es auch immer weiter. Wenn ich bei einem Projekt feststecke, muss ich eigentlich nur dafür sorgen, dass ich gut schlafe und am nächsten Morgen Zeit zum Aufwachen habe. Dann ereilen mich die Lösungen für meine literarischen Rätsel sozusagen im Schlaf.

 Was habe ich aus den letzten Projekten gelernt: Verwurste nicht jede Aufwachidee zu einem Text. Schreib die Idee erstmal auf und entwickle sie. Bei den letzten beiden Projekten habe ich mich dermaßen verzettelt, die Geschichten zu unbeherrschbaren Monstern  aufgebläht, kam doch immer eine neue Idee dazu, die ich sofort in meinen Text einfügen musste. Die Text-Konglomerate wurden immer größer, immer undurchschaubarer und immer zusammenhangloser. Also habe ich mich bei meinem jetzigen Projekt für eine ganz andere Herangehensweise entschieden. Ich notiere in einer Kladde handschriftlich einen Plot, gerne schon detaillierter und schon zum Teil mit Ideen für ganze Kapitel. Wenn ich Seite um Seite schon produziert habe, fällt es mir schwer, etwas aufzugeben. Das Herz hängt am Text. Jeden Satz habe ich mir aus dem Hirn geprügelt und dann soll ich ganze Handlungsstränge streichen? Wenn ich in einer Kladde Ideen formuliere, habe ich noch nicht viel investiert. Ich kann den ganzen Bums immer noch ohne Verlust verkaufen…mache ich dann auch.

 In der ersten Version meines neuen Projektes, das noch keinen Titel trägt, gab es eine ellenlange und verzwickte Vorgeschichte rund um die männliche Hauptfigur. Das Drama seiner Jugend: der Vater, der die Jugendliebe des Protagonisten vergewaltigt und dann vom besten Freund der Hauptfigur eins auf den Schädel bekommt. Der Vater wird mit einem fingierten Unfall um die Ecke gebracht, die Jugendliebe und der beste Freund flüchten aus dem Heimatort..Stoff für meinen nächsten Krimi, den ich niemals schreiben werde. Falls irgendein Lokalkriminalist eine Story sucht, ich kann sie gegen ein kleines Entgelt abgeben. Ich habe den gesamten Plot in meine Kladde über die Sommerferien hinweg notiert und schon beim Schreiben meine Überforderung konstatieren müssen. Wenn ein Handlungsstrang oder ein Stoff nicht wächst, sondern wuchert, weil man mit jeder neuen Idee die Mängel zukleistern muss, sollte man schnell handeln. Ich hatte den Plot schon fast zu Ende gebracht und war schon beim Konzipieren der letzten Kapitel total genervt. Ich habe die Kladde zur Seite gelegt und mich mit der Kurzgeschichte beschäftigt. Fabian und Leonie Rabe sind die Protagonist:innen des Romans. Um Ihre Beziehung dreht sich die Geschichte. In der Kurzgeschichte stehen sie noch am Anfang Ihrer Beziehung. Sie haben sich kennengelernt und fahren zum ersten Mal miteinander in den Urlaub. Kurz vorher hatte ich selbst mit meiner Familie im Chiantital Urlaub gemacht. Ich war schon mehrfach dort und es ist für uns ein kleiner Sehnsuchtsort. Daher fiel es mir leicht, die Umgebung zu beschreiben. Aber der Ort ist vollkommen egal. Wichtig ist, dass sie noch ineinander verliebt sind und trotzdem schon erkennen müssen, dass es Reibungspunkte gibt, weil sie unterschiedliche Vorstellungen haben. Der normale Verlauf einer modernen Beziehung. Man gönnt sich die ersten Jahre ein wenig Romantik, hängt aufeinander und weiß eigentlich schon, dass der Alltag die Liebe zerstören wird. Das ist nicht schlimm, das ist der Lauf des Lebens. Sich die Liebe zu einem eigentlich fremden Menschen zu bewahren, geht nur, in dem die Beteiligten miteinander sprechen und wertschätzend und vertrauensvoll miteinander umgehen. Fabian und Leonie sprechen schon nicht mehr miteinander, sie verharren in ihren eigenen Welten und die Liebe wird höchstens verklärt, aber nicht mehr gelebt. Die nächsten Jahre werden sie viel Kraft kosten und beide werden der Meinung sein, dass sie viel zu viel in den anderen investiert haben und dabei ihre eigenen Bedürfnisse auf der Strecke geblieben sind. Das ist der Kern des Romans und jede weitere Handlungsschicht muss passgenau aufeinander aufbauen. Alles andere werde ich nicht zulassen können. Keine Ausflüge mehr zu den Monstern!

 Als ich die Geschichte geschrieben hatte, hatte ich die Namen für die Protagonist:innen gefunden und mich entschlossen, den ersten Plot zu streichen und mich wieder an die Arbeit zu machen. Bei alten Projekten hätte ich geschriebenen Text, vielleicht hunderte von Seiten, korrigieren und anpassen müssen. Kugelschreibernotizen in Papierheften haben noch keine Romanqualitäten. Mir fällt es leicht, aufbauend auf den alten Plot einen anderen Plot zu entwickeln. Ich spare Zeit und hangele mich nun von Version zu Version und zwischendurch garniere ich meine Notizen mit Kurzgeschichten zu bestimmten Begebenheiten oder Romanfiguren. Am Ende sollte der eigentliche Romantext mir nur noch aus den Fingern fließen (Wer es glaubt, ist selbst dran schuld.)

Da reitet er schon wieder…..

Vor drei Monaten habe ich an dieser Stelle von meinem Schreibprojekt berichtet. Mittlerweile habe ich in einer Kladde handschriftlich einen Plot und eine Geschichte entwickelt (Nix mehr Kühltruhe) mit dem ich ganz zufrieden bin. Um mich weiter an das Projekt heran zu tasten, werde ich kleine Szenen, Kurzgeschichten und ähnliche Formen nutzen. Anbei die erste Szene. Ich freue mich über Anmerkungen, Rückmeldungen und Hinweise und werde in einem weiteren Blogbeitrag mich auch noch einmal den Inhalt und Kontext erläutern:

Unauffällig schnurrt die Klimaanlage im Auto. Vor ein paar Sekunden umwehte Fabians schweißgeplagten Gesichtspartien noch ein angenehm kühler Luftstrom. Leonie klemmte mit ihrem kleinen Oberkörper hinter dem Lenkrad, hatte ihren Sonnenbrillenblick fest auf die enge Straße zwischen Castellina und Greve gerichtet und mit einer unauffälligen tastenden Handbewegung die Klimaanlage des FIAT heruntergeregelt. Ein Halbsatz reichte ihr aus, um ihre Entscheidung zu begründen: „Ist zuviel.“

Fabian wollte die Zweckmäßigkeit dieser Handlung mit ihr diskutieren. In der brütenden toskanischen Hochsommerhitze ohne einen kühlenden Luftstrom zu fahren, hält er für glatten Selbstmord.  Weil Leonie das Fahrzeug durch eine Serpentinenkurve steuert und die Fliehkräfte seine inneren Organe an den Rand des Abgrundes drücken, verkneift er sich einen Einwurf. Mit einem Blick auf die Weinstöcke, die in Reih und Glied den Hang hinaufwuchsen, kann er dem Brechreiz entfliehen.

