Wie, du weißt nicht, wie die Geschichte weiter geht!?

Nachdem Henni meine dritte Version gelesen hatte, entstand eine neue Diskussion. Ich konnte Henni nicht wirklich erklären, worum es in der Geschichte eigentlich ging. Ich konnte ihr nicht plausibel die Zusammenhänge zwischen Figuren und ihren Taten erläutern.

Literarischen Sinn ergibt sich nur, wenn eine handelnde Person ein Motiv für ihr Handeln hat und literarisch interessant wird es erst, wenn mehrere handelnde Personen mit verschiedenen  Motiven aufeinandertreffen. Und lesbar wird es erst, wenn es eine eindeutige Kausalkette gibt, die niemals abreißt. Viele schlechte Texte scheitern nicht an fehlenden sprachlichen Mitteln, sondern an mangelnder Kohärenz in ihren Kausalketten. 

Henni hat mich ertappt. Z.B. konnte ich nicht erklären, warum Alethea ein Roman über Scott schreiben will. Klar habe ich mir ein Motiv konstruiert. Sofia hat ihr es nahegelegt einen historischen Roman zu schreiben, um im Subtext eine politische Botschaft zu schreiben. Was für ein Quark. Alethea hat noch nie einen historischen Roman geschrieben. Ihre Leser erwarten von ihr Fantasygeschichten. Ihre Auftraggeber, eine staatliche Stelle, wird ihr das nicht erlauben, weil sie Angst hätten, dass sie daran scheitert, weil sie um die Fähigkeit ihrer Autorin wissen. Gleichzeitig braucht Alethea den Erfolg, um in der sozialen Hierarchie aufsteigen zu können. Sie kann es sich nicht leisten, auf eigene Faust ihren Stil zu ändern. Sie ist auf Gedeih und Verderb auf das Wohlwollen der staatlichen Stellen angewiesen und hat gar keinen Freiraum, um Sofias blöden Ideen zu folgen.

 Ich habe die ursprüngliche Idee meiner Frau vorgestellt und sie hat mir meine Kausalkette sofort zerlegt und gezeigt, dass sie in das Nichts einer schlechten Geschichte führt. Ich spürte, was mir fehlt: Ein Exposé. Ich musste mir erst einmal selbst klar machen, wohin meine Geschichte führt. Die Handlungsstränge mussten logisch sein und klar die Motive der handelnden Personen erkennen lassen. Mit einem Exposé ist das möglich. Vor allem kann ich die Kausalketten immer wieder bearbeiten. Wenn ich einen Roman schreibe und ich stelle mittendrin fest, dass es dringenden Änderungsbedarf gibt, kann man das Ruder kaum noch herumreißen.

 

Spielverderber

Zwei Wochen im Sommer haben wir in der Toskana verbracht. Inmitten einer träumerischen Landschaft, sanften Hügeln, milden Gelbtönen von Ocker bis Sand, flirrendem Sonnenlicht, mittelalterliche Ansichten und Weinberge bis an den Horizont. Die meiste Zeit des Tages haben wir inmitten einer stillen Waldidylle auf einer überdachten Terrasse unseres Ferienhauses verbracht. Die Ruhe habe ich genutzt, um weiter an meinem Roman zu arbeiten. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr weiter zu kommen und habe das erste Kapitel Henni zum Lesen gegeben. Meine Frau hat ein ambivalentes Verhältnis zum meinem literarischen Schaffen. Gerade am Anfang unserer Beziehung schien es mir, als übe die Tatsache, dass sie einen Kerl kennt, der nicht nur ein Buch liest, sondern auch welche schreibt, einen gewissen Reiz auf sie aus. Damals hatten wir in jeder freien Minute eine Buch oder eine Zeitung in der Hand. Es gibt Fotos aus unserer Anfangszeiten, wo wir beide still versunken in unserer Lektüre am Frühstückstisch sitzen. Das ist echte Liebe. Und da fangen ja immer die Probleme an. Schreiben kostet Zeit. Autoren sind Eigenbrötler und wenn sie Schreiben, wollen sie dabei nicht gestört werden. Also musste Henni meine mürrischen Abweisungen in meinen Arbeitsphasen ertragen. Sie wurde zum Opfer meiner egomanischen Schreiborgien. Leider war das Ergebnis nicht so, dass sie das hätte verschmerzen können. Wäre es mein Beruf und ich könnte damit die Familie ernähren, wäre ihr meine Abwesenheit während meiner Anwesenheit am Laptop egal. Leider ist es immer ein für alle Seiten unbefriedigendes Hobby geblieben. Deswegen ist es schwer, von ihr Anerkennung zu bekommen. Das letzte Lob erhielt ich von ihr, als meine Kurzgeschichte in der epubli-Anthologie erschienen war. Euphorie sah übrigens anders aus.

