Die Buchmesse…immer wieder die Buchmesse…sich am Samstagmorgen leicht übermüdet in den Zug nach Frankfurt quälen…schon beim Eintritt nicht zu wissen, wo man hin will… meine Frau, die unbedingt viele Bücher kaufen will (geht jetzt auch samstags. Deswegen waren wir samstags und nicht wie in den Jahren zuvor sonntags auf der Buchmesse) und für gewöhnlich leicht frustriert ohne ein einziges Buch nach Hause fährt…ich, der ich nach interessanten Autoren fahnde und seinen alljährlichen Artikel für seinen Blog im Kopf hat und davon träumt mal an den Fachtagen auf die Messe zu gehen…das Geschubse in den Hallen…die langen Gänge, unendliche Meter zu Fuß…die vielen Cosplay-Mädchen mit ihren Lolita Kostümen und ihren überdimensionierten Pappmaché-schwertern…die Nerds, die nur kostenlose Artikel in ihre unzähligen Stofftaschen packen wo…warum machen wir das alles bloß…warum nur?
Sascha Lobo – ZDF blaues Sofa
Eine nette junge Messehostess reicht den Kindern Papierstreifen. Wenn man sie verliert, können wir angerufen werden. Wir verlieren jedes Jahr eines unserer Kinder. Besonders unser jüngster neigt dazu, einfach zu verschwinden. Wir rennen durch den Eingangsbereich in die Halle 4.1. Meine Frau sucht nach Mealprep-Büchern und ich suche das blaue Sofa vom ZDF. Pünktlich um halb Elf bin ich da. Sascha Lobo redet schon. Er hat ein neues Buch geschrieben (Realitätsschock). Der Mann mit rotem Iro und schwarzen Schlabberanzug ist der allgegenwärtige Onkel der Digitalnerds, der uns analogen Menschen das virtuelle Welt des Internets erklärt. Unaufgeregt beschreibt er, wie Attentäter durch die digitale Vernetzung ein Publikum finden und dieses sich zur Nachahmung berufen fühlt. Rechtsextreme hat es schon immer gegeben, aber durch das Internet haben sich Filterblasen und Plattformen gebildet, auf denen sie ihre Meinungen potenzieren können und sich nach Lust und Laune austoben können. Seine Kernthese ist, dass Politik und auch die Gesellschaft auf die Entwicklungen des 21. Jahrhunderts mit Mitteln des 20. Jahrhunderts reagiert. Als Beispiel nannte er das Rezo-Video. Hätte der Youtuber einen Leitartikel in irgendeiner großen Tageszeitung mit gleichem Inhalt veröffentlicht, hätte die CDU die Mittel gehabt, um auf die Vorwürfe reagieren zu können. Alleine durch die Veröffentlichung der Polemik auf einer digitalen Plattform wie Youtube war die CDU völlig unfähig eine angemessene Antwort zu zugeben. Dann machte Herr Lobo launige Witze über Julia Klöckner, die ihn wohl am Vortag an seinem Stand besucht hatte und ihn mit zwei Küsschen begrüßt hatte. Worauf hin die Frage aufkam, warum Frau Klöckner ihn so begrüße. Er antwortete, dass sei ihrer herzliche Art geschuldet. Man kenne sich, außerdem habe sie als Weinkönigin ein entsprechendes Begrüßungstraining genossen. Die Lacher hat er auf seine Seite. Insgesamt fand ich das Interview sehr aufschlussreich, weil ein Internetfreak und Interpret digitaler Kommunikation vollkommen überrascht ist über die Entwicklungen der letzten Jahre und selbst eher achselzuckend darauf reagiert. Das nimmt man Herr Lobo ab. Er kann die Zusammenhänge nachvollziehbar darstellen, ohne ihnen die Komplexität zu nehmen. Er legt die Finger in die ziemlich eitrigen Wunden und lässt sie offen vor sich her blühen. Den Verband müssen die anderen anlegen. Ich höre ihm gerne zu. Aber ein Buch muss ich nicht von ihm haben. Da kenne ich tiefsinnigere Welterklärer.