Die Ordnung der Rebstöcke vermittelt Fabian Sicherheit. Er hasst die Unsicherheit. In jedem Moment kann auf dieser Straße ein Unglück passieren. Es muss nur ein anderes Fahrzeug auf ihre Spur geraten und Leonie kann nicht ausweichen. Fabian hat kein Vertrauen in Leonie, die nicht in der Lage sein wird, adäquat mit einer solchen Situation umzugehen. Für Fabian ist es von größter Bedeutung über  jeden Moment Kontrolle auszuüben. An Leonie einen Teil der Verantwortung abzugeben, betrachtet er als Liebesbeweis. Ein Liebesbeweis der ihm nur Kummer bereitet und kaum Gewinn erwirtschaftet. Der lange Anstieg der Straße endet in einer weiteren Spitzkehre. Er spürt Schweiß im Nacken. Eine Mischung aus Angst- und Hitzeschweiß. Mit seinen Fingerspitzen krallt er sich instinktiv in den Schaumstoff seiner Sitzfläche. Leonie soll sein Unwohlsein nicht bemerken, daher bemüht er sich um ein Grinsen, das nur zur Grimasse gerät und einen nach vorne gerichteten starren Blick.

Erst als die Kurve in einer langen Gerade übergeht, entkrampft Fabian und gönnt sich einen kurzen Gedankenausflug. Er und Leonie waren seit zwei Jahren ein Paar. Sie arbeiteten im gleichen Unternehmen: sie als Marketingassistentin und er als Trainee in der Geschäftsführung. Zum ersten Mal waren sie sich in einem Meeting begegnet. Irgendwas mit Marketingplanung für das nächste Jahr, eine große Runde, Vertreter der Geschäftsführung, Vertreter der Marketingabteilung, man hockte in einem Konferenzraum an einer langen Tafel aufeinander und redete sich die Zukunft schön. Leonie saß am anderen Ende des Tisches und hatte keinen einzigen Redebeitrag beigesteuert. Stundenlang war sie ihm gar nicht aufgefallen, fast als sei sie unsichtbar. Dann bat ihre Abteilungsleiterin sie nach vorne. Sie sollte das neue Costumer-Relation-Management-System erläutern, das kurz vor dem großen Rollout stand. Sie erhob sich, zog am unteren Saum ihres schwarzen Blazers und trat mit großen Schritten ihren Weg nach vorne an. Fabian war schon fast weggenickt, aber als er den geradlinigen Rhythmus ihrer Schrittfolge wahrnahm, wachte er auf.

 Leonie lächelte in die Runde und es fühlte sich an, als lächelte sie nur für ihn, als seien er und sie alleine im Raum. Ihr glattes Gesicht, die halblangen dunkelblonden glänzenden Haare, ihre junger unverbrauchter Blick aus ihren braunen Augen faszinierte ihn sofort. Ihre Art zu reden glich einem  Seidentuch in Apricot, das am offenen Fenster hing, leise im Wind hin und her wogte und die Sonnenstrahlen schimmern ließ. Durch ihr Erscheinen erstrahlte der Raum in einem rötlichen Abendleuchten und in ihm breitete sich ein warmes Gefühl des Einverständnisses aus.

 Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und sprach sie am Ende des Meetings an.

„Haben Sie in den nächsten Tagen noch einmal Zeit für mich? Mich interessieren einige Details zum CRM.“ Sie lächelte verschmitzt, nickte, holte ihr Handy heraus, checkte ihren Kalender.

 Seitdem waren sie unzertrennlich miteinander verbunden. Der etwas ruhige Verlauf der Strecke erlaubt es Fabian, den Blick von der Straße zu nehmen und auf Leonie zu richten. Er will die zärtliche Empfindung von damals reproduzieren. Solange ihm das immer wieder gelingt, hält die Liebe zu ihr an.  Oberhalb ihrer Lippen glitzern kleine Schweißperlen. Das warme Gefühl der Zuneigung breitete sich in ihm aus. Sie ist das wunderbarste Wesen unter der Sonne. Er hört ihre Schritte, der geradlinige Rhythmus. Tam, TaTam, Tam, TaTam. Wir sind jung und eine makellose Zukunft liegt vor uns. Er hatte mittlerweile ein eigenes Unternehmen gegründet. Es lief wahnsinnig gut. Sein Konto und der Stolz auf seine Leistungsfähigkeit platzten aus allen Nähten. Er kann für sie beide sorgen. Sie klebt an ihrem Job in der alten Firma. Wie oft hat er hier gesagt, sie kann jetzt zu Hause bleiben, sie können ein Haus bauen, eine Familie gründen, sie kann ihm den Rücken freihalten. Sie verzieht dann nur das Gesicht und wird schmallippig. Sie ist noch widerspenstig. Sie lässt sich noch nicht kontrollieren. Die letzten Zugeständnisse: Der Urlaub in einem Ferienhaus, mitten im Nirgendwo, Sie kocht für ihn kleine italienische Speisen, in der Nacht schwitzt sie, anstatt zu schlafen. Leonie geht in riesige Supermärkte einkaufen, riecht an in Plastikfolie verpackten Pecorinostücken, schnuppert an Pfirsichen, inspiziert die Etiketten der zahlreichen Olivenölsorten und packt zahllose Laibe Weißbrot in den Einkaufswagen. Sie fährt mit einem Kleinwagen durch die Toskana, erkundet Florenz, Siena, San Gigmiano, Lucca, Pisa. Sie besucht Wochenmärkte, klappert Souvenirgeschäfte ab, schaut nach Salatbesteck aus dem Holz des Olivenbaums, bestellt in Reiseführeritalienisch Gelato, Pasta und Chianti und Fabian begleitet sie, im inneren missmutig verstimmt, nach außen Interesse bekundend und wohlwollend. Sie hätten sich absoluten Luxus leisten können. Urlaub in einem teuren Ferienresort, irgendwo an einem exotischen Ort, vollklimatisiert, mit Personal, das einem alles hinterherträgt. Sie müsste nicht kochen, nicht einkaufen, nicht Autofahren, nicht herumrennen. Einfach am Privatstrand liegen und auf das blaue Meer glotzen, mit einem kalten Getränk in der Hand und wenn das leer ist, steht schon ein Kellner neben der Liege und fragt, ob man noch etwas haben möchte. Sie ist noch widerspenstig aber nicht mehr lange. Die Wärme der Zuneigung verschwindet bei dem Gedanken, dass er noch Arbeit in sie investieren muss. Fabian denkt sich das und Leonie, die hinter dem Lenkrad eingeklemmt sitzt, erstarrt zu einer halbfertigen Statue, die Fabian mit Hammer und Meißel noch bearbeiten muss. Wie ein Bildhauer will er sich das Bildnis einer Frau erschaffen, das seine Bewunderung verdient hat und für das er Anerkennung erhalten wird.