 Jetzt hatte sie mein erstes Kapitel gelesen und abends, es war schon die Sonne hinter den Hügeln verschwunden, äußerte sie ihre vernichtende Kritik. Meine Romane seien unlesbar. Sie seien nach ihrer Ansicht viel zu aufwändig erzählt. Man könne der Geschichte nicht folgen. Ich erklärte viel zu viel. Der Leser brauche viele Leerstellen, die seine Phantasie anregen und nicht ständig psychologische Ausführungen, warum einer etwas mache. Ich könne meine Romane eigentlich verbrennen. Sie seien absolut sinnbefreit. Aber meine Kurzgeschichten seien sehr gut. Ich solle entweder nur Kurzgeschichten schreiben oder Romane, die wie meine Kurzgeschichten sind. Nach der Kritik trank ich mein Glas Chianti sehr schnell aus und formulierte angefressen meine Gegenkritik. Menschen, die selbst einen hohen intellektuellen Anspruch an sich haben (dabei ist es egal, ob sie ihn erfüllen können oder nicht) reagieren bei der leisesten Kritik wie eine beleidigte Leberwurst und versuchen den Kritiker jegliche Kenntnis der Materie abzusprechen. Meine Frau ist an der Stelle ziemlich mitleidslos. Es prallt alles an ihr ab. Sie lässt sich nicht aus dem Konzept bringen. Also müsste ich nach dem Genuss einer halben Flasche Wein begreifen, dass ich selbst eine Flasche bin. Ich war ziemlich beleidigt und reagierte die nächsten Tage sehr eingedrückt, bis ich begriff, dass sie es gut mit mir meinte und nur das Beste aus mir heraus holen wollte. Ich nahm mir ihre Kritik zu Herzen und schrieb innerhalb weniger Tage die dritte Version des ersten Kapitels. Ich ging mit ihr Abschnitt für Abschnitt durch und sie fand es akzeptabel. Ich hatte mich auf die wesentlichen Elemente der Erzählung konzentriert und alles Überflüssige mit der Löschtaste aus meinem Roman heraus gekickt. Unter der Prämisse, dass der Leser neugierig werden soll, weil er nur Andeutungen erhält, habe ich meine sehr ausschweifenden Ausführungen über den Ökostaat und dessen Struktur herausgeworfen. Auch habe ich den langatmigen Abschnitt über Aletheas Entwicklung zur Schriftstellerin entfernt. Darin waren auch Äußerungen über die Geschehnisse, die zur Entstehung der Gesellschaftsform führten, enthalten. Ich habe viel Platz verwendet, um zu erzählen, wie Alethea mit der offiziell nicht existenten Madenopposition in Berührung kommt. Diesen Teil werden ich noch einmal aufarbeiten müssen. Dabei ist die Begegnung von elementarer Bedeutung, denn sie ist Teil der Dramaturgie. Allerdings sollte ich es nicht wie eine Räuberpistole schreiben. Auch beim letzten Teil, den Besuch bei Sofia, werde ich mir noch etwas einfallen lassen müssen, um es in den Rahmen der Geschichte besser einpassen zu können.  

 

1925 vs. 2029

Häufig ähneln sich gesellschaftliche Entwicklungen unterschiedlicher Epochen ähneln. Autoritäre Gesellschaftsstrukturen mit  starren Klassenstrukturen, die sich nach Faktoren wie Herkunft, Status, Eigentum richten, galten oft genug als Standard. Im Gegensatz dazu stehen die liberalen Gesellschaftsordnungen, die die Bildung von Klassen vermeidet und dementsprechend nach allen Richtungen durchlässig sind. Die letztere Gesellschaftsordnung scheint aus unserer heutigen Sicht das Ideal zu sein. Trotzdem erleben wir gerade im Moment, wie die autoritären Strukturen für viele Menschen anscheinend einen gewissen Reiz ausüben. Man spricht von Elitenbildung, von starken Persönlichkeiten, die wissen, wie der Hase läuft und das man denen doch Politik und Wirtschaft überlassen sollte, weil sie das ganze Chaos der Globalisierung beseitigen werden. Die Forderung nach einer starken Elite ist nicht nur in Europa en Vogue und das obwohl nach dem zweiten Weltkrieg alles dafür getan wurde, um separatistische antidemokratische Gesellschaftsstrukturen zu vermeiden.

Der große Unterschied zwischen 1925 und 2029 ist, dass die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung genau entgegengesetzt verläuft. Man erlebt zwischen den Kriegen ein allgemeines Aufatmen, eine Abkehr von autoritären Herrschaftsformen und beginnt sogar fünfzehn Jahre später den absoluten Endkampf gegen die ausgearteten faschistischen Regime mit ihrem Führerprinzip, die nichts anderes darstellen als eine moderne Übertreibung von absoluter Herrschaft und Klassengesellschaft. In 2029 ist man im Verlauf der letzten dreißig Jahren weltweit genau in diese Kerbe hineingerutscht. Die herrschenden Subjekte einer globalen Gesellschaft setzen alles auf eine utilitaristische Ökonomisierung des Zusammenlebens und ernten dafür eine Elitengesellschaft mit autoritäre Zügen, die dafür sorgt, dass ein Großteil der Menschen in eine wirtschaftliche Abhängigkeit geraten, die kaum Fluchtmöglichkeiten bietet. Natürlich für die Undurchlässigkeit der einzelnen Klassen zu  einem degenerativen Stillstand sozialer Entwicklung. Gerade dieser große Unterschied, die Zeit des Aufbruchs vs. die Zeit des Stillstandes gibt mir als Autor die Chance den Rückgriff auf die Vergangenheit zu wagen, um zu zeigen, was der Zukunft fehlt. Shaw als Bote der Vergangenheit mit seinem ausgeprägten politischen Bewusstsein, der erkennt, dass Gesellschaft sich evolutionär zum Besseren entwickeln kann, in dem jeder am politischen Leben teilnimmt, kann den Unterschied zur politisch unbewussten Alethea deutlich werden lassen, die sich in die autoritären Strukturen einordnet und deren Generation die Teilhabe an Politik gar nicht mehr kennt. Insbesondere ist das für mich als Autor möglich, da beide eine Parallele in ihrer Herkunft aufweisen. Durch das wirtschaftliche Scheitern ihrer Väter haben sie den sozialen Abstieg erlebt. Bei Shaw wie Alethea ist ihr Leben darauf ausgerichtet, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf wieder heraus zu ziehen. Shaw allerdings indem er gegen den Mainstream arbeitet und Alethea indem sie sich anpasst. Alleine daraus ergibt sich die Reibung, die ich brauche, um meine Intention für den Leser sichtbar zu machen.