Dag Olstad im Gespräch mit Hinrich Schmidt-Henkel – norwegischer Pavillon
Kaum bin ich weg vom blauen Sofa, finde ich meine Familie nicht mehr wieder. In Halle 3.0 sind die Gänge schon vollkommen überfüllt. Mehrmals rufe ich meine Frau auf dem Handy an, jedes Mal springt die Mailbox an. Ich schwitze, die Menschenmassen empfinde ich als Zumutung. Kurz überlege ich, mich wieder in den Zug zu setzen und ohne meine Familie heim zu fahren, da klingelt endlich mein Handy. Meine Frau möchte gerne zum norwegischen Pavillon, in der Hoffnung, dass dort weniger Betrieb ist. Außerdem möchte Sie Hinrich Schmidt-Henkel live erleben. Herr Schmidt-Henkel ist ein vielbeschäftigter Übersetzer bekannter französischer und norwegischer Autoren. Außerdem taucht er immer wieder mal in der Sendung Karambolage auf Arte auf und erklärt besondere Wörter und Redewendungen. Nach der Lektüre zweier Bücher von Édouard Louis (dem ich mich in einem anderen Beitrag gerne widmen möchten), die von Herr Schmidt-Hinkel übersetzt wurden und durch seine Auftritte in der Sendung Karambolage wurde meine Frau auf ihn aufmerksam. Herr Schmidt-Hinkel sollte ein Gespräch mit norwegischen Autor Dag Solstad führen. Herr Solstad ist ein kleiner gramgebeugter alter Herr mit weißer Fusselmähne und zerstörtem Gesicht mit weißem Stoppelbart, der ein Jackett aufträgt, das er wahrscheinlich schon vor vierzig Jahren aus dem Altkleidercontainer gefischt hat. Das Interview stellt sich als langwierig und zäh heraus. Herr Hinrich Schmidt-Hinkel stellt lange Fragen, die erst von einem anderen Übersetzer, anhand seiner Notizen, Herrn Solstad vermittelt werden müssen und der kryptische Antworten auf Norwegisch gibt, die der Übersetzer wiederum anhand seiner Notizen ins Deutsche übersetzt. Herr Solstad wurde lange Zeit nicht in Deutschland verlegt, obwohl er in Norwegen recht erfolgreich war. Anscheinend wurden ihm als politischen Autor mit kommunistischer Prägung keine Erfolgschancen im Ausland beigemessen. Erst als ihm durch das Ende des kalten Krieges die politische Utopie abhandengekommen war, begann er unpolitische Romane zu schreiben und erst dann wurden seine Bücher auch übersetzt und in Deutschland verlegt. In seinen Büchern neuerer Prägung geht es um Protagonisten, die sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen, um außerhalb der Gesellschaft leben zu wollen. Der aktuelle Roman, der vor kurzem in Deutschland veröffentlicht wurde, ist zwanzig Jahre alt. Er heißt „T.Singer“ und Herr Olstad liest uns eine Passage aus dem Roman auf Norwegisch vor. Wir denken an eine Realsatire: ein alter ungepflegter Schriftsteller liest verwaschen, fast lallend, auf Norwegisch einen Text vor, den wir nicht verstehen und auch nicht folgen können. Als dann Herr Schmidt Hinrich noch den Inhalt zusammenfasst, die Geschichte eines Vierunddreißigjährigen Bibliothekars, der sich vollkommen zurückgezogen hat und sich in eine Töpferin verliebt, können wir uns kaum zurückhalten. Wir grinsen, schmunzeln und meine Frau gibt mir als Belohnung für die Strapazen des Zuhörens ein Duplo. Wir schauen uns den Norwegischen Pavillon an und hören im Hintergrund Herrn Schmidt-Hinrich jubilieren und Herrn Olstadt grummeln. Der Pavillon wirkt übrigens diesmal sehr leblos und lieblos. Auf Tischen liegt norwegische Literatur aus, die Tische sind mit Edelstahlgebilden verziert und der Raum ist durch große Spiegel links und rechts künstlich vergrößert worden. Mehr Stil ist nicht.
