Am letzten Schultag vor den Ferien sollte es losgehen. Um kurz nach elf waren alle Kinder aus der Schule gekommen und ich konnte losfahren. Im Auto nehme ich meine dreizehnjährige Tochter, meinen sechsjährigen Sohn und unseren halben Hausstand mit. Meine Frau und meine zehnjährige Tochter stiegen fast gleichzeitig in den Zug von Wetzlar nach Frankfurt, um anschließend mit dem ICE nach Amsterdam zu reisen und von dort über Rosendahl mit dem Regionalzug die Endstation in Middelburg zu erreichen. Ich sollte mit dem Auto ca. eine Stunde früher in Oostkapelle ankommen, den Schlüssel für das Ferienhaus in Empfang nehmen und das Gepäck entladen und dann die beiden rechtzeitig gegen 19.30 in Middelburg abholen. Klingt nach Stress und straffer Zeitplanung und dabei sind Staus und Zugverspätungen noch nicht einmal berücksichtigt.
Deswegen hatte ich mit meiner Frau ausgemacht, dass wir uns immer wieder per WhatsApp auf den neuesten Stand bringen.
Wir brettern mit Tempo 100 über die Sauerlandlinie und bis zum Autobahnkreuz Olpe Süd kann man auch nicht schneller fahren, denn es reiht eine Baustelle an der anderen. Ich habe meinen Tempobegrenzer auf 110 gestellt, um den Akku meiner Zoe (jetzt erstirbt mein verliebtes Quietschen schon in einem stimmlosen Quieken) zu schonen und kann auf der rechten Spur bequem bis zur A4 spazieren fahren. Auf der A4, die zweispurig bis nach Köln führt, kann ich mich nicht immer an meine Regel halten. Wenn ich einen LKW überhole, kommen von hinten Fahrzeuge mit höherer Geschwindigkeit herangeprescht und drängeln. Also schiebe ich den Begrenzer manchmal hoch auf 120.
Ca. 15 Kilometer vor Köln wird der Verkehr immer dichter und an der ersten Ausfahrt zu den Kölner Vororten bahnt sich der erste Stau an.
Meine Frau hat uns die erste Nachricht geschickt. Per Apple Car Play bekomme ich ihre WhatsApp-Nachrichten vorgelesen und kann Siri meine Antwort diktieren. Das ist alles so verdammt schick in meiner ZOE. Als ich den Inhalt der Nachricht verstehe, wird aus dem Quieken ein panisches Krächzen.
Der ICE nach Amsterdam ist ausgefallen. Sie muss mit einem anderen ICE nach Düsseldorf und kann dort erst wieder in einen ICE nach Amsterdam. Typisch deutsche Bahn, schimpfe ich und sehe im gleichen Moment, die Warnblinker vor mir angehen. Ich stehe im Stau. Bis wir Köln hinter uns lassen können, zuckeln wir in Schrittgeschwindigkeit über das Autobahnkreuz. Mein Akku hat seit Olpe nicht mehr als 15 % hergeben müssen und steht jetzt bei beeindruckenden 70% Prozent. Vielleicht sollte ich bis Aachen einfach weiter im Schritttempo fahren.
Der Verkehr hinter Köln mäandert so vor sich hin. Angesichts der Verkehrsdichte könnte es aber zu stauauslösenden Verstopfungen auf der Autobahn kommen. Es passiert nichts dergleichen und gegen vierzehn Uhr erreichen wir Aachen. Wir verlassen Autobahn und biegen in die Krefelder Straße ein. Mein Zielort, ein Supermarkt, liegt hinter dem Fußballstadion Tivoli und zu meiner Überraschung ist die Ladesäule frei. Ich bin bei ca. 30 % Akkuladung und könnte noch ca. 80 Kilometer weit fahren. Ich hänge meine ZOE (Während ich den Stecker in sie hineinschiebe, streichle ich zärtlich ihr metallicblaues Blech und seufze sanftmütig) an die Ladesäule und stelle überrascht fest, dass sie die Karte meines heimischen Energieversorgers annimmt. Diese Ladung kostet mich nichts extra.
Meine Kinder und ich stromern ein wenig umher, laufen am Fußballstadion vorbei in das Industriegebiet, Essen bei Subway zu Mittag, laufen wieder zurück, holen Nachtisch im Supermarkt und warten neben dem Auto sitzend auf die Meldung, dass der Akku zu 100% geladen ist. Als wir weiter fahren ist es ca. 16.30 Uhr. Wir sind im Plan! Eigentlich sollten wir gegen 19 Uhr da sein.
Ich hatte schon bei Google-Maps reingeschaut und mit Schrecken festgestellt, dass bei Antwerpen ein riesiger Stau auf uns wartet. Antwerpen ist das Nadelöhr auf jeder Fahrt nach Zeeland. Ich kann mich an keine Fahrt erinnern, an der wir dort nicht im Stau gestanden haben. Trotzdem zeigt er mir eine Fahrtzeit von drei Stunden an.