 Seitdem sie heute Morgen ihr Ferienhaus verlassen haben, hat er kein Wort mehr gesprochen. In den letzten Tagen hatten seine Redebeiträge an Dauer und Häufigkeit abgenommen. Es fühlte sich an, als habe Fabian sich ein Schweigegelübde auferlegt.  Als Leonie eben das Gebläse der Klimaanlage heruntergeregelt hatte, hatte sie mit Gegenwehr gerechnet. Aber kein einziges Wort kam über seine Lippen. Obwohl sie ihre ganze Aufmerksamkeit dem schwierigen Straßenverlauf widmen muss, spürt Leonie die Anspannung, die sich in Fabian aufgebaut hat. Sie weiß nicht, was an ihm zerrt, aber es wird an einem bestimmten Punkt zu einer unangenehmen Reaktion führen. Fabian betrachtet sie von Zeit zu Zeit, sein Blick sucht ihr Blick und wenn sie sich ihm zuwendet, dreht er sich weg, so wie gerade jetzt. Er schaut angestrengt aus dem Fenster und sie kann seine Halsmuskeln zucken sehen, seine Schultern bewegen sich unmerklich auf und ab. Leonie hasst diese Spielchen. Erwachsene Männer wie Fabian, die breitbeinig im Leben stehen, mit den Fingern an ihren Hemdkragen nesteln, die Reverse ihrer dunkelblauen Jacketts mit den Fingerspitzen geraderücken und sich dafür loben, dass sie wieder einmal einen ihrer Konkurrenten besiegt haben, benehmen sich privat wie kleine zerbrechliche Porzellanfiguren, die jeden Moment vom Fenstersims heruntergestoßen werden und am Fußboden zerschellen können. Leonie spürt die Kupplung unter ihrem Fuß. Sie schaltet einen Gang zurück und schiebt den FIAT in der steilen Kurve den Hang hinauf. Sie gönnt sich einen Blick hinunter ins Tal und feiert die Aussicht und feiert ihr Leben. Sie ist auf der Suche nach solchen ungestümen unverbrauchten Momenten. Sie wird von Euphorie ergriffen. Nacheinander beginnen ihre Nervenbahnen in den Armen und an der Wirbelsäule zu glühen. Leonie spürt sich selbst, ihren Körper und ihr Verlangen nach purem Erleben.  Sie ist besessen von der Idee, die Essenz der Dinge, die sie umgeben, körperlich zu erfahren. Sie muss herausfinden, ob es für sie selbst eine Bestimmung gibt, ob ihr Leben ein Sinn hat. Sie zelebriert das Leben, indem sie jedem Schluck Cappucino nachspürt, am Weinglas schnüffelt, bevor sie trinkt und dann den Chianti im Mund zergehen lässt, das Gelato auf der Zunge belässt, bis sie die verschiedenen Fruchtaromen erfasst hat, Pecorino beschnuppert, Brot abtastet, Ölivenöl beim Emulgieren mit dem Balsamico beobachtet. Das Kleid der verschiedenen Grüntöne, in die das Chiantital gehüllt ist, zu benennen, solche verrückten Sachen muss sie einfach machen. Sie schaut wieder auf die Straße und nimmt sich vor die Grüntöne, wenn Fabian nicht in der Nähe ist, leise vor sich herzusagen. Smaragdgrün, Froschgrün, Salbeigrün, Minzgrün, Absinthgrün, Waldmeistergrün, Ampelgrün. Die Beziehung zu Fabian gibt ihrem Leben einen Rahmen, eine Struktur. Bevor sie sich kennengelernt hatten, irrte sie ziellos durch den Garten der Möglichkeiten. Ihr fiel es nicht schwer, ein Studium zu absolvieren, einen Job zu finden, sich in der Firma zu etablieren, aber sie empfand dabei keine Befriedigung. Allerdings hatte sie auch keine Ahnung welchen Weg sie beschreiten müsste, um Zufriedenheit empfinden zu können. Mit Fabian kam ein Plan in ihr Leben. Er war Erfolgsenthusiast. Die Dinge, die er anpackte, begriff er als Wettbewerb und er wollte immer der Sieger sein. Er eroberte sie und seine Geradlinigkeit und seine Leidenschaft für Erfolg imponierten ihr. Nach zwei Jahren hat sich ihre Bewunderung etwas verbraucht. Daher ist es ihr so wichtig, ihre Eindrücke mit ihm zu teilen. Denn sie hofft, dass er mit seinem üblichen Enthusiasmus reagiert. Der ruhige Verlauf der Straße erlaubt es Leonie, ihn noch einmal anzuschauen. Ihre Blicke trafen sich. Sie bemerkte seine sanftmütigen salbeigrünen Augen oder waren sie eher seladongrün?  „Schön Landschaft, findest du nicht?“ Er schnaufte  angestrengt.

„Ja, schon. Kannst du trotzdem die Klimaanlage wieder höher drehen?“

Da reitet er wieder…..

Seit fast einem Jahr habe ich auf meinem Blog nicht mehr über meine literarischen Bemühungen geschrieben. Wahrscheinlich haben sich schon einige Leser gefreut. Gottseidank, er hat es eingesehen und aufgegeben. Aus jeder seiner Zeilen konnte man die schiere Verzweiflung über das eigene Unvermögen herauslesen.

 Ich muss Euch alle enttäuschen. Natürlich feile ich noch oder wieder an dem nächsten großen literarischen Wurf.

 Nach der letzten Blamage habe ich voller Euphorie die Arbeiten zu einem neuen Roman angefangen. Meine Zuversicht kannte kein Halten mehr und als sie es sich gewagt hat mit einem Stück Torte mit fetter Sahne und einer Tasse heißen Kakao sich für die ersten dreißig gelungenen Seiten zu belohnen, wurde sie von meiner wütenden Ernüchterung von hinten angegriffen. Ihr Gesicht landete in dem Stück Torte und meine Ernüchterung hielt ihren Nacken solange im Würgegriff bis sie an der Sahne zu ersticken drohte.

Wie lautete meine geniale Idee für meinen genialen Roman: ich wollte einen Roman über eine Tiefkühltruhe schreiben. Für mich gehört die Tiefkühltruhe zu meiner eigenen Geschichte und steht für mich stellvertretend für die Zeit meiner Kindheit. Die Tiefkühltruhe ist für mich ein Symbol für wahnhaften Konsum, Verschwendung und (da kommt keiner drauf) Kälte!!! Dieses große brummende Ding stand früher bei vielen Familien im Keller, fraß Strom wie ein Nimmersatt und wurde mit Eis und Tiefkühlwaren vollgestopft. Einmal im Jahr musste man die Wanne enteisen und schmiss dabei die Dinge weg, die man vor Jahren mal eingelagert hatte. Dann war die Wanne wieder leer und kurz darauf stand der Eismann oder der Kerl von Bofrost vor der Tür. Sie witterten große Geschäfte, denn die Truhe musste wieder vollgepackt werden.

Die Geschichte einer Kühltruhe ist schnell auserzählt und wird höchstens für eine Kurzgeschichte reichen. Es braucht schon Menschen, die in irgendeiner Beziehung zur Kühltruhe stehen. Und da fangen meine Probleme wieder an. Habe ich mir doch wieder eine dysfunktionale Familie ausgesucht: Gefühlskalte Eltern und einen Sohn, der von seinen Eltern abgelehnt wird. Dieses Setting steht bei mir immer am Anfang und es ist wahrscheinlich meiner eigenen Familiengeschichte geschuldet, dass ich es immer wieder als Ausgangsmaterial nutze. Darin liegt schon einmal der erste große Fehler. Gefühlskalte Menschen, die einer Kühltruhe entsteigen, sind nicht wirklich spannend. Sie sind langweilig, haben nichts zu bieten, außer stumpfsinnige Ahnungslosigkeit.

 Ohne mir weitere Gedanken zu machen, habe ich erst einmal vierzig Seiten geschrieben. Der Sohn ist natürlich selbst Vater und heillos verstrickt in seiner eigenen Herkunftsgeschichte. Daher kann er kein guter Vater und Ehemann sein. Er versucht es und steht immer am eigenen Abgrund. Das gibt einem Autor natürlich gutes Futter: ein Drama jagt das nächste. Es folgt ein wilder Ritt durch das Leben des Protagonisten, jedes Drama erzeugt ein neues Drama, atemlos, schnelle Schnitte, ein unentwirrbarer Knäuel an Konflikten. Allen wird es schwindlig und jeder will wissen, wie die Geschichte weiter geht.