In der Halle 3.0 ist kein Durchkommen mehr. Wir haben den Eindruck, dass samstags mehr Betrieb als sonntags ist oder liegt es daran, dass man nun auch samstags Bücher kaufen kann oder dass das Wetter schlecht ist? Wir finden keine erhellende Erklärung und rennen raus, um uns dann in der Halle 4.1 zu tummeln. Während meine Familie noch in der Halle bleibt, mache ich mich auf den Weg zu einem anderen Programmpunkt, der mir besonders am Herzen liegt
Terezia Mora im Gespräch mit Elke Schmitter – am Stand des Spiegels
Für mich ist es eine heilige Pflicht dem Stand des Spiegels auf der Buchmesse einen Besuch abzustatten. Seit über dreißig Jahren habe ich keine Ausgabe des Spiegels verpasst und jede Ausgabe von hinten nach vorne gelesen. Niels Nikmar, Susanne Beyer oder Elke Schmitter in voller Größe in Augenschein nehmen zu dürfen, ist für mich eine Ehre. Das Terezia Mora ihr neues Buch beim Spiegel vorstellt, bedeutet für mich also doppelten Lustgewinn. Schließlich habe ich Frau Mora dieses Jahr für mich entdeckt. Selten kann ich erfolgreichen Autoren etwas abgewinnen, die plötzlich aus dem Nichts auftauchen und dafür gefeiert werden, dass sie den neusten heißen Scheiß geschrieben haben. Für mich müssen Autoren wie gute Weine ein paar Jahre reifen. Sie müssen sich etablieren und über mehrere Bücher hinweg beweisen, dass sie mein Interesse verdient haben. Terezia Mora war der richtige heiße Scheiß als sie 2014 den deutschen Buchpreis gewann und für mich wurde sie erst interessant als sie den Georg-Büchner-Preis gewann, die Autoren zumeist erst bekommen, wenn sie schon über den Status der Eintagsfliege hinausgewachsen sind. Im Frühjahr habe ich den ersten Teil der Trilogie um den Protagonisten Darius Kopp gelesen. „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ aus dem Jahr 2009 hat mich begeistert. Frau Mora hat nun den letzten Teil der Trilogie „Auf dem Seil“ veröffentlicht. Frau Mora ist genauso alt wie ich und eine sympathische Person, die gerne Auskunft über ihre schriftstellerische Tätigkeit gibt. Man kann als Autor viel von ihr lernen, weil sie sehr plastisch ihre Arbeit am Werk reflektieren kann. Wenn sie über Darius Kopp spricht, hat man das Gefühl, die Person existiere wirklich. Teresia Mora antwortete auf die Frage, ob es sein könne, dass Kopp in einem späteren Werk wieder auftauche, sie es nicht als wahrscheinlich sieht, das sie alles erzählt hat, was sie über Darius weiß. Es gibt an dem Charakter Darius Kopp etwas, dass über das Wissen der Autorin hinausreicht, als habe Frau Mora Darius Kopp kennengelernt, eine Zeitlang beobachtet und begleitet und nun hinter sich gelassen, damit Herr Kopp sein Leben weiter leben kann. Das offenbart eine liebevolle Haltung der Autorin gegenüber ihren Figuren, die irgendwann zu eigenständigen Personen werden und zu denen sie trotzdem eine professionelle Distanz hält. Sie zeigt im Interview auch die Konstruktionsarbeit die bei der Entwicklung des Textes notwendig war. Im dritten Teil musste sie dafür sorgen, den mittellosen Darius wieder nach Berlin kommt, dem Ausgangspunkt ihrer Trilogie. Zufälligerweise sei ihr bei Recherchen aufgefallen, dass der Ätna früher als der Eingang zum Hades galt und es ein wunderbarer Ort sei, damit Kopp die Asche seiner Frau verstreuen könne. Alles dies musste sie in eine Geschichte gießen, die trotz aller Konstruktion glaubwürdig bleibt. Die große Kunst besteht darin, dass egal wie abstrus die Handlung klingt, man als Leser sie als Möglichkeit anerkennt. In dem Falle trägt dazu bei, dass Kopp in der Gegenwart lebt, in dem Sinne, dass er nicht sonderlich reflektiert und wenn er beim Denken nicht mehr weiter kommt, einfach zu Handeln beginnt. Frau Mora sagt selbst, dass Darius Kopp sich durch sein Leben wurschtelt und er sich damit in guter Gesellschaft befindet, da sich die meisten Menschen letztendlich durch ihr Leben wurschteln. Frau Mora hat mit ihrer Trilogie ein Werk über den urbanen Menschen der Gegenwart geschaffen, der hoffnungsvoll anfängt, in prekären Lebensverhältnissen und gepflegten Großstadthedonismus hängenbleibt und sich nur weiter entwickelt, wenn das Schicksal ihn dazu zwingt. Frau Mora hat noch ein paar Fragen zu ihrem Verhältnis zu deutschen Sprache und ihrer Herkunft beantwortet und schon war eine kurzweilige halbe Stunde vorbei.
Danach war die Buchmesse für mich mental zu Ende. Wir sind noch zwei Stunden durch die sich langsam leerenden Gänge gebummelt. Schließlich sind wir im Yogi-Tee-Zelt gelandet. Meine Frau hat auf eine Tasse kostenlosen Tee spekuliert. Allerdings gab es keinen Tee mehr. Zumindest hat sie ein paar Packungen Tee gekauft und damit den Frust über die nicht gekauften Bücher kompensiert. Irgendwann waren die Füße schwer und der Kopf leer und wir sind wieder in den Zug gestiegen und nach Hause gefahren.
Seit Jahren gehe ich nicht mehr hin: zu viele hochnäsige Wichtigtuer, die sich in der eigenen Eitelkeit sonnen. Unerträglich (für mich).
Ja, die gibt es dort in rauen Mengen und im Sonderangebot werden sie einen hinterher geworfen. Ich nehme es mit Gelassenheit, Humor und Distanz und finde doch in dem Getümmel immer wieder kleine Perlen, die mich weiterbringen. Ich kann aber durchaus verstehen, wenn man sich dem nicht aussetzen will.