Reihe 3, Platz 9 + 10 Der Totentanz von August Strindberg

Der Höhepunkt unseres Theaterjahrs: der Besuch einer Aufführung am Berliner Ensemble. In den letzten Jahren standen unsere Kinder an erster Stelle und der Besuch von kulturellen Veranstaltungen war immer an die Frage geknüpft, ob wir eine Betreuungsmöglichkeit finden. Wenn wir auf Städtetour gingen, gab es keine Betreuungsmöglichkeiten. Endlich sind unsere Kinder alt genug und sie konnten mal eine Stunde alleine im Hotel verbringen. Also haben wir für unseren diesjährigen Kurztrip nach Berlin den Besuch einer Theatervorstellung ohne Kinder eingeplant.

 Natürlich wollte ich mir als alter Brechtfan unbedingt eine Theatervorstellung im BE anschauen. Das alte Theater am Schiffbauerdamm ist seit 1954 Spielstätte des Berliner Ensembles, das 1949 von Bert Brecht und Helene Weigel gegründet wurde. Der Bau, am Ende des 19. Jahrhunderts errichtet, nimmt im Innenraum viele Stilelemente des Barock auf und wirkt  mit dem Stuckornamenten und den vielen Gipsputten leicht überladen. An den Seiten kleben zahlreiche Logen wie Schwalbennester. Der Zuschauerraum scheint keine große Bedeutung zu haben, denn er liegt eng zwischen den Logenwänden. Man kann sich kaum vorstellen, dass Brecht dieses altmodisch vorbürgerliche Interieur mit seiner spartanischen Theaterkunst in Verbindung bringen konnte, die sich dazu doch oft um sozial benachteilige Menschen drehte.

 Mir war egal, welches Stück an dem Abend geboten wurde. Mir war wichtig, einmal im Leben in diesen heiligen Hallen zu sitzen und ein wenig von der legendären und mittlerweile etwas abgegriffenen Brechtaura abzubekommen.

 Man konnte erst vier Wochen vor Beginn der Vorstellung Karten online kaufen. Also habe ich am Beginn des Vorverkaufs vor dem Computer gesessen und  peinlich darauf geachtet wie in unserem Wohnzimmertheater in Gießen in Reihe 3 in der Mitte Plätze zu bekommen. Der Bourgeois ist ein Gewohnheitstier und deswegen immer vom Aussterben bedroht.

 Es stand der Totentanz von August Strindberg auf dem Spielplan. Ich hatte mich nicht vorbereitet und wollte unbelastet den Theaterabend genießen. Eine viertel Stunde vor Beginn der Vorstellung saßen wir auf unseren Plätzen und meine Frau löcherte mich mit Fragen zum Stück und der Inszenierung. Ich verdrehte die Augen und begann wild auf meinem Handy herum zu tippen.

 Der Totentanz ist ein typischer Strindberg. Das Ehepaar Edgar und Alice leben seit einer gefühlten Ewigkeit auf einer Quarantäneinsel alleine in einem Festungsturm und gehen sich gegenseitig auf die Nerven. Dargestellt werden Edgar und Alice von einem echten Ehepaar, Marc Oliver Schulze und Claude de Demo. Wir machen Witze über Herrn Schulze, der schon in Alarm für Cobra 11 mitgespielt hat. Na das kann ja was werden, Alarm für Cobra 11 im Berliner Ensemble. Und der Regisseur hat sich mit dem Bühnenbild an der Serie Lost orientiert. Haben wir nicht geschaut, das hat ja jeder geschaut. Der Bourgeois wird an seiner eigenen Arroganz ersticken.

 Kurz nach 18 Uhr ging das Licht aus und der Vorhang hob sich. Die Anfangsszene zeigte Alice, die mit dem Rücken zu Publikum gewandt, auf einem Friseurstuhl schlief und in ihrer Hand ein Rasiermesser hielt. Sie kam langsam zu sich und begann genüsslich mit hörbaren Kratzgeräuschen ihr in die Luft gestreckten Beinen mit dem Rasiermesser zu traktieren. Edgar ein schlaksiger und ungepflegter Bursche mit grauen, schütterem Haar und missgünstiger Miene betrat die Szene durch eine Schleuse, wie man sie aus Weltraumfilmen kennt. Der erste Dialog bestand aus den üblichen Floskeln alter Ehepaare und ging nahtlos in den ersten Streit über. Es ging um Enttäuschung, Einsamkeit, gegenseitigem Misstrauen und der Erkenntnis, dass man sich jeden Tag die gleichen Vorwürfe macht. Kurt, ein alter Freund des Paares, der auf der Insel vor kurzem angekommen war, um dort ein Amt zu übernehmen betrat das Bühnenbild durch die Schleuse und wurde sofort in das übertriebene Spiel der Eheleute miteinbezogen. Kurt, aufgeräumt und stabil im Auftreten, gab dem Zuschauer die Hoffnung, dass er den beiden Einhalt bot und sie vielleicht von ihrem Unglück befreien könnte. Aber auch Kurt ist eine gebrochene Figur und hat etwas zu verbergen. Spät stellte sich heraus, dass er Alice verfallen ist und sich für alte Wunden, die ihm Kurt vor langer Zeit zugefügt hatte, rächen will. Irgendwann rannten drei Karikaturen ihrer selbst auf der Bühne herum und wussten nicht mehr, was tiefer Ernst war oder aus reiner Gemeinheit und Missgunst dem Anderen an Kopf geworfen wurde. Am Schluss haben Edgar und Alice Kurt um die Ecke gebracht und für einen Moment schienen sie gemeinsam glücklich zu sein. Erschöpft und seltsam glücklich warteten sie auf ihr nächstes Opfer.

 Man kann die Inszenierung als bitterböse Klamotte lesen. Kay Voges, der Regisseur, fand in Strindberg eine Verwandtschaft zu Becketts Endspiel und Sartres geschlossene Gesellschaft. Manchmal entdeckte man als Zuschauer an sich die gleiche Verwirrung, die einem beim Betrachten eines Beckett-Stückes überfällt. Alles ist todernst, aber doch irgendwie gar nicht so gemeint. Das widersprüchliche des Absurden gilt es auszuhalten. Zudem glitzerte hinter dem bösartigen Spiel das „die Hölle sind die anderen“ durch. Man hat sich eingeschlossen und will den Turm ja gar nicht verlassen.

 Nach anderthalb Stunden kurzweiligem Vergnügen verließen der Bourgeois und seine Ehefrau die heiligen Hallen. Anschließend stand er neben der Statue des sitzenden Bertholt Brecht auf dem Bertholt-Brecht-Platz und macht einen Selfie. Er spürte kurz ein Ziehen in seinem Nacken. Es ist die Erkenntnis, dass auch er zuweilen das Lamentieren und Proklamieren seines Ärgers nutzt, um sich seine Zeit zu vertreiben, der Bourgeois, der widerliche!

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