 Wenn ich ein guter Schriftsteller wäre, könnte ich mich für diese wahnsinnig gute Idee bei mir selbst bedanken. Ausgehend von einer Kühltruhe drehen wir einen rasanten Actionfilm. Aber ich bin kein guter Schriftsteller und mit schnellen, rasanten und chaotischen Geschichten heillos überfordert. Nicht mein Protagonist hechelt atemlos durch die Ereignisse und sondern sein Schöpfer. Nun habe ich nach einem dreiviertel Jahr Arbeit an dem Text erkannt, dass ich wieder mal einen Schritt zurückgehen muss. Die rasanten Geschichten sind lahm und inhaltsleer. Der nachvollziehbare Rahmen fehlt (wie immer). Also schreibe ich wieder einmal die Geschichte über die Geschichte, um mir klar zu werden, was ich eigentlich erzählen will und warum dieser Typ so heillos durch sein Leben irrt und diesmal haben die Eltern nicht die schuld…

Am Ende meiner Überlegungen steht die Idee kleine Kurzgeschichten, kurze Szenen, Beschreibungen und Betrachtungen zu verfassen und diese hier zu veröffentlichen. Ihr, meine Blogleser, könnt an der Entwicklung des Romans teilhaben. Dafür hatte ich den Blog irgendwann begonnen. Ich wollte die Arbeit eines Autors (auch wenn er ein Dilettant ist) sichtbar machen und in Austausch mit potentiellen Lesern treten. Daher wird es Zeit, diese Grundidee wieder mit Inhalt zu füllen. Ich freue mich riesig darauf.

Talentfreier Autor sucht Talent

Wenn Amateure sich der Öffentlichkeit stellen, um die Ergebnisse ihres kreativen Prozesses zu präsentieren, kann es zu einem jähen Erwachen kommen. Für meinen Roman „der ewige Kreislauf“, dessen Überarbeitung ich mehrfach in meinem Blog zum Thema gemacht habe, hatte ich im Frühjahr Testleser gesucht. Da ich bei meinem letzten Romanprojekt mich in eine Sackgasse geschrieben hatte, suchte ich nach Inspiration und Auswegen.
Selbstreflektion stiftet Verwirrung. Profis werden an der Überwindung der Verwirrung wachsen. Amateure kämpfen jedes Mal erneut um ihre Daseinsberechtigung.
Eine Strategie des Amateurs ist es, einfach so zu tun, als sei er ein begnadeter Autor. Er überspielt seine Unsicherheit oft mit einer überheblichen Arroganz. Er berichtet in hymnischen Euphemismen von seinem besten Buch, das er nun bei Amazon für 5,99 EUR veröffentlicht hat. Liest man die erste Seite des vom Autor angepriesenen Werkes, stolpert man sofort über Rechtsschreib- und Logikfehler. Der Autor degradiert sich selbst zum Hochstapler.
So wollte ich nie sein. Wahrscheinlich schreibe ich deshalb einen Blog, in denen ich allzu gerne meine mittelmäßigen Fähigkeiten zur Schau stelle. Vielleicht auch eine Art der Kompensation….
Also habe ich es mir selbst gegeben, TestleserInnen gesucht und drei Personen gefunden. Ich hatte schon bei der Ausschreibung ein schlechtes Gefühl. Insgeheim suchte ich die Bestätigung für meine eigene Einschätzung, die ich vor mir gern selbst geheim gehalten habe. Eigentlich war es eindeutig: Für den ewigen Kreislauf werde ich niemals den Nobelpreis für Literatur erhalten. (Ich gebe es zu: jeden Oktober sitze ich immer in der Nähe unseres Festnetzapparates…wenn die Schweden sich vielleicht mal verwählen!)
Das Urteil der TestleserInnen war vernichtend. Es gab viel Kritik und wenig Lob und natürlich könnte ich jetzt behaupten, dass die Testleser keine Ahnung haben und mich mit ihnen streiten. Machen viele Dilettanten nur zu gerne: Sie verschwenden ihre Zeit mit einen Disput, der nur ihre Leberwurstigkeit offenbart.
Natürlich werden die TestleserInnen in ihrem Urteil durch den eigenen Geschmack beeinflusst, der manchmal sehr tendenziös sein kann. Jemand, der gerne Krimis liest und sich nur in diesem Genre bewegt, wird mit einem tiefgründigen und verschrobenen Text im Stile eines Thomas Bernhard nichts anfangen können (das heißt jetzt nicht, dass ich mit meinem Roman in diese Kerbe hauen wollte. Das wäre auch nichts geworden. Wahrscheinlich hätte ich mir dabei einen Finger abgehackt.)
Daher ist es immer gut, wenn mehrere Testleser das Werk begutachten. Es hilft dem Autor, den Eigengeschmack des Lesers aus dem Urteil herauszufiltern und sich auf die Gemeinsamkeiten der einzelnen Gutachten zu konzentrieren. Wenn zwei oder drei Leser die gleichen Themen ansprechen, bemängeln oder auch gut finden, gibt es dem Autor eine gewisse Sicherheit und die Möglichkeit an den Stärken weiter zu arbeiten und die Schwächen auszumerzen.
Ich bin als Autor auf die Ehrlichkeit der Testleser angewiesen. Die Neigung zu Gefälligkeitsurteilen ist sehr menschlich. Man will ja nicht auf jemanden draufhauen, der sich anscheinend viel Mühe gegeben hat. Bei Testlesern aus dem eigenen Freundeskreis habe ich keine guten Erfahrungen gemacht. Oft erlebt man das Hinauszögern der Lektüre, ständiges Herausreden oder plakative Aussagen. Man will ja die Freundschaft nicht gefährden.
„Toller Roman! Klasse Text! Knüller!“
„Was hat dir besonders gut gefallen?“
„Äh, die Handlung.“
„Gell, dass Ende ist sehr gut.“
„Äh, ja natürlich.“
Spätestens bei solchen Aussagen weiß der Autor, dass der Freund oder die Freundin, das Manuskript nur mit der Kneifzange angefasst hat und zwar um es in den Mülleimer zu werfen.
Hier treffen unausgesprochene Befürchtungen und Eitelkeiten aufeinander, die man mit Ehrlichkeit und Offenheit leicht aus der Welt schaffen könnte.
Ich wollte ein ehrliches Urteil und habe es erhalten. Für ein paar Minuten fühlte ich mich in der Sackgasse, in der ich mich schon befand, an die Wand gedrückt. Ich holte tief Luft und hatte das Gefühl, in einer anderen Welt aufzuwachen.
Nachdem ich die schlechten Nachrichten verdaut hatte, führte ich ein langes Gespräch mit meiner Frau. Meine schärfste Kritikerin ist nun einmal mein Guru, mein Krafttier, mein Buddha, Marjorie, die allwissende Müllhalde und die Mutter dreier meiner Kinder in einer Person.
Nachdem sie die Urteile der anderen Testleser mit einem stillen Nicken bestätigte, stellte ich ihr die Fragen aller Fragen:
„Soll ich weiter schreiben? Das bringt doch nichts?“
Sie antwortete weise und klar:
„Viele Leute machen ganz andere Dinge, die nichts bringen und nennen es Hobby. Wenn es dir Spaß und Freude bereitet, schreib weiter.“
Wahrscheinlich sind wir im kapitalistischen Sinne viel zu sehr darauf aus, ein sichtbares Ergebnis zu erzielen. Bücher müssen verlegt werden, verkauft werden und auf Bestsellerlisten landen. Wir schöpfen nicht unsere kreativen Möglichkeiten aus, wenn wir in Ertragskategorien denken.
Ich habe nur kurz nachgedacht und für mich festgestellt, dass ich auch ohne Leser einfach Freude daran habe, in der Sonne an meinem Platz im Garten zu sitzen und an langen Texten zu feilen. Resonanz zu bekommen, egal in welcher Form, hält mein Schreibprozess am Laufen. Also habe ich mich hingesetzt und überlegt, was ich aus der Kritik meiner Testleser für das nächste Projekt mitnehmen kann und habe eine Liste mit Hinweisen notiert, die ich von nun an immer beim Schreiben im Blick haben möchte:

  1. Nicht so viel in eine Geschichte reinpacken. Weniger ist mehr.
  2. Die Glaubwürdigkeit meiner Figuren und ihrer Handlungen im Blick haben.
  3. Der Anfang einer Geschichte muss zum Weiterlesen animieren.
  4. Gute und echte Dialoge und keine indirekte Rede verwenden.
  5. Weniger Adjektive.
  6. Meine Figuren wollen von mir geliebt werden.
  7. Ich hole mir in einem früheren Stadium des Schreibprozesses eine zweite Meinung.