Meine Frau ist mittlerweile in Düsseldorf in den ICE gestiegen und fährt nach Amsterdam. Der ICE ist supervoll. Natürlich hat sie nur Plätze im ursprünglichen ICE reserviert und muss jetzt sehen, wo sie ein Platz findet. Sie ist wohl untergekommen, macht sich aber lustig über einen sechsjährigen Jungen, der mit seiner Verhaltensstörung den Großraumwagen aufmischt.
Unser sechsjähriger Junge zeigt auf der Rückbank auf der Autobahn in Belgien eine deutliche Verhaltensveränderung, die sich durch nervige Selbstgespräche äußert und dazu führt, dass ich auf Spotify Märchen-Hörspiele raussuche, um ihn ruhigzustellen.
Spätestens bei Frau Holle verstummt er und lauscht versonnen den üblichen Grausamkeiten der Märchenwelt.
Auf der Stadtautobahn in Antwerpen eskaliert die Situation. Ich freue mich zwar riesig über den Stand meines Akkus, der sich irgendwie um die 75% bewegt und bis zum Ende des Staus die siebzig Prozent nicht unterschreitet. Eine erstaunliche Leistung, wenn man überlegt, dass wir vorher quer durch Belgien gefahren sind. Aber das ständige Anfahren und Bremsen führt zu Krämpfen in meinem rechten Fuß. Und hinter mir sind die Brummifahrer ständig am Hupen. Mindestens zweimal trennen uns nur ein paar Zentimeter von einer Katastrophe, weil hinter mir ungeduldige Autofahrer sich rücksichtslos irgendwo dazwischen drängen. Und dann diese nervige Märchengrütze. König Drosselbart: die Zähmung einer stolzen und übermütigen Frau, voll frauenfeindlich!!! Erst als wir die Hafenausfahrt erreichen, entspannt sich die Situation.
Wir verlassen Antwerpen und Belgien und fahren in die Dämmerung hinein. So wie es aussieht, verzögert sich unsere Ankunft um ca. eine Stunde.
Fast gleichzeitig meldet meine Frau, dass sie im Zug nach Rosendahl gemerkt hat, dass der Zug gar nicht nach Rosendahl fährt. Man hat ihn einfach in eine andere Stadt umgeleitet. Meine Frau ist rechtzeitig ausgestiegen und hat auch schon eine andere Verbindung gefunden, die sie nach Rosendahl und dann nach Middelburg bringt. Voraussichtliche Ankunftszeit 20.30 Uhr. Es hat sich also alles wieder zurcht gerüttelt.
Gegen 20 Uhr sind wir in Oostkapelle. Ich besorge Schlüssel unseres Ferienhauses und räume das Gepäck schnell aus. Mittlerweile bin ich ziemlich erschöpft und dünnhäutig. Ich reiße mich aber zusammen und um 20.25 parken wir auf dem letzten freien Parkplatz vor dem Bahnhof in Middelburg. Das Parkhaus am Bahnhof wird gerade saniert und es gibt nur vor dem Bahnhof ein paar Kurzzeitparkplätze.
Am Bahnsteig erfahren wir, dass der Zug natürlich Verspätung hat. Kurz nach halb neun kommt meine Frau und Tochter an. Im Auto auf der Fahrt nach Oostkapelle ziehen wir ein Resümee. Wer war jetzt besser dran? Das Zugfahren in den Niederlanden ist genauso eine Zumutung wie das Zugfahren in Deutschland. Meine Frau berichtete von Ekelabteilen und Regionalzügen in den die defekte Toilette den halben Wagon mit Brackwasser überschwemmte. Ich bin die gleiche Strecke vor ca. zehn Jahren mit dem Zug gefahren und es war perfekt. Keine Verspätung, Sitzplatz in allen Zügen, kein defekten Toiletten, überall W-Lan. Entweder war das Zufall oder die niederländische Bahn hat sich der Deutschen Bahn angeglichen.
Letztendlich die lange Reise mit dem E-Auto auch nicht anstrengender als jede andere Reise mit dem Auto. Meine Strategie, nur eine lange Pause einzulegen, hat funktioniert. Ohne Stau geht es nicht und das zeigt wieder mal, dass jedes Auto auf der Straße ein Auto zu viel ist. Allerdings ist das Bahnfahren nicht wirklich attraktiver, wenn man sich nicht sicher sein kann, dass man am Zielort überhaupt ankommt. Als Fazit bleibt: auch heutzutage können Reisen in Mitteleuropa zu Mikroabenteuern werden. Und danach hat man wirklich einen ausgiebigen Urlaub nötig. Ich gehe mit 20 % und ca. 70 Kilometer Reichweite ins Bett und schlafe ca. neun Stunden durch.