Nachricht aus 1992?

Man könnte meinen die Nachricht stammt aus 1992. Damals war die Welt noch in Ordnung. Das Benzin musste billig sein. Flüchtlingen waren Asylanten, die uns alles wegnehmen wollten und es gab noch das frisch wiedervereingte Deutschland, ohne offene EU-Grenzen. Und die Grünen? Vaterlandslose Gesellen, die nur Steuern erhöhen können und jeden Spaß verbieten wollen.

Leider ist das kein Zeitungsartikel aus 1992. Heute morgen stand genau dieser Text im Wetzlarer Kurier. Ein kleines Käseblättchen der örtlichen CDU, die anscheinend die letzten dreißig Jahre im Tiefschlaf verbracht hat.

Dahinter steckt der Bundestagsabgeordnete Hans-Jürgen Irmer, der schon oft negativ durch seine Äußerungen aufgefallen ist und immer wieder bestrebt ist, sich und seine Partei rechts zu überholen.

Der Staat – ein Missverständnis?

Die Demonstranten, die in letzter Zeit gegen die Pandemiemaßnahmen der Regierung auf die Straße gegangen sind, egal welche Beweggründe sie vorgebracht haben, eint alle das mangelnde Verständnis für Politik und die Funktionsweise eines modernen Staatswesens.

Dieser Umstand erschreckt mich fast mehr als die Tatsache, dass die üblichen Verdächtigen aus der rechten Szene die Proteste unterwandern und für sich nutzen.

Im Prinzip heißt es, dass viele Menschen in unserem Land die Grundlagen für unser Zusammenleben nicht kennen oder nicht anerkennen. Der Gesellschaftsvertrag bröckelt.

Wenn man vom Typus Empörer absieht, der sich zur schweigenden Mehrheit zählt, aber dabei brüllend verkündet, dass man nach dem Umsturz aufpassen muss, weil man dann als erster am nächsten Baum aufgeknüpft wird, haben viele Menschen ihre individuellen Ängste vor individueller Einschränkung als Grund für ihren Protest vorgebracht.

Man hört Aussagen wie ich habe Angst um meine Freiheit, nicht, ich habe Angst um die Freiheit aller Menschen, die in Deutschland leben oder ich darf nicht mehr sagen, was ich denke, nicht die allgemeine Meinungsfreiheit ist in Gefahr oder ich fühle mich nicht ernstgenommen von der Politik und nicht die Politik nimmt die Belange der Bürger im Allgemeinen nicht mehr ernst. Solche Aussagen beinhalten immer eine Abgrenzung, die genau in das Schema vom falschen Staatsverständnis passt.

Worauf begründet sich der moderne Staat? Darauf, dass wir alle auf einen kleinen Teil unserer individuellen Freiheit verzichten. Dafür erhalten wir im besten Fall soziale Sicherheit, Schutz für unser Leib und Leben, unumstößliche Grundrechte wie Meinungsfreiheit, Bewegungsfreiheit, Wahlfreiheit Recht auf Entfaltung usw. und wenn es gut läuft, ein gewisses Maß an Wohlstand. Dieses Rechte erhalten grundsätzlich alle Menschen, die innerhalb der Grenzen unseres Staates leben. Alle Menschen sind vor dem Gesetz und vor dem Staat gleich. Um dem Staat die Erfüllung seiner Aufgaben zu ermöglichen, haben alle Bürger die gleichen Pflichten: Sich an Gesetze halten, Steuern zahlen usw.

Dieses unheimlich komplexe Modell hat sich über die Jahrhunderte entwickelt und ist zum Garant für eine größtmögliche Freiheit einer möglichst großen Anzahl von Menschen geworden. Dass es dabei zu Verwerfungen und fast unmöglich zu lösenden Problemen kommt, ist unvermeidlich. Daher ist jede Gesellschaft auf Kompromissfähigkeit im Rahmen eines ausgleichenden Diskurses angewiesen. Daher hat sich das Modell unabhängiger Kontroll- und Regulierungsinstanzen in den letzten Jahrzehnten bewährt. Wenn die Politik bei Problemen untätig bleibt, gibt es für jeden Bürger die Möglichkeit sein Anliegen durch die von der Politik unabhängigen Instanzen vorzubringen.