Und so mache ich weiter, bis mir das Talent doch noch auf die Füße fällt (Autsch!)

Der erste und der letzte Mensch

Mein Roman drei trägt den Titel „der letzte Mensch“. Eine Reminiszenz an Albert Camus und seinem letzten Roman „der erste Mensch“. Camus kam vor der Fertigstellung des Buches 1960 bei einem Autounfall ums Leben kam und das ca. 160 Seiten lange Fragment wurde erst 1995 veröffentlicht.

 Ich bin seit meiner Jugend ein Camus-Fan. „Der Mythos von Sisyphos“ und auch „Mensch in der Revolte“ haben mein Art zu Denken maßgeblich geprägt. Ich habe die meisten seiner literarischen Werke wie „Der Fremde“, „die Pest“ usw. schon als junger Erwachsener gelesen. Der „erste Mensch“ war erschienen als meine Camus-Phase schon hinter mir lag. Bei der Konzeption von Roman drei, der die Geschichte einer sozialen Aufsteigerin, die sich bei ihrem Aufstieg korrumpiert, nachzeichnet, kam mir Camus wieder in den Sinn. Der Titel „der letzte Mensch“ ist einer der ersten Entscheidungen, die ich getroffen und auch nie wieder in Frage gestellt habe. Ich habe meinem Roman den Titel gegeben, ohne „der erste Mensch“ gelesen zu haben. Er im letzten Winter habe ich die Lektüre nachgeholt.  

 Camus schreibt über seine eigene Herkunft, seine Jugend in Algier und den Beginn seines Aufstieges, der in der Verleihung des Nobelpreises 1957 gipfelte. Camus kam aus einfachen Verhältnissen. Sein Vater war früh verstorben. Seine Mutter beschreibt er wenig liebevoll als einfältige, intellektuell sehr eingeschränkte Person, die kein Interesse an Dingen außerhalb ihres Blickfeldes hatte. Den Titel „der erste Mensch“ bezieht sich auf Camus Werdegang, weil er der erste Mensch in seiner Familie sein konnte, also der erste der sich ohne soziale Einschränkungen frei entfalten konnte.

 Warum also mein Titel „der letzte Mensch“? Meine Geschichte ist die Geschichte einer Regression. Johanna Sommer kommt aus einer Familie, die zerfällt, weil sie sich schnell aufgibt. Alle Menschen in ihrem Umfeld sind emotionsarm und phlegmatisch. Es wird sich nichts ändern und wenn dann zum Schlechten. Johanna versucht aus diesem Kreislauf auszubrechen, indem sie Bildung als Wettbewerb begreift und als sie endlich für ihre Anstrengungen belohnt werden soll, verändert sich die ganze Welt um sie herum. Von einem Tag auf den anderen etabliert sich eine starre Klassengesellschaft. Anstatt Widerstand zu leisten, passt sich Johanna an. Mit der Anpassung kommt der soziale Aufstieg in einer autoritären Hierarchie. Durch ihre Kindheit und Jugend geschädigt erkennt sie erst spät, dass sie mit ihrem Aufstieg sich und anderen Schaden zufügt und sie am Ende tief fallen wird. Sie kann sich nur retten, indem sie sich opfert. Am Ende, einsam und verloren in einer Eiswüste, nimmt sie ihr Schicksal an und erklärt sich zum letzten Menschen.

 Es gibt noch einen weiteren Aspekt, der mich bei der Lektüre des Romans „der erste Mensch“ fasziniert hat. Das fragmentarische und unfertige des Textes gibt dem Leser ein die Möglichkeit den Schriftsteller bei der Arbeit zuzuschauen. In der mir vorliegenden Ausgabe von 1996 hat man Ungenauigkeiten belassen. Der Text wurde nicht korrigiert oder gerade gebogen. Man hat ihn sogar um die Notizen des Autors ergänzt. Als Camus starb, hatte er  anscheinend erst die Hälfte seines Textes geschrieben. In seinen Notizen, in der er die gesamte Handlung skizziert hatte, erkennt man noch die Lücken. Dem Leser fallen sofort Fehler im Plot auf. Er schreibt am Anfang von einem Geschwisterkind und zwei Sätze weiter beschreibt er ein Einzelkind usw. Während des Schreibprozesses scheint der Unterschied zwischen großen Autoren und Amateuren doch gering zu sein. Schlagen sich doch alle mit den gleichen Problemen herum….

Der Marktschreier

Vor Ostern gelang es mir, das Exposee für Roman Zwo fertig zu stellen. Ich habe sechs Wochen lang an einem Klappentext und ein inhaltliche Zusammenfassung meines des Textes gearbeitet. Diese Art der „Bewerbung“  führt bei mir zur reichlichen Absonderung von Angstschweiß. Es gibt nur wenige Tätigkeiten, die ich noch mehr hasse (z.B. das Ausdrücken von Mitessern an Nasenflügeln).

  Um mich inspirieren zu lassen, habe ich  in den alten Dateien nachgeforscht und festgestellt, dass ich schon einmal vor fast zehn Jahren für den Ursprungstext ein Exposee verfasst und an Literaturagenten verschickt hatte. Ohne Erfolg! Ich las das alte Exposee. Damals benötigte ich Massen an Wörtern, um nichts auszudrücken. Ich schrieb ausschweifende Schachtelsätze, die den Leser überforderten und nicht den Kern der Geschichte sichtbar werden ließen. Ich dachte weder an das Fachpublikum, das meinen Roman beurteilen, noch an die Leser, der unbedingt das Ende der Geschichte erfahren sollte.

 Die Erkenntnis mehr als zehn Jahre mit diesem Projekt verbracht zu haben, hat mich auf den Boden der Realität geprügelt.  Wenn man blutend auf der Straße liegt, jeden einzelnen Knochen im Körper spürt und der Kopf dröhnt, sollte man lieber aufstehen. Ansonsten bleibt man für immer liegen.

 Ich traf die richtige Entscheidung, als ich mir die Mühe machte, den Roman zu überarbeiten, das ganze überschüssige Material zu entfernen und mich auf einen Spannungsbogen zu konzentrieren. Die hohe Kunst der Literatur besteht nicht darin, seine Leser zu langweilen. Autoren können nicht in ihren Turmzimmern sitzen und warten, bis sie jemand dort oben herausholt. Es ist immer die Mühe wert, weiter zu machen, wenn es schwierig wird und an seinen Fähigkeiten zu arbeiten. In dieser Situation lohnt es sich nicht, die Schuld den anderen zu geben. Der Autor ist alleine verantwortlich für die Qualität seines Textes.