 

Die Welt im Jahre 2029

Es gilt nun die verschiedenen sozialen Systeme der Ebene Alethea und Shaw Cherry-Garrard zu erforschen, um ihre Gemeinsamkeiten heraus arbeiten zu können. Die gesellschaftlichen Zustände, die in der Ebene Jo Sommer herrschen, habe ich an anderer Stelle ausgiebig dargestellt

 Beginnen wir mit der Zukunft im Jahre 2029: Das soziale Gefüge beruht auf Trennung anstatt Solidarität. Jeder Mensch bekommt zu Beginn seines Lebens eine monetäre Schuld aufgebrummt, die seine Schuld gegenüber der Gesellschaft darstellt und die er im Laufe seines Lebens abarbeiten muss. Jeder Bürger fängt mit den gleichen Schuldenstand an. Durch das erwirtschaftete Einkommen, durch ererbtes Vermögen, also durch Geldleistung kann jeder seine Schuld nach und nach tilgen. Wer von Geburt an in wohlhabenden Verhältnissen lebt, wird seine Schuld sofort tilgen können, derjenige, der in Armut groß wird, hat wenige Chancen die Tilgung seiner Schulden zu erreichen. Dadurch sind drei Kasten entstanden, die mehr oder weniger nebeneinander existieren und die wenige Berührungspunkte haben. Es gibt die Elite, der Geldadel, der schon vor Generationen seinen Reichtum angehäuft hat, die Mächtigen, Banker, Industrielle, dazu gehören die Emporkömmlinge, die durch Zufall und Glück von den unteren Schichten aufgestiegen sind. Sie dienen oft als Alibi für die Elite, die anhand der Existenz der Emporkömmlinge zeigen kann, dass das Kastensystem durchlässig ist. Die Elite stellt in der Bevölkerung nur einen kleinen Anteil. Der weitaus größere Anteil wird von den sogenannten Maden gestellt. Dies sind die gewöhnlichen Arbeitnehmer, deren einziges Ziel ist, ihr Schuldenkonto schnellstmöglich abzuarbeiten. Ihre Chance, irgendwann zur Elite zu gehören, ist illusorisch gering und da alle um diesen Umstand wissen, agieren die meisten Maden wie die Hamster im Hamsterrad. Sie arbeiten Tag und Nacht, haben kaum Zeit, um ihren eigenen Interessen zu folgen und sind grundsätzlich ohne politisches Bewusstsein. Durch den Druck, der auf ihnen lastet, sind viele von ihnen psychisch ausgezehrt, wenn nicht sogar krank und viele neigen dazu, latent aggressiv zu sein. Das Bildungssystem beruht auf der Vereinzelung. Den Maden wird in der Schule beigebracht, dass sie nur die Tilgung ihres Schuldenkontos im Augen haben sollen und deswegen sich auf ihr berufliches Weiterkommen konzentrieren sollen. Fraternisierung mit Gleichgesinnten gilt als verpönt. Man misstraut dem Nachbarn und verhält sich gegenüber anderen gleichgültig oder abweisend. Liebesbeziehungen gelten als altmodisch. Sexualität und Fortpflanzung ist ökonomisiert worden. D.h. man bezahlt für eine Dienstleistung und geht keine langfristigen freiwilligen Beziehungen ein. Eigentlich sind alle sozialen Lebensweisen mit Dienstleistungen verknüpft, die bezahlt werden müssen.

 In der dritten Kaste sammeln sich alle Personen, die in dem System der Maden nicht mitmachen wollen oder nicht mitmachen können. Die Ausgestoßenen möchten sich von ihren Pflichten gegenüber der Gesellschaft befreien. Allerdings haben sie keine Möglichkeit ihrer Schuldenrückführung zu entkommen. Insofern sind sie darauf angewiesen, in irgendeiner Art und Weise ein Einkommen zu generieren. Entgegen den Maden haben sie verstanden, dass ein Überleben nur möglich ist, wenn man sich mit Gleichgesinnten zusammenschließt. Das heißt nicht, dass sie politisch organisiert sind. Sie leben zumeist in kleinen Kommunen abseits der Städte und versuchen durch einen hohen Grad an Selbstversorgung sich eine kleine Freiheit zu verschaffen. Sie werden von den Behörden geduldet, weil sie für ein geringes Einkommen den Maden als Dienstleister zu Verfügung stehen, also sich um ihre Kinder kümmern, Sex mit ihnen haben oder abends gemeinsam mit ihnen Fernsehen schauen. Obwohl sie sich von der Gesellschaft lösen wollen, sind sie Teil des Systems. Der Staat wird gelenkt von der Heiligen Dreifaltigkeit: Gesellschaft, Staat und Arbeitgeber. Es ist eine anonyme Struktur der Macht, die sich nur in ihren Vertretern zur erkennen gibt und die für die Menschen nicht greifbar ist. Es gibt keine grundsätzlich diktatorische Struktur, es gibt keine autoritäre Führung, die sich als Inhaber der staatlichen Gewalt aufspielt. Es gibt nur noch scheindemokratische Teilhabe der Menschen am Staat. Wahlen haben nicht die Funktion, den Bürger seine Geltung als Souverän zu verschaffen, sondern sie dienen dazu, den Menschen das Gefühl zu geben, sie hätten die Möglichkeit etwas zu bestimmen. Dabei bestimmt die anonyme Heilige Dreifaltigkeit die Geschicke eines Staates. Grundsätzlich hat sich durch die ökonomische Verknüpfung ein globales politisches System etabliert, dass eher dynamisch funktioniert und sich nicht an der Idee der Nationalstaaten orientiert. Wirtschaftlichkeit und Effizienz prägen politisches Handeln. Ethische Grundsätze sind nicht mehr maßgebend für politische Entscheidungen. Da der Einzelne sich selbst überlassen ist, gibt es auch aus der Bevölkerung wenige Bestrebungen an politischen Entscheidungen zu zweifeln. Das Denken der Internet-Generation, dass alles dazu dient die Welt besser zu machen und diese Maxime sich auf rein positivistisches und materialistisches Weltbild stützt, hat sich endgültig durchgesetzt. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde hat sich als lästiges Übel überlebt, weil sie der Schaffung eines perfekten Menschen, der nur den wirtschaftlichen Nutzen als einzige normative Kraft anerkennt, im Wege steht. Dazu gehört, dass die technische Entwicklung sich nicht ins unendliche fortgepflanzt hat, sondern auf dem Status von 2015 stehen geblieben ist. Man hat sich in eine Sackgasse manövriert und das politische System verhindert Innovationen und Weiterentwicklung, weil die Menschen keine Zeit haben, um neue Visionen zu entwickeln.