Damit dieser Staat handlungsfähig ist, geben wir einerseits ein kleines Stück unserer Freiheit und unterwerfen uns alle in einem gewissen Maße der Staatsgewalt (Trotzdem geht alle Gewalt vom Volke aus). Dadurch wird die pure Anarchie verhindert. Wer auf seine individuelle Freiheit pocht und durch die Staatsgewalt nicht in seine Grenzen gewiesen wird, wird irgendwann zum Mittel der Selbstverteidigung greifen und alle werden sich irgendwann gegenseitig die Köpfe einschlagen.

Eine Szene, die vielleicht stellvertretend für dieses Missverständnis steht, ist mir im Gedächtnis geblieben und gab mir den Anstoß für meine Überlegungen.

Es war eine der ersten Demonstrationen gegen den Umgang der Regierung mit der Pandemiesituation, die in Berlin auf der Wiese vor dem Reichstag stattgefunden hat. Während der ersten Welle der Pandemie hat man Demonstrationen zugelassen, wenn die Anzahl der Demonstrierenden begrenzt war und die Demonstranten strikt die Abstandsregelungen eingehalten haben. Damals ging die Polizei gegen Demonstranten vor, die sich als absolut renitent gezeigt haben und hat diese aus der kleinen Menge mit Gewalt herausgezerrt. Teilweise stürzten sich mehrere Polizisten auf einen Demonstranten, um ihn aus der Menge zu entfernen. Einen Stück weiter hat ein Fernsehteam die Menschen nach ihrer Meinung gefragt. Eine Frau, die das Verhalten der Polizei beobachtet hat, zeigte sich sehr bestürzt. Die Frau war mit ihrer heranwachsenden Tochter auf die Demo gegangen und hatte alles andere erwartet, als Polizisten, die die vorgegebenen Regeln durchgesetzt haben. Man sollte sich nicht von Äußerlichkeiten täuschen lassen, aber alles was die Frau von sich gegeben hatte, wie sie gekleidet war und wie sich gegeben hat, ließ darauf schließen, dass sie noch nie eine Demonstration besucht hat und normalerweise eher der Typ ist, der sich lieber auf Tupperpartys tummelt. Vielleicht hat sie erwartet, dass die Polizei ihr die neusten bunten Plastikschüsseln präsentiert und nicht Menschen vom Platz zerrt. Sie griff sich ans Herz und stammelte, dass sie sich niemals habe vorstellen können, wie die Polizei gegen friedliche Demonstranten vorgeht.

 Ich war selbst mehrfach auf Demos. Für mich sind Demonstrationen so etwas wie heilige Prozessionen der Demokratie. Es ist ein gesellschaftliches Ritual mit fest verteilten Rollen. Da ist nun einmal der friedliche Demonstrant, der sich an die Regeln hält und seine politische Haltung innerhalb einer Gruppe zum Ausdruck bringt. Auf der anderen Seite stehen die gewaltbereiten Demonstranten, die mit Absicht die Regeln verletzen, um Unruhe zu stiften. Dazu kommen die Polizisten, die die Staatsgewalt repräsentieren und sich dementsprechend zum Teil mit archaischen und militärischen Habitus gerieren.  Sie schützen die friedlichen Demonstranten, die ihre Meinung zum Ausdruck bringen und üben die Gewalt des Staates gegen Demonstranten, die mit Absicht die Regeln verletzten.

Diese Frau hat ganz klar den Ablauf der heiligen Prozession der Demokratie nicht verstanden. Jemand, der demonstriert und renitent gegen die Regeln verstößt, erwartet eine heftige Reaktion der Staatsgewalt. Die Provokation gehört dazu, um entweder den Ablauf zu stören oder sich als Opfer darstellen zu können.

Davon zu unterscheiden, ist meiner Ansicht nach, das durch das Grundgesetz abgesicherte Widerstandrecht, wenn z.B. der Staat oder die Vertreter seiner Organe, aber auch jede Privatperson, die Verfassungsordnung zu beseitigen versucht.