 Wenn der Roman doch gut ist, sollte es einem Autor nicht schwer fallen, ein gutes Exposee zu schreiben, oder? Nicht jeder Autor beherrscht die Kunst des Marketings in eigener Sache. Ich habe genau deswegen lange mit dem Exposee gehadert. Ich traue mir nicht zu, Menschen für meine Literatur zu begeistern. Ich bin viel zu selbstkritisch und empfinde es als peinlich, mit meinen Fähigkeiten hausieren zu gehen. Ich hasse es, wie ein Marktschreier meine Ware anzupreisen. Anscheinend gehört es zur Tätigkeit des Autors dazu, eine Rampensau zu sein. Und Plumps bin ich doch wieder der grantige Schreiberling im Turmzimmer, der ich nicht sein will.

….ach, ich drehe mich im Kreis! Das passt ja wie die Faust aufs Auge zum Titel meines Romans:  „der ewige Kreislauf“.  Egal, mein Exposee ist fertig und ich habe es hinaus in die Welt gesendet.

 Anbei stelle ich den Klappentext zur allgemeinen Beurteilung zur Verfügung und wer will, kann auch gerne das Exposee zum Lesen bekommen und meine Damen und Herren und nun kommt noch die Sensation des Tages hinzu, sie bekommen von mir nicht nur einen Klappentext und ein Exposee, jetzt hören Sie genau hin, so eine Angebot bekommen sie nicht alle Tage, stellen sie die Lauscher auf: ICH SUCHE AUCH NOCH TESTLESER! Wer will kann kostenfrei den ganzen Roman lesen und sich dazu auslassen. Na meine Damen und Herren, das ist doch ein Angebot, das kann man sich nicht entgehen lassen….nun der Klappentext zu „der ewige Kreislauf“ als kleine Kostprobe:

Ole und Simon, zwei Freunde, ein Geheimnis. Simon will das Geheimnis hinter sich lassen, Ole will es bewahren.  Der Konflikt zwischen den beiden Endzwanzigern eskaliert als Simon sich auf die Suche nach seinem Vater begibt. Simons narzisstischer Vater, der sich für den Gestalter einer neuen Welt hält, hat überall auf der Welt seine Spuren hinterlassen. Ole und Simon begegnen kaputten Typen, den Simons Vater übel mitgespielt hat. Auf ihrer Reise über mehrere Kontinente finden sie Simons Vater und geben ihr Geheimnis preis. Für sie gibt es aber keine Erlösung, denn sie müssen erkennen, dass sie dem ewigen Kreislauf aus Lügen, Geheimnissen und Verbrechen nicht mehr entkommen können….

Schnitzen

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Ich bin heute mit Kopfschmerzen aufgestanden. Das passiert sehr selten. Ich bin kein Kopfschmerztyp und normalerweise bin ich auch kein Jammerlappen. Ein Großteil meines Alltags besteht daraus, Menschen zuzuhören, die leidend sind. Und wenn ich Ihnen so zuhöre, komme ich Laufe des Gespräches immer zu dem Schluss, dass sie eigentlich nur leiden wollen, damit sich für sie nichts verändern muss. Ich probiere immer wieder diesen Menschen zu erklären, das Veränderung etwas wunderbares sei. Und dann hämmert es in meinem Kopf, dieser verdammte Schmerz aus dem Nichts, dieses Gefühl in den letzten vier Wochen steckengeblieben zu sein, in einem Kreislauf aus Leiden, Kraftlosigkeit und Unfähigkeit festzustecken wie in der sich immer schneller drehenden Trommel einer Waschmaschine im Schleudergang. Eigentlich tragen einem die Fliehkräfte aus der Trommel, aber die Tragik liegt darin, dass einen die Trommel nicht rauslässt…

Es hat angefangen, dass ich ein Exposeé für meinen Roman zwo schreiben wollte und ich fünf Seiten aus meinem Hirn herausgepresst habe wie Kot aus meinem After nach einer Woche Verstopfung. Um dann festzustellen, dass die meisten Verlage keinen Bock auf fünf Seiten haben, sondern nur drei Seiten haben wollen. Jetzt sitze ich seit vier Wochen an diesem Exposee und schnitze es mir zurecht, um nach jedem Schnitzvorgang festzustellen, dass es verdammt nochmal immer noch mehr wie drei Seiten sind…

Dann ging es weiter, dass die Hälfte der Menschen in meiner Umgebung krank geworden sind. Die meisten haben zum Glück nur eine Grippe oder eine Erkältung. Ich kann dieses Gefühl nicht ertragen, bald auch dran zu sein, weil ich diese dummen Viren und Bakterien nicht für immer von mir fern halten kann. Ich will keine Unterbrechung meines Alltags aus Krankheitsgründen. Dafür habe ich einfach viel zu viel zu erledigen. Dazu noch dieses Umbruchwetter, mal Winter, mal Frühling, mal Sonne, mal Wärme, mal Kälte, Regen, Schnee und andere unangenehme Erscheinungen der Natur. Das Warten auf den Frühling zieht mich jedes Jahr herunter (doch ein Jammerlappen). Zu guter Letzt ist auch noch jemand gestorben, den ich seit dreißig Jahren kannte. Ich war auf der Beerdigung und es hat wieder soviel in mir losgetreten, Erinnerungen an alte Zeiten, daran, dass meine Ursprungsfamilie nichts mit mir zu tun haben will , was das eigentlich mit mir macht, zu wissen, dass meine Eltern auch irgendwann in einem Sarg liegen werden und ich nicht an das Rednerpult treten und darüber reden kann, welch wunderbare Menschen meine Eltern waren.

Und dann immer dieses Exposee im Hinterkopf…fünf Seiten…viereinhalb…vier Seiten…bleibt nicht mehr viel übrig…Schnauze weiter schnitzen….

So und zu guter Letzt habe ich noch ein schlechtes Gewissen, weil ich meinen Blog vernachlässige und vielleicht doch der eine oder andere Leser sich von mir abwendet, weil der schreibt ja eh nix mehr…..

Das kann ja so nicht weitergehen…also schnitze ich und sende Lebenszeichen….

Ist das nicht ekelerregend?

In unserem Haushalt leben Menschen mit langen Haaren. Glücklicherweise waschen sich diese Menschen regelmäßig, manchmal duschen sie sogar.

 Bei der ausgiebigen Körperpflege unter der Brause kommt es zu partiellen Haarausfall. Was passiert mit den Haaren? Der stete Wasserstrom in der Duschtasse spült die Haare in den Abfluss und dort verfangen Sie sich in einem Sieb.

  Wenn ich mal unter der Dusche stehe, fließt das Wasser nicht ab. Bevor es zur Überschwemmung des Bades kommt, ziehe ich das Sieb aus dem Abfluss und mit einem Mal läuft das Wasser ungehindert ab. Meistens habe ich noch Schaum vom Shampoo in den Augen und trotzdem versuche ich das Sieb zu reinigen. Ein Büschel langer Haare kommt zum Vorschein. Langsam mit spitzen Fingern ziehe ich jedes schleimige Haar aus dem Sieb. Voll eklig! Aber es gibt nun einmal Dinge, die ein Mann tun muss!!!!

 Und genauso ist es mit meinen Romanprojekten. Irgendwann kann ich nicht anders und ich muss es in die Hand nehmen und reinigen!

 Vor anderthalb Jahren habe ich das letzte Mal auf meinem Blog über meinen dritten Roman und meine Schreibfortschritte berichtet. Jo Sommer und ihre Reise zum Südpol schienen nicht mehr in meinem Fokus zu sein und wer den Blog regelmäßig verfolgt, wird wahrscheinlich denken: Schon wieder so ein Möchtegernautor, der still und heimlich sein Romane begräbt!

Weit gefehlt. Ich habe einfach weiter geschrieben und mich auf den Text fokussiert. Anfang Dezember, nach ungefähr anderthalb Jahren Schreibarbeit, ist die erste Fassung des zweiten Teils fertig geworden.