 Alethea Cumberland gehört durch ihre Herkunft eigentlich zu den Maden. Sie schickt sich an in die Kaste der Emporkömmlinge hinein zu wachsen. Sie hat ihr einziges Talent genutzt, um ihr Schuldenkonto in absehbarer Zeit ausgleichen zu können und danach Vermögenswerte anzuhäufen. Dazu gehört allerdings, dass sie weiterhin erfolgreich ist. Ein Fehltritt, ein Flop und sie fängt wieder von vorne an. Alethea profitiert von ihrer Popularität und genießt einige Privilegien der Elitären. Doch der Druck auf sie ist groß. Dementsprechend steckt hinter ihrer Arroganz ein Stück Unsicherheit und Nervosität. Zudem gibt es genug Menschen, die ihr mistrauen, weil sie durch ihre individuelle Kreativität vorangekommen ist und dies nicht zur utilitaristischen Vorstellung von ökonomischem Erfolg passt. 

 

Heureka

Als ich nun die dritte Ebene für meinen Roman über Jo Sommer suchte, fielen mir wieder Cherry-Garrard und George Bernhard Shaw ein. Mein Instinkt als neugieriger Autor sagte mir, dass man diese zwei Geschichte wunderbar miteinander verknüpfen konnte. Warum sollte Jo Sommer nicht ein ähnliches Problem wie ich haben. Sie soll oder will einen Roman über die Südpolexpedition schreiben und verzweifelt an der Umsetzung, weil sie sich nicht befähigt fühlt, mit einem historischen Stoff adäquat umzugehen. Bisher hat sie Fantasyromane geschrieben, wie die Hexen von Iverness und irgendwelche Drachenmumpitz. Es fällt ihr leicht, eine Welt zu erfinden. Die reale Welt zu beschreiben, fällt ihr allerdings schwer.

 Sie lässt ihrer Phantasie freien Lauf und daraus entstehen die Kausalzusammenhänge und sich muss sich nicht mit Kausalzusammenhängen rumschlagen, die einem wirklichen Geschehen entsprechen. Sie sorgt sich, als Autorin an dem historischen Stoff zu scheitern und ihren erreichten Status als Autorin zu verlieren.

 Wie passt nun das Zweigespann Cherry-Garrard und Shaw da rein? Auf dem ersten Blick wohl überhaupt nicht. Und das macht es für mich spannend. Die erste Ebene ist Aletheas Leben in der Zukunft. Sie berichtet über ihr Literaturprojekt, wie sie auf das Thema gekommen ist, ihre Furcht vor dem Versagen, ihre kleine Welt, in der sie als wohlhabende Autorin ihre Marotten und ihre Arroganz pflegt.

 Die zweite Ebene ist das Leben von Jo Sommer, die heutige Gegenwart. Ich werde nach und nach ihr Leben beschreiben. Ihr Vater, der nach dem die Mutter die Familie verlassen hat, in Depressionen verfällt und sich um nichts kümmert. Die Vorgeschichte, die Erbschaft, die dazu führt, dass die Ehe der Eltern auseinanderbricht usw.

 Die dritte Ebene handelt vom den Zwiegesprächen zwischen Cherry-Gerrard und Shaw. Sie treffen sich, um über Cherry-Garrards Buchpläne zu sprechen. Die Gespräche eskalieren immer wieder, weil Shaw mit seinen Zynismus den trägen Cherry-Garrard aus der Reserve locken will und die Unterhaltungen nach seinem Gusto gestalten will. Mal verhört er Cherry-Garrard, mal spielt er den liebevollen alten Knaben, mal den Therapeuten. Erst im Laufe der Debatten gelangen sie zum eigentlichen Kern der Geschichte. Cherry-Garrard, der Edelmann aus reichen Hause, der seine Depression und eines posttraumatische Belastungsstörung wie ein Haustier pflegt, wird von Shaw als Vertreter der reichen Klasse enttarnt, der sich einen Weg sucht, um nie wieder am Leben teilnehmen zu müssen. Während Scott keine Chance hatte, der Realität zu entfliehen, weil er sich sein Leben lang gegen den sozialen Abstieg stemmen musste. Er war Sohn eines Brauereibesitzers, der früh verstarb und der seine Familie kein Vermögen hinterließ, so dass Scott nur die Möglichkeit hatte, durch eine Karriere bei der Marine, für den nötigen Unterhalt der Familie zu sorgen und durch die Teilnahme an solchen Expeditionen seine Chance sah, den nötigen Wohlstand für ein beinahe sorgenfreies Leben zu erwirtschaften. Er war Opfer und Held der Geschichte zugleich, während Cherry-Garrard sich zu Unrecht zum Opfer stilisiert.