Darauf scheinen sich auch viele der Demonstranten berufen zu wollen. Sie vergessen aber, dass unsere Staatsorgane im Rahmen der Pandemie nicht grundsätzlich die Verfassungsrechte angreifen oder aussetzen, sondern nur mit besonderen Regeln im geringen Maße für den Zeitraum der Pandemie einschränken. Jeder kann demonstrieren, allerdings mit Maske und Abstand.

Aber genau das führt zurück zu meinem Ausgangspunkt. Man will den modernen Staat nicht anerkennen oder hat ein falsches Verständnis von Staat und kann im besten Falle für unpolitische Menschen, die sich plötzlich angesprochen fühlen, die Opferrolle herausholen.

Und dann kommen noch vegane Köche um die Ecke, die genau wissen, dass sie nur an jeden Satz dran hängen müssen „das ist doch klar! Das musste doch wissen!“ und ihre absurden Ansichten und Handlungen rechtfertigen zu können.

Eine echte Gefahr für unsere Demokratie sind nicht diese üblichen Querschläger, sondern Menschen wie diese Frau, die eine Demonstration mit einer Tupperparty verwechselt hat. Wenn wir diesen Menschen in Zukunft nicht mehr vermitteln können, was innerhalb des modernen Staates angemessen ist und was nicht und welche Vorteile sie auch Zukunft genießen kann, wenn sie nur ein kleines bisschen Freiheit abgibt, müssen wir uns wirklich um unsere Freiheit sorgen. 

Die Republik der beleidigten Leberwürste

Im Spiegel der letzten Woche stand es geschrieben: Herr Maaßen fühlt sich von Frau Merkel gedemütigt, weil er von ihr nicht an die Spitze des BND berufen worden sei und deswegen habe er diese Behauptungen über die Vorgänge in Chemnitz in die Welt gesetzt. In der gleichen Ausgabe war zu lesen, dass Herr Seehofer niemanden traut, weil er als junger Abgeordneter im Bundestag von den anderen Neulingen im Bundestag ausgetrickst wurde und daher höchstens Zweckbündnisse eingeht. Herr Gauland hatte damals beleidigt die CDU verlassen, weil  Frau Merkel mit der Wehrpflicht die letzte Bastion konservativer Politik einfach aufgegeben hat. Die Sachsen sind beleidigt und denken rechts, weil sie sich in der Bundesrepublik nicht genug gewürdigt fühlen. In unserer Stadt sind eine Menge Leute im Moment beleidigt, weil sie Anliegergebühren für die Straßensanierung bezahlen müssen. Die ganzen Dieselfahrer sind beleidigt, weil man ihnen das Autofahren in den Städten verbieten will, haben sie doch sich erst letztes Jahr so einen schönen Mercedes gekauft. Meine Nachbarin ist beleidigt, weil die Stadt sie immer noch nicht ernst nimmt, wenn sie gegen die Raser in unserer Straße protestiert. Viele Bürger sind beleidigt, weil der Staat das Bargeld abschaffen will. Andere sind beleidigt, weil sie nur noch Fremde überall sehen und sie Rundfunkgebühren bezahlen müssen.  Dann sind andere beleidigt, weil sie gegen Maschinen, Computer oder Messermigranten und Kopftuchmädchen ausgetauscht werden sollen. Manche sind  immer noch beleidigt, weil wir die Weltkriege verloren haben. Viele sind anscheinend beleidigt, weil sie nicht stolz darauf sein dürfen, Deutsch zu sein, aber selbst nicht wissen, was das nun heißen soll. Und dann gibt es immer noch die die beleidigt sind, weil es nachts dunkel wird und sie dann nichts sehen. Im Grund sind wir alle beleidigt, weil die Welt sich weiter dreht und wir nicht gefragt worden sind, ob wir das wollen.

 Es ist kein Wunder, dass die AFD immer mehr Zuspruch bekommt, ist sie doch die Sammelbewegung für alle beleidigten Leberwürste dieser Republik. Herr Kahrs, der bei der letzten Generaldebatte im Bundestag die AFD dermaßen beschimpfte, dass die Fraktion der AFD geschlossen den Saal verließ (sie waren beleidigt) sagte nachher in einem Interview: „Das Problem mit diesen Rechtsradikalen ist: Sie können nur draufhauen, und sonst nur mimimi.“   

Er spricht mir aus der Seele. Ich Moment gelingt es niemanden, die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in ihrer Gesamtheit zu analysieren und noch weniger gelingt es irgendjemand ein Patentrezept gegen die latent vorhandene Katastrophenstimmung zu finden.