Seit dem letzten Sommer war es mir schwer gefallen, kontinuierlich weiter zu schreiben. Eine gewisse Ermüdung kam zum Vorschein, die sofort die Frage nach dem Sinn meines Unterfangens aufgeworfen hatte. Ich saß vor meinem Bildschirm und habe mich ständig gefragt, was ich eigentlich hier mache?

 Ich habe mich leicht ablenken lassen und wenn ich mal ein paar Sätze produziert habe, waren es kurze Hauptsätze und lange Dialoge.

 Dialoge in Romanen sind ein heikles Thema. Warum braucht man Dialoge in Romanen, kann man doch gleich Drehbücher oder Theaterstücke schreiben? Ganz so einfach ist es nicht. Dialoge in Romanen sind ein wichtige Bestandteil eines Gesamttextes. Ich werde misstrauisch, wenn Autoren über Seiten hinweg Ihre Figuren ausschweifende Gespräche führen lassen. Das ist meines Erachtens Platzverschwendung. Leider musste ich mir irgendwann selbst misstrauen. Komm schreib noch einen schönen langen nichtssagenden Dialog, hast du wenigstens dein Schreibpensum von zwei Seiten pro Nachmittag erledigt!

 Die Arbeit hat sich wie Kaugummi gezogen. Der ganze Rotz, der die Geschichte zusammenhalten sollte, hat sich in halbflüssigen Schleim aufgelöst. Ich habe selbst keine Zusammenhänge mehr zwischen dem ersten Teil, der Kindheit und Jugend von Jo Sommer und dem zweiten Teil, die Reise in die Antarktis, gesehen. Ich wollte einen ganzen Roman schreiben und haben nur zwei halbe geschrieben. Es mangelte an Konsistenz und Kontinuität und wenn ich in solch einer Zwickmühle stecke, schreibe ich wieder viel zu viele Seiten, die ich nachher wegschmeißen muss.

 Ich habe mir meinen Workflow hart erarbeitet. Daher halte ich auch zwingend den Ablauf ein. Erst schreibe ich einen Text fertig und dann fange ich mit der Überarbeitung an. Wenn ich zwischendurch an dem Geschriebenen herumdoktere, verzettele ich mich. Also erst einmal einen Text fertig schreiben, vier bis sechs Wochen Pause machen und dann den Gesamttext kritisch lesen.

Das ist der Punkt, an dem ich jetzt bin. Ich habe das Sieb sozusagen rausgezogen und halte es in der Hand, um mal zu schauen, warum das Wasser nicht abfließt.

In den letzten Tagen habe ich mein Manuskript gelesen. An manchen Stellen hat mich die schlechte Qualität schaudern lassen, an vielen anderen Stellen war ich schlicht zufrieden mit meinem Ergebnis.

Die ersten hundertdreißig Seiten lassen sich flott lesen. Der Anfang gefällt mir sehr gut. Der Text wirkt kompakt und schlüssig. Dann franst er aus und die Qualität lässt nach. Ein Kapitel muss ich völlig überarbeiten und mir etwas Neues ausdenken. Der Schluss des ersten Teiles ist voller Klischees und sentimentalen Ausbrüchen. Ich muss eine Brücke zum zweiten Teil bauen, anstatt mich mit der Schilderung langweiliger Abi-Feten aufzuhalten.

 Der Anfang des zweiten Teiles ist ähnlich kompakt und zwingend wie der Beginn. Wenn Jo über ihren Aufenthalt im Luxushotel und ihre Versuche, einen Roman zu schreiben, berichtet, kann der Text gefallen. Allerdings ist viel Drama und Übertreibung in ihrer Stimme. Sie will das Äußerste erreichen und dümpelt nur in einer seichten Pfütze vor sich her. Schlimm und unausgegoren sind die Rückblicke in die Vergangenheit. Das muss ich unbedingt in der Gesamtschau verkürzen, verengen, realistischer gestalten. In der Mitte des zweiten Teils verliere ich den Faden und der Roman verwandelt sich in einen reisenden Schreibstrom: hier und da bleibt mal was am Felsen im Wasser hängen, manches geht unter, vieles wird einfach mitgerissen und so geht es fast bis zum Schluss. Das heißt nicht, dass ich das nun alles in den Papierkorb befördern muss. Ich muss den reisenden Strom nur kanalisieren, begradigen, die Stromschnellen rausnehmen und in ein ruhiges Flussbett führen. Die wilde, unbändige Fantasie muss sich in eine schlüssige Handlung verwandeln.

Also da sind noch einige glitschige Haar im Sieb…..

Mein Ortheil oder wie ich Klavierspielen lernte

Wenn mich ein Buch in sein Bann zieht, dauert es nicht lange und ich interessiere mich für die Person des Autors. Ich setze mich mit ihm intensiv auseinander, indem ich recherchiere und in den unterschiedlichsten Wissensquellen herumwühle. Werde ich fündig,  entzündet sich in mir ein Feuer der einseitigen Leidenschaft. Am Ende habe ich das gesamte Werk des von mir verehrten Schriftstellers auf Lunge inhaliert, kann über seinen gesamten Lebenslauf, seine Eigenheiten und Marotten, seine Gewohnheiten und sein Umfeld referieren. Spätestens an diesem Punkt gerät mein Nerdtum außer Kontrolle, verwandelt sich meine Neugier in bedingungslose Zuneigung, die wahnhafte Züge trägt. Wenn ich diesen Gipfel erreicht habe und wirklich alles in mich aufgesaugt habe, kommt bald der Punkt, an dem das schnulzige und kitschige Gebilde meiner Liebe in sich zusammenfällt, wie der rosarote Schaum auf einer Schaumparty nachts um halb drei. Und dann ziehe ich als Experte weiter zum Nächsten.

 Ich weiß noch nicht, an welchem Punkt ich in meiner Beziehung zu Hanns-Josef Ortheil angelangt bin.  Der Name war mir bekannt, er huschte immer mal wieder durch die einschlägigen Publikationen. Meine Aufmerksamkeit hat die Tatsache erregt, dass seine Familie aus dem Westerwald kommt. Ich habe ja einen Faible für Autoren, die einen Bezug zu meiner Heimat haben und darüber schreiben. Das war nun schon der erste Bezugspunkt. Und als ich einen Hinweis auf einen Fernsehbeitrag zu seinem siebzigsten Geburtstag erhalten habe, war es an der Zeit, sich an den Autor und sein Werk heran zu schleichen.

 Herr Ortheil ist ein anscheinend kleiner gedrungener Mann, mit einer Dreiecksnase und hellen, freundlichen Gesichtszügen, der mit einer klaren Stimme und einer klaren Sprache Auskunft über sich gibt. Ihm zuzuhören war in etwas so wie in einen dieser schicken Großstadtläden herum zu laufen, in denen shabby-chic Möbeln ausgestellt werden. Retro hat Charme, Vintage ist voll angesagt. 

  Wenn man die Geschichte seiner Eltern hört, ist es vorbei mit dem Wohlgefühl. Seine Eltern haben mehrere Kinder verloren. Meist kurz nach der Geburt oder in Kleinkinderjahren. Einer seiner Brüder wurde in Gegenwart seiner Mutter durch einen Granatsplitter getötet.