 Alle Ebenen stehen zuerst selbstständig nebeneinander. Lange Zeit ist zum Beispiel nicht klar, dass Alethea und Jo ein und dieselbe Person sind. Die Ebenen verknüpfen sich über ihre Aussagen, über die Themen die sie behandeln. In allen drei Ebenen geht es letztendlich um drei verschiedene soziale Systeme, die doch vieles gemeinsam haben: es gibt ein starkes soziales Gefälle zwischen einer kleinen Elite, die sich auf ihrem Wohlstand ausruht und dem großen Rest der Menschheit, die sich knechten muss, um zu überleben. Der soziale Aufstieg ist kaum möglich. Shaw und Alethea Cumberland sind in einer ähnlichen Situation. Beide kommen aus gewöhnlichen Verhältnissen und haben aufgrund ihrer Talente den sozialen Aufstieg unter großen Opfern geschafft. Shaw ist bekennender Sozialist und hat sich politisch engagiert, während Alethea ohne politisches Bewusstsein durch ihr Leben schlängelt. Alethea wird im Laufe des Textes die Verbindung zu Shaw und Cherry-Garrard erkennen und ihr politisches Bewusstsein entdecken. Ihr Buch über die Südpolexpedition entwickelt sich zu einer politischen Kampfschrift. Dazu muss sie auch erkennen, dass sie ihr altes Ich, Jo Sommer, im Laufe ihres Lebens zugunsten ihres Strebens nach Anerkennung verraten hat. Der Text soll davon profitieren, dass sich die anfänglich für sich stehenden Ebenen im weiteren Verlauf verzahnen und zu einer Ebene zusammenwachsen.

 

Mir ist kalt

Vor zwei oder drei Jahren habe ich mich aus reinem privatem Interesse mit der Südpolexpedition von Scott auseinander gesetzt. Ich hatte keine Lust mehr Romane zu lesen und nach der Lektüre mehrere recht schwieriger Philosophiebücher (Adorno, Heidegger) hatte ich auch daran kein Interesse mehr. Ich weiß nicht genau, was der Auslöser war. Auf jeden Fall habe ich mir ein Buch über Scotts letzte Expedition besorgt. Als Kind habe ich einen Spielfilm über diese Expedition gesehen und irgendwie hat sich diese tragische Geschichte, an dessen Ende der Held stirbt, in mein Gehirn gebrannt. Das Buch hieß „Scott“ von Ranulph Fiennes und ich habe es verschlungen. Mr. Fiennes war selbst mehrfach am Südpol unterwegs und kennt die Schwierigkeiten, die eine Reise an den Südpol mit sich bringt. In 1910 hatte man wenig Ausrüstung, die auf solche Reisen zugeschnitten war. Man hatte schwere Schlitten, wenig Technik, die die Kälte überstand, Kleidung und Zelte waren aus fast primitiven Stoffen hergestellt, die Kälte und Sturm kaum abhielten. Also nichts gegen unsere heutige Outdoorkultur, wo jeder Schüler schon eine Winterjacke trägt, mit der er mal einen kurzen Ausflug in die Arktis wagen könnte. Es gab keine Kommunikationsmittel, um sich mit der Außenwelt adäquat zu unterhalten. Wer unterwegs war, konnte im Notfall nicht auf Hilfe hoffen. Es gab keine Funkgeräte und auch keine Satellitenhandys. Sobald das Forschungsschiff den letzten Hafen verließ, war man auf sich alleine gestellt. Eine Situation, in der es immer um die Unversehrtheit des eigenen Lebens ging.

 Genau diese Ungewissheit, sich für Jahre an einem unwirtlichen Ort zu befinden, völlig abgeschnitten von der Außenwelt, hat mich fasziniert. Dazu kam natürlich die Tragik der Geschichte. Scott war Offizier der englischen Marine und hat einerseits durch die Teilnahme an solchen Expeditionen seinen Status und sein Einkommen verbessern wollen. Aber er war kein Abenteurer und Hasardeur. Es ging ihm nicht alleine darum, der Erste zu sein, sondern eine wissenschaftliche Expedition durchzuführen, die der Menschheit Erkenntnisse über die damals wenig erforschte Antarktis bringen sollte. Amundsen war der Erste am Südpol und Scott erreichte den Südpol ein paar Tage später, um auf dem Rückweg mit vier seiner Gefährten den Tod zu finden. In der Nachbetrachtung durch seine Zeitgenossen kam Scott schlecht weg. Man warf ihm Fehlverhalten und Führungsschwäche vor, während Amundsen schlechthin der Sieger war, der alles richtig gemacht hat. Erst später erkannte man, welche Leistung Scott auch in wissenschaftlicher Hinsicht vollbracht hat. Herr Fiennes berichtet viel über die Kontroverse, die unter den Zeitgenossen Scotts entstanden war. Dabei sticht ein Buch über die Expedition heraus, das ca. dreizehn Jahre nach Ende der Expedition veröffentlicht wurde. Der Autor des Buches, Aspley Cherry-Gerard, war selbst Teilnehmer der Expedition. Er hatte die unglückliche Aufgabe übernommen, auf die fünf Expeditionsteilnehmer, die auf dem letzten Wegabschnitt zum Südpol alleine unterwegs waren, an einem vereinbarten Punkt zu warten. Allerdings kamen sie nie dort an. Das Warten hatte kostbare Zeit gekostet und eine Rettung der Südpolmannschaft war nicht mehr möglich. Cherry-Gerard wurde depressiv und hat nie mehr wirklich ins Leben zurückgefunden. Er verzweifelte über diese Expedition und um sich selbst zu therapieren hat er das Buch „Die schlimmste Reise der Welt“ geschrieben. Auch dieses Buch habe ich gelesen. Das Buch ist einerseits ein Tatsachenbericht. Auf der anderen Seite wurde deutlich, wie ein jahrelanger Aufenthalt in der Kälte Menschen verändern kann. Man hört die Melancholie, das Leiden unter den schwierigen Witterungsbedingungen, das Dasein zwischen Leben und Tod, die körperlichen Strapazen, die aus dem jungen abenteuerlustigen Mann Cherry-Garrard einen lebensuntüchtigen kranken Mann gemacht haben. Während der Entstehung des Buches hat Cherry-Garrard sich bei einem berühmten Nachbarn, nämlich George Bernhard Shaw, der große engliche Dramatiker des zwanzigsten Jahrhunderts, Rat geholt. Wir wissen nicht, wie groß der Einfluss von George Bernhard Shaw war. Man weiß nur, dass er Scott nicht leiden konnte. Die Tatsache, dass dieser Zyniker Shaw seine Finger im Spiel hatte, fand ich inspirierend. Ich witterte eine Geschichte, merkte aber schnell, dass sie eine Nummer zu groß für mich war. George Bernhard Shaw ist keiner der Autoren, mit denen ich mich bisher beschäftigt habe. Auch das Leben am Anfang des zwanzigsten Jahrhundert in Großbritannien gehört nicht gerade zu meinen historischen Interessen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich daraus eine Geschichte formen soll. Ich hatte Angst davor, es  nicht zu schaffen, weil ich beim Stochern in historischen Stoffen auf viele Minen treffen konnte, die mich und mein literarisches Schaffen auf einen Schlag in die Luft sprengen konnte. Ich habe genug Bücher gelesen, in denen die Autoren sich wunderbar in der Vergangenheit bewegt haben, aber mir traute ich das nicht zu. Also legte ich den Stoff zur Seite und hoffte, dass ich mir irgendwann das Rüstzeug erarbeiten konnte, um einen solchen Stoff adäquat umzusetzen.