 Aus irgendeinem Grunde scheint das ganze Land sein Handeln nur noch nach widerfahrenen Verletzungen, Beleidigungen, Demütigungen, Herabwürdigungen auszurichten. Auffällig dabei ist, dass oft die geringsten Anlässe zu den gröbsten Ausbrüchen führen. Es regen sich die auf, die am wenigsten zu befürchten haben, während die geschundenen letzten  Glieder in der Nahrungskette, die nichts besitzen, was sie verlieren können, überhaupt keine Stimme mehr haben. Für mich ist es mittlerweile nicht mehr erstaunlich, dass eine AFD keine Politik für den kleinen Mann, den einfachen niedrig qualifizierten Zeitarbeiter machen will, sondern wirtschaftsliberale Positionen vertritt, die dazu führen, den wirklich Abgehängten noch mehr weg zu nehmen. Die Beleidigten kommen nicht aus den prekären Gesellschaftsschichten, sondern aus dem konservativen Milieu derjenigen, die merken, dass eine offene multikulturelle Gesellschaft ihren Machtstatus gefährdet. Waren sie doch bis vor ein paar Jahren das Maß aller Dinge. Oder diejenigen, die Veränderungen als Gefahr empfinden, weil ihnen auch etwas weggenommen werden könnte und wenn es der eigene Stolz ist oder das gute Gefühl, der Staat passe auf sie auf.

Der ganze Streit um Flüchtlinge, die monothematisch von Populisten und Rechtsradikale als Sündenböcke für alles und nichts dienen, führt dazu, dass wir die eigentlichen Probleme nicht mehr betrachten. Systemkritik ist angebracht, da die Ökonomisierung des gesellschaftlichen Lebens dazu geführt hat, die Unterschiede zwischen Arm und Reich zu vergrößern und auch in den vermeintlich reichen Ländern dazu geführt hat, das zugunsten einer Kumulierung und Konzentration von Kapital auf einige Wenige, viele Menschen niemals eine Chance zum sozialen Aufstieg haben. Systemkritik ist dann nicht angebracht, wenn man die Schwachen zum Sündenbock macht oder sie als Masse instrumentalisiert, um sie mit völkischer Propaganda auf die Straße zu bringen.

Das Gefühl herabgesetzt zu werden, nicht genügend gewürdigt zu werden oder das schnöde Beleidigtsein hat ja immer eine infantile Note. Das trotzige Kind mit Motzmiene und verschränkten Armen sitzt in der Ecke und schmollt. Und wie wir wissen sind Kleinkinder große Egoisten. In den ersten Jahren ihres Lebens kennen sie nur sich und ihre Bedürfnisse. Sozialverhalten lernen sie erst später. Deswegen klingt für viele großgewachsene Motzkinder die völkische Ideologie wie Eis und Schokolade, Chips und Zocken kostenlos und jederzeit. Sie gieren nach einem einfachen Heilsversprechen. Es hebt doch eine Eigenschaft hervor, die man sich grundsätzlich leicht zuschreiben kann und die eigentlich kaum überprüfbar ist, weil sie schon fast virtuell anmutet. Die Volksgemeinschaft ist ein Konstrukt wie eine Religion und daher für viele leicht konsumierbar. Sie können sie selbst in den Himmel als Angehörige einer besonderen Spezies heben, die es eigentlich gar nicht gibt. Wenn sie diese Motzkinder fragen, was sie unter Deutsch verstehen, werden sie keine einhellige Auskunft bekommen. Eine allgemeine Definition ist schwer und auch eigentlich nicht gewünscht. Sowie Kinder auch alle den Weihnachtsmann unterschiedlich beschreiben und doch wissen, dass der Weihnachtsmann irgendwie an Weihnachten auftaucht und Geschenke verteilt, glauben die beleidigten Leberwürste auch daran aufgrund ihres Deutschseins das ganze Jahr über Geschenke verdient zu haben. Sie waren ja brav und immer gute Deutsche, auch wenn sie eigentlich gar nicht beschreiben können, was das brav sein im Zusammenhang mit ihrer Zugehörigkeit zu einem Volk zu tun hat. Früher hatten sie einen Weihnachtsmann, der das ganze Jahr über gut auf sie aufgepasst hat. Auch er trug eine Uniform, die war  braun und nicht rot und sein Bart war auf das Wesentliche reduziert und nicht so ausladend üppig wie der des Weihnachtsmannes. Vielleicht glauben deswegen auch viele diese Volksgläubigen an die Wiederkehr ihres speziellen Weihnachtsmannes, auch wenn der eigentlich in seinem Sack nur Zerstörung und Leid bei sich trägt. Und das ist unser großes Glück. Wir haben es mit einem großen Verein von beleidigten Egoisten zu tun, die sich nur versammeln, um ihr Beleidigtsein zu zelebrieren. Solange kein Weihnachtsmann da ist, der das Heilsversprechen einlösen will und Geschenke verteilt, rutschen wir vielleicht an der großen Katastrophe und dem Tod der Demokratie vorbei.  Darauf sollten wir uns allerdings nicht verlassen. Ich überlege gerade wie ich mit motzigen Kindern umgehe. Schließlich habe ich auch einen dreijährigen Sohn zu Hause, der gerne und viel die beleidigte Leberwurst gibt. Meistens nehme ich ihn in den Arm, tröste und vermittele ihm das Gefühl, das sein Leid für mich von Bedeutung ist. Wenn er wieder lacht, lasse ich ihn los und dann ignoriere ich ihn, bis er wieder etwas findet, um beleidigt zu sein. Das könnte vielleicht eine Lösung sein….nein, vergessen sie es, das ist Mist