 Dieses Drama hat die Mutter zum Schweigen gebracht und auch Ortheil selbst war in ersten Lebensjahren stumm geblieben. Ich war irritiert, denn die dramatische Familiengeschichte passte nicht zum der ruhigen, fast kontemplativen Erzählweise des Mannes, der einst stumm war. Die Lebensgeschichte von Ortheil entpuppt sich als die seltene Geschichte der Überwindung eines familiären Traumas.  Alleine schon das erregt meine Bewunderung. Ich selbst stamme aus einer Familie, die im zweiten Weltkrieg durch Verlust und Vertreibung einen erheblichen Schaden davontrug, dessen Auswirkungen bis in die Gegenwart zu spüren sind. Seit Jahren versuche ich die einzelnen Puzzleteile meiner Familiengeschichte zusammen zu tragen, um zu verstehen, warum meine Familie ihre Traumata nie hinter sich lassen konnte.

Herr Ortheil führt seit Jahrzehnten aufwändige Tagebücher. Sein Vater hat ihm früh die Aufzeichnung alltäglicher Beobachtungen nahe gebracht. Seine Tagebücher sind weniger Bestandsaufnahmen seines seelischen Zustandes, sondern eher Chroniken der Gegenwart, Kommentare und Beschreibungen alltäglicher Beobachtungen. Mit diesen Aufzeichnungen hat er die Grundlage für seine schriftstellerische Tätigkeit gelegt und so fängt das Buch „Wie ich Klavierspielen lernte“ mit der alltäglichen Beschreibung eines Pianos auf, das eines Tages von Möbelpackern in der elterlichen Wohnung abgestellt wurde.

Aber dann beginnt die Magie. Der junge Ortheil, noch stumm und kein Schulkind, entdeckt den Klang des Klaviers. Seine leichtfüßige Bildersprache lädt sich auf mit dem Zauber der ersten Töne, die der Junge keinem Musikinstrument zuordnen kann. Erst als er sieht, dass seine Mutter die Töne am Piano erzeugt, beginnt ihn das Instrument zu interessieren. Seine Mutter und er finden am Piano zueinander und mit den ersten Unterricht, den die Mutter, die selbst auf eine Karriere als Konzertpianistin verzichtet hat, weil sie nur Liszt und Schumann spielen wollte, ihrem Sohn erteilt, kehrt das Sprechen wieder zu ihnen zurück.

Die Poesie der klaren Worte ist die literarische Begleitmusik auf seinen Weg zum Konzertpianisten. Die Rolle seiner Eltern wird in diesem feinsinnigem Stück Literatur sehr schnell deutlich. Sie vermitteln ihrem Kind die Lust am Entdecken und Erforschen, sind selbst bereit, sich von seiner Wissbegier und Begeisterung mitreißen zu lassen. Der Zusammenhalt der Familie lebt von der intellektuellen Auseinandersetzung und der gegenseitigen Inspiration. Kind und Eltern begegnen sich auf Augenhöhe. Es gibt kein, dafür bist du noch zu jung, um zu wollen und um zu verstehen. Der Sohn äußert seinen Wunsch, Pianist zu werden und der Vater stellt sich darauf ein. Er setzt sich selbst mit klassischer Musik auseinander, forscht nach, unterstützt seinen Sohn, wo es nur geht, nimmt ihn mit auf Konzerte, begleitet das Kind zu seinen Lehrern und animiert das Kind zum Ausprobieren. Bei der Mutter führt der Wunsch des Kindes dazu, dass sie neben ihren Lebensmut auch wieder das Klavierspielen wieder für sich entdeckt und sich auf ihr altes Talent besinnt.

Obwohl die Familie schreckliches erlebt hat, steht am Schluss die Überwindung des Schreckens aus der Vergangenheit durch Zusammenhalt und geistige sowie emotionale Bildung. An der Erzählung von H.O. Ortheil begeistert mich das Gegennarrativ zur zeitgenössischen Literatur. Es ist seit langem Mode, als Autor aus dysfunktionalen Familienkonstellationen Kapital zu schlagen und das Unglück bis zum Äußersten auszuschlachten. Protagonisten heutiger Geschichten leiden alle unter ihren Eltern und Großeltern. Dabei muss als dramatische Konsequenz mindestens eine Depression, Bindungsunfähigkeit, Drogensucht und Suizidversuche abfallen. Die Triebfeder der modernen Literatur ist das Leiden an der eigenen Herkunft. Als Leser darf man sich in Sicherheit wiegen. Wenn alle so kaputt sind, ist es in Ordnung, wenn man selbst kaputt ist.

Ortheil bietet einen anderen Weg an. Heilung bringt nicht das passive Jammern, sondern der aktive Umgang mit dem eigenen Nachwuchs. Die Begeisterungsfähigkeit und kindliche Neugier wird zum Maß aller Dinge wird und bringt die Heilung.

Ich selbst neige bei meiner eigenen Literatur, das gestörte Kind-Eltern-Verhältnis in den Mittelpunkt zu stellen. Die Bewunderung für Ortheil und seinem Buch über seinen eigenen Weg zum Konzertpianisten hat etwas mit meinem eigenen Trauma zu tun, das ich leider auch weiterhin in meinen Texten verarbeiten werde, indem ich kaputte HeldInnen zeige, die sich aus dem Sumpf ihrer Verstrickungen lösen wollen, aber scheitern, weil sie in ihren erlernten Denkschleifen hängen bleiben.

Es wird auch immer meine eigene Geschichte bleiben, mein eigener Kampf mit meiner Herkunft. Und Klavierspielen gehört dazu. Als Kind wollte ich Klavierspielen lernen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, woher dieser Wunsch kam. Meine Eltern haben ihn mir nicht erfüllt. Mit dem Hinweis, dass für Instrument und Unterricht kein Geld da sei. Heute denke ich, dass meinen Eltern andere Beweggründe hatten.

Kreativität war in den Augen meiner Eltern etwas abgehobenes mit dem man sich nur Schaden zufügen konnte. Der vorgegebene Dreiklang aus Geburt, Arbeit, Tod könnte sich durch künstlerische und damit unproduktive (im kapitalistischen Sinne) Tätigkeit in eine Dissonanz verwandeln. Der Beruf des Künstlers wurde negiert und ähnlich wie der Beruf des Lehrers als Zumutung empfunden. Genauso gut hätte ich Zuhälter oder Kleinkrimineller werden können.

Ich opponierte zahm, erlernte auf Wunsch meiner Eltern das burschikose Instrument Akkordeon und reproduzierte brav Schlager und Volksmusik. Erst als ich mit vierzehn mir eine Gitarre kaufte, gelang es mir, meine eigene musikalische Kreativität auszuleben. Ich übte wie ein Wahnsinniger Gitarre, lernte stundenlang Solis auswendig und konnte bald in Bands als Lead-Gitarrist reüssieren, da ich mir das improvisieren selbst beigebracht hatte.

Trotzdem blieb eine Lücke, die ich mit neundreißig Jahren endlich füllen konnte. Ich nahm Klavierunterricht. Seit nun mehr zwölf Jahren tobe ich mich auf dem Instrument aus. Ich bin kein Virtuose und werde es nie werden. Allerdings spüre ich mich selbst, wenn ich spiele. Ich kann meinen Emotionen den Ausdruck verleihen, den sie brauchen, um mich am Leben zu erhalten. Genau vor den Ausdruck der Emotionen schienen meine Eltern Angst zu haben.

Am Dienstag trete ich mit meiner Tochter auf einem Konzert auf. Sie ist vierzehn und spielt Bachs Präludium in C-Dur aus dem Wohltemperierten Klavier und ich begleite sie mit dem Ave Maria von Gounod. Das Trauma muss sich nicht wiederholen und lebt nur in meiner Literatur weiter.

Wie es mit mir und Ortheil weiter geht, weiß ich noch nicht. Ich habe mich noch nicht mit ihm zur Schaumparty verabredet.

https://www.ortheil-blog.de/