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Es geht weiter im Text

Nach den ersten Schreibversuchen habe ich den Plot, Erzählebenen und Erzählformen deutlich erweitert. Nach den ersten Schreibversuchen habe ich konkrete Überlegungen angestellt, die dazu dienten, den Plot komplexer zu gestalten. Aus den ersten Schreibversuchen ergab sich die Gefahr, einen trivialen Text zu schreiben, der nichts mit meinen Intensionen und meiner Metaebene zu tun hat.

 Mir ging es darum, die Möglichkeiten meiner Geschichte zu erweitern. Bei den ersten Schreibversuchen habe ich für mich gespürt, dass die Geschichte zu eindimensional wirkt, wenn ich Alethea aus der Zukunft berichtet, um uns die Gegenwart ihres kindlichen Ichs als Johanna zu erzählen. Ich wollte keinen Roman über jemanden lesen, der in einer urbanen Zukunftsumgebung lebt, die klinisch kalt wirkt. Wenn wir ehrlich sind, ist das sehr abgenudelt. Ich kann mich dann seitenlang darüber auslassen, welche technischen Neuerungen uns das Jahr 2029 bietet und wie schlimm das Leben in der Stadt der Zukunft ist. Das soll kein Science-Fiction Roman werden. Also brauche ich eine dritte Ebene, die zur Reflektion von Zukunft und Gegenwart dient und die Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede der verschiedenen Ebenen deutlich macht. Okay, wir haben Zukunft und Gegenwart, was uns also fehlt ist die Vergangenheit. Darüber musste ich mir klar werden, bevor ich die erste Version eines ersten Kapitels vorantreiben konnte.

Selbstversuch

Nachdem ich mir Gedanken über meine Möglichkeiten der Sprachformung gemacht habe, habe ich mich auf eine Konstante festgelegt. Johanna Sommer berichtet aus ihrer Zukunft  als Ich-Erzählerin über ihre Gegenwart und ihre Vergangenheit. Sie hat in der Zukunft die Identität der Schriftstellerin Alethea Cumberland angenommen. Aus einer möglichst subjektiven Sicht gilt es ihre Sinneswahrnehmungen, ihre Gedankengänge darzustellen. Das Leben in der Zukunft, ihre Gegenwart, wird immer auch auf die Vergangenheit verweisen. Meine ersten Schreibversuche sind nur kleine Fingerübungen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie Alethea klingen könnte, wie ihr Sprachduktus sich formen muss, um nachvollziehbar und authentisch zu wirken. Dementsprechend unausgegoren und auch oberflächlich wirken sie noch auf den Leser. Der Leser möge es mir verzeihen.

Splitter 1

Fast jeden Abend begutachte ich den Sonnenuntergang durch das Panoramafenster meiner Wohnung im dreißigsten Stockwerk. Im Hintergrund surrt die Klimaanlage. Nach Angaben des Herstellers soll sie bei konstanten zweiundzwanzig Grad Raumtemperatur mein Wohlbefinden garantieren. Schraffierte Rotschattierungen bestimmen den bedeckten Himmel. Ein heller Strahlenkranz der Sonne kriecht unter den Wolken hervor und bricht sich an den Quadern der Hochhäuser, die wie schwarze Schatten im Zwielicht liegen. Ich lebe über der Stadt, hermetisch abgeriegelt und fern des Getümmels der Maden, die schon lange die Straßen beherrschen. Eine angenehme Perspektive. Als stünde ich über den Dingen. Ein elitäres Anrecht einer erfolgreichen Frau, die von den Maden geliebt wird. Ich will nicht geliebt werden, genauso wenig, wie sich mein Wohlbefinden bei zweiundzwanzig Grad einstellt. Unser Denken hat sich in den letzten Dekaden sehr vereinfacht. Wir haben freiwillig auf wichtige Denkkategorien verzichtet. Wir haben geglaubt, unser Schmerz über unsere leidvolle Existenz verschwindet, wenn wir uns nicht mehr an ihn erinnern können. Nun reichen zu einem glücklichen Leben eine angenehme Raumtemperatur und die Selbstsuggestion einer nicht vorhandenen Zuneigung.