Schamwand

Der Wutbürger entleert seinen Hass im öffentlichen Raum. Auf der rechten Seite des politischen Spektrums schiebt man jeden Tag die Grenze des Unsagbaren ein Stückchen weiter. Die Brandstifter pinkeln ihre Hakenkreuze wieder in den Schnee und markieren im Namen einer schmerzvollen Vergangenheit ihr Revier, das weiter reicht als ein paar sächsische Weiler an irgendeiner EU-Außengrenze. Es wird wieder schick, seine Mitmenschen zu verunglimpfen, Minderheiten den Tod zu wünschen und Jagd auf seine politischen Gegner zu machen. Zur selben Zeit geschieht die Entgrenzung des menschlichen Leibes und Geistes in vielfältiger nie dagewesener Weise. Menschen gehen mit ihren Autos eine Symbiose ein. Nerds verwachsen mit ihren Laptops, um Teil einer Mensch-Maschine-Konstruktion zu werden. Freizeitakrobaten tanzen ohne Sicherung auf Kranauslegern in luftiger Höhe herum und das elektronische Auge der Gopro-Kamera überträgt ihre Perspektive als lustige Liaison mit Tod ins Internet. Getränkehersteller, die aus Bullenhoden die Energie für eine ganze Generation abzapfen und junge Menschen dafür bezahlen, dass sie mit Kinderrädern über die felsigen Abhänge des Hochgebirges stürzen. SachbearbeiterInnen mit Familienanhang inszenieren auf Pornoseiten den Dauergangbang, um durch Kommentare, virtuelle Sternchen und Geschenke sich die Wertschätzung sexsüchtiger Überständer hart zu erarbeiten.es Es scheint als erfahre das Individuum nur noch Aufmerksamkeit, wenn es ständig Grenzen und Tabus hinter sich lässt.

Blicken wir in die Vergangenheit zurück, sollte es eine nachvollziehbare Erklärung für dieses Verhalten geben. Für den Fortschritt der letzten zwei Jahrhunderte schien es wichtig zu sein, den Einzelnen und dessen Befreiung und Ermächtigung in den Mittelpunt sozialer und politischer Anstrengungen zu stellen. Um den Arbeiter, den Angestellten, dem Bürger die Entfaltung seines Selbst zu ermöglichen und dadurch alle Kräfte für den Fortschritt und das allgemeine Wachstum zu mobilisieren, war es notwendig alle bis dahin geltenden Normen in Frage zu stellen. Denn die Abhängigkeitsverhältnisse einer Präbürgerlichen Gesellschaft basierten darauf, mittels überlieferter Gewohnheiten und Grenzen die Herrschaftsverhältnisse zu manifestieren