Splitter 2

Glas und Beton, Glas und Beton, es hämmert in meinem Kopf, niemand will es sehen, niemand will ihn hören, der Schmerz ist nur ein Schatten im Zwielicht. Unter dem Radar eines Strahlenkranzes, der den bedeckten Himmel am Ende des Tages durchbricht, liegt meine Pein, die Pein einer ganzen Generation, ein Zeitalter, das vergessen will. Ich throne und unterdrücke, eine angesehene Frau, ein Mitglied der allwissenden Elite, die aus Menschen Maden macht. Das bin ich, oben im Himmel im dreißigsten Stockwerk, starrend auf das Draußen und nach innen horchend und das Echo der Leere wahrnehmend. Alles habe ich gegeben, mein Selbst verschenkt, um nicht mehr leiden zu müssen und doch leide ich mehr als je zuvor.

 Mein Antlitz spiegelt sich in der Fensterscheibe. Ich drehe mein Profil und meine Gesichtszüge werden von denen meines Vaters überlagert. Ich nehme ein Flüstern wahr. Vielleicht meine Stimme, vielleicht die meines Vaters, wer kann das genau sagen? Ich soll berichten, wie ich zu Alethea Cumberland, die ruhmreichste, schönste und wohlhabendste Schriftstellerin aller Zeiten wurde. Das kann ich nicht berichten. Dafür beschäftige ich einen Biographen, der mein Leben besser kennt als ich. Das Flüstern nennt einen Namen: Jo Sommer. Ich kenne niemanden, der Jo Sommer heißt. Das Flüstern schärft sich mit bissigen Beiklang und jedes Wort wird zum Messer, dass mir die Seele zersticht. Lügner, Lügner, du bist Johanna Sommer. Ich trete weg vom Fenster. In der Küche hole ich mir einen Tee. Das Flüstern verschwindet.  

Splitter 3

In den Städten lasten Beton und Stahl auf den winzigen und erbärmlichen Maden mit kleinen Gehirnen. Sie verstehen einfache Befehle. Steh auf, setz dich, hol dir was zu essen, schweig, schlaf, kacke. Konditionierung eines Tieres, das einst den Namen Mensch trug.

Splitter 4

Der Tag war lang, ich bin erschöpft. Das Hetzen von einem Ort zu anderen. Meine Beine sind schwer, ich spüre sie kaum noch. Niemals können sie mich in Ruhe lassen. Dieses Spießrutenlaufen. Pressekonferenz, Autogramme geben, jeder fragt dich die immer gleichen Fragen und erwartet von dir die immer gleichen Antworten, Lesungen, Podiumsdiskussionen, belanglose Kommentare zu Scheinthemen. Wann kommt ihr nächstes Buch? Warum sind sie nicht verheiratet? Warum haben sie keine Kinder? Warum haben sie einen englischen Namen, wenn sie doch aus Deutschland kommen? Haben sie schon einmal überlegt, viel mehr Zeit in Charityprojekte zu investieren? Nein, nein, nein und nochmals nein. Die Antwort lautet immer nein, ob sie nun passt oder nicht. Dabei lächle ich und sage betont freundlich und gelassen, dass mein Buch im Winter erscheinen wird, das ich noch nicht den richtigen Mann gefunden habe, ja, schade, auch ich liebe Kinder, ich habe mir einen Künstlernamen angeeignet, weil ich die Phantasie meiner Leser anregen wollte, ich möchte mehr Zeit in meine Stiftung ‚Winterherz‘ investieren, ich habe damit sehr viele Projekte angestoßen, um Kindern aus benachteiligten Familien zu helfen. Dabei bin ich das einzige Kind, dem man helfen sollte.

 Ich bin das Kind, das sich so sehr nach Gesellschaft sehnt und dann nur die Einsamkeit bekommt. Diese verzweifelte Einsamkeit, wenn viele Menschen anwesend sind und man sie um Hilfe anbettelt, aber sie es nicht hören können und wenn man dann alleine ist, schreit man hinter dicken Wänden und draußen hört niemand das Jammern des Kindes. Nie hat das Kind erlebt, wie es ist, die Gesellschaft eines Menschen zu genießen, der dem Kind zuhört, es wahrnimmt, es schätzt und liebt und das dann alleine sein kann, ohne von seiner Angst und seinem Schmerz überflutet zu werden.

 

Nach vier Textsplittern breche ich meine ersten Schreibversuche ab. Ich bin nicht zufrieden mit den Ergebnissen. Folgende Selbstkritik drängt sich mir beim Lesen gerade der ersten Zwei Splitter auf: viel zu viel Pathos. Die Texte verlieren sich in hochtrabende Beschreibungen. Wenn ich die subjektive Sicht des Ich-Erzählers nutzen will, muss ich die Gedankengänge des Ich-Erzählers schildern. Außerdem spüre ich beim Schreiben ganz deutlich, dass es mir nicht leicht fällt, aus der Sicht einer Frau zu schreiben. Gerade der erste Textsplitter ist von einer männlichen Sachlichkeit getragen. Diesem Problem muss ich größere Aufmerksamkeit widmen. Im vierten Splitter komme ich der Sache näher. Ich bekomme ein Gefühl für Aletheas Gedankengänge. Auch merke ich, dass ich nicht linear schreiben darf. Wer aus der Erinnerung heraus seine Geschichte als Gedankengang schildert, wird nie linear beschreiben, sondern sobald seiner Erinnerung von irgendeinem äußeren Einfluss angeregt wird, taucht die passende Erinnerung auf. Das heißt nicht, dass ich die ersten Textsplitter einfach wegwerfen sollte. In Ihnen stecken wichtige Informationen über die Ich-Erzählerin. Die Menschen als Maden zu bezeichnen finde ich z.B. eine gelungene Idee.

Heimat

Zwei weitere Autoren gilt es noch vorzustellen. Beiden ist gemeinsam, dass sie sich an der hessischen Provinz abgearbeitet haben: Andreas Maier und Roderich Feldes.

Roderich Feldes Texte haben als Schauplatz zumeist das mittelhessischen Hinterland. Er ist 1996 gestorben. Leider viel zu früh. Vielleicht ist dies ein Grund, warum er als Autor nie die Popularität erhielt, die er verdient hätte.

Der Kern seiner Texte dreht sich oft um die Veränderung des dörflichen Lebens in Mittelhessen beschäftigt. Das Dorf als Anker für die Gemeinschaft der Einheimischen veränderte sich in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts radikal. Eine abseits liegende Welt öffnet sich. Mit dem einkehrenden Wohlstand übernimmt sie unreflektiert alle äußeren Einflüsse und passt sie auf die Heimat an. Die Straßen und Häuser werden größer und breiter. Überall werden Wohngebiete aus dem Boden gestampft. Alle bauen schicke Einfamilienhäuser, parken ihre kleinen Autos davor, stellen sich den Fernseher ins Wohnzimmer, sammeln dort den Plunder aus den Fabriken dieser Welt und vereinzeln sich. Die Gemeinschaft stirbt zugunsten des Konsums. Es zählt nur das Glück des Einzelnen, dass dieser niemals erreichen kann, weil der Besitz vieler Dinge nur scheinbar Zufriedenheit schenkt. Feldes Bücher handelten oft vom Aufbrechen der Oberflächlichkeit. Unter einer dicken Kruste aus Belanglosigkeit schlummert die Sehnsucht nach etwas Anderem.

Feldes ist kein Heimatdichter. In diesem Sinne ist er mir sehr nahe. Er beobachtet die Veränderungen und weiß, dass sie nicht aufzuhalten sind. Das alte Leben kann man nicht retten, indem man es verherrlicht. Heimatdichter verklären die Vergangenheit. Feldes beschreibt die Orientierungslosigkeit der Menschen, deren Heimat ihnen keine Orientierung mehr gibt. Insofern ist er mein heimliches Vorbild bei meinem Projekt.

Roderich Feldes unterscheidet sich von sogenannten Heimatdichtern durch seine literarische Qualität. Genauso wie er die Veränderungen der Menschen und ihrer Umgebung durchdringt, widmet er sich der Ambivalenz der Sprache, die sich wie die Menschen verändert. Es gibt in unserer Gegend eine sehr starke Diversifizierung der Dialekte. Fast jeder Ort spricht eine kleine Abwandlung des Dialektes des Nachbarortes. Wer zwanzig Kilometer in den Westerwald hineinfährt wird das Platt der Leute dort schon fast nicht mehr verstehen. Aber seit zwei Generationen ist der Gebrauch der Dialekte deutlich auf dem Rückzug. Meine Kinder lernen kein Platt mehr und ich habe es zwar noch von meiner Großmutter gehört, aber selbst nicht sprechen gelernt. Diesen Umstand schlägt sich bei Roderich Feldes nieder. Er verwendet viel Alltagssprache, der hessische Dialekt unserer Gegend kommt nur am Rande vor oder wie in ‚Lilar‘ als Anekdote über das Verschwinden der Dialekte. Er beschreibt häufig aus der subjektiven Sicht eines Erzählers, der sich in einer Alltagssprache ausdrückt. Er fügt Beschreibungen hinzu, die wie literarisches Zierwerk wirken und den Text dadurch die nötige Qualität geben. Hier könnte ich von ihm profitieren. Veränderung wird nicht durch den allwissenden Erzähler referiert, sondern von dem Erzähler, der mitten drin steckt und die Veränderungen am eigenen Leib spürt und aus dieser Perspektive schreibt.

Andreas Maier hat sich in einigen Texten mit der Wetterau, seiner Heimat, auseinander gesetzt. Leider habe ich bisher nur ‚Wäldchestag‘, seinen Debütroman gelesen. Trotzdem sollte ich ihn erwähnen, denn in gewisser Weise beschäftigt er sich auf eine andere Art und Weise mit seiner Heimat als es Feldes getan hat.

Man bemerkt bei Maier, dass er aus einer anderen Schriftstellergeneration kommt wie Feldes. Feldes war geprägt von den Achtundsechzigern. Im Subtext schwelt immer die Kritik an einer entfremdeten Konsumgesellschaft. Bei Maier ist der gesellschaftliche Bezug nicht gegeben. In den Kritiken zu ‚Wäldchestag‘ wird immer wieder die sprachliche Verwandtschaft zu Thomas Bernhard bemüht. Maier hat das Buch im Konjunktiv geschrieben, was zur Folge hat, dass der Text genauso wie die Texte von Bernhard etwas distanziertes, wenig konkretes an sich haben. Es gibt viel Raum für Spekulationen. Hier hat Andreas Maier das richtige Mittel gefunden, da es sich in dem Buch auch viel um Gerüchte und Hörensagen dreht. Die Leute reden übereinander und stellen viele Vermutungen an. Man beschäftigt sich mit dem Anderen mehr als mit sich selbst. Maier geht es nicht wie Feldes, um die Veränderungen im Dorfleben, die zu einer übertriebenen Individualisierung führen, sondern um die Einheimischen, die die Dorfgesellschaft nur am Leben erhalten, um über die Mitmenschen herzuziehen. Viele Stimmen reden im Konjunktiv, alle sind gemein zueinander und wünschen dem Anderen nur das Schlechte. Beim Wiederlesen des Textes ist mir aufgefallen, dass Andreas Maier mich so beeindruckt haben muss, dass ich meinen zweiten Roman auch im Konjunktiv geschrieben habe, ohne dass mir dieser Bezug zu Maier bewusst war. Ich war der Meinung, das sei etwas Besonderes.

Also lerne ich von den beiden Heimatdichtern: Subjektivität schadet nicht. Thomas Bernhard ist immer und überall. Ironie und Boshaftigkeit ist die Realität des Lebens und vielleicht das geeignete Mittel gegen Sozialkitsch und man kann Romane über die Provinz schreiben und trotzdem Literatur auf höchstem Niveau produzieren.