Unser Bild vom Fortschritt, beruht auf Materialismus und einer positivistischen Einstellung. Viele Wirtschaftstheorien und politische Theorien reduzieren den Menschen auf sein wirtschaftliches Handeln, der mittels dem Austausch von Waren und der Eigentumsverhältnisse von Produktionsmitteln und Kapital die gesellschaftliche Verhältnisse und somit auch den Fortschritt bestimmt. Technologische Entwicklung und Wirtschaftswachstum ist in vielerlei Hinsicht zum goldenen Kalb geworden, dem die durch tradierte Tabus initiierte Schamhaftigkeit der Menschen nur im Weg steht.

Eine durchaus zweckmäßige und für das Neunzehnte und Zwanzigste Jahrhundert praktikable Verfahrensweise. Erst durch die Organisierung eines Fortschrittes und einem stetigen Wachstum ist es möglich gewesen, eine moderne Wissensgesellschaft zu formen, die der Mehrheit der Menschen einen Wohlstand ermöglicht, die ihn auf der anderen Seite den Freiraum zur eigenen Selbstverwirklichung gibt.

Viele gesellschaftliche Tabus mussten fallen, vieles musste der Schamhaftigkeit entrissen werden und viele Entwicklungen wurden befeuert von der Aussicht auf wirtschaftlichen Erfolg. Ob es die Bekämpfung der Rassentrennung in den USA, das Einstehen für Rechte von Frauen und Minderheiten war, im Hintergrund stand immer auch die Erschließung neuer Käuferschichten und Etablierung neuer Produkte. Auch aktuell können wir das sehr gut beobachten. In dieser Woche hat China eine Mindestquote für Elektroautos eingeführt. Das geschieht in China ganz bestimmt nicht, weil die kommunistische Staatsführung nun ihrem Staatskapitalismus eine grüne Färbung geben möchte. Man hat erkannt, dass man, um das Wirtschaftswachstum auf gleichem Niveau zu halten, sich neu positionieren muss, neue Produkte braucht, die im Westen nachgefragt werden, die die Folgekosten der Umweltschäden durch Individualverkehr verringern und das man so die Konkurrenz vor sich her treiben kann. Die deutschen Autokonzerne sehen plötzlich sehr altbacken aus. Jahrzehntelang hatten diese auf große schwere Autos gesetzt, die gekauft wurden, weil das anscheinend ausreichte, um den wirtschaftlichen Erfolg für die nächsten Jahre zu garantieren. Man hat sich selbst überlebt und befindet sich im letzten Gefecht um die Macht auf den globalen Märkten. Ein weiteres aktuelles Beispiel aus Saudi-Arabien: Man erlaubt Frauen das Autofahren. Ein bisher undenkbares Vorgehen. Allerdings beruht diese Entscheidung nicht aus der Einsicht, dass Frauen per se die gleichen Rechte wie Männer haben und die religiöse Grundlage für das Verbot den allgemeinen Menschenrechten widerspricht. Im Vordergrund für die Aufhebung des Verbotes stand der wirtschaftliche Strukturwandel in Saudi-Arabien weg von der Ölproduktion hin zu Dienstleistungs-, Wissensgesellschaft. Frauen werden in Saudi-Arabien als Arbeitskräfte benötigt werden und dafür ist Mobilität unabdingbar.

Also was spricht dagegen, gesellschaftlichen Fortschritt mit Wirtschaftswachstum zu verknüpfen?

Diese Frage rührt an den Grundfesten der Menschlichkeit. Denn dahinter steht die große Frage nach dem Menschen an sich. Was macht den Menschen aus? Wir werden uns alle einig sein, dass der Mensch mehr ist, als seine ökonomische Funktion als Konsument oder Produzent oder gar als Ware, denn das passiert gerade wenn Menschen sich im Internet exponieren. Ob Bibi in ihrem Beautypalace vor der Kamera sich Creme ins Gesicht schmiert, die sie „zufälligerweise“ in der Drogerie erstanden hat, die Hausfrau, die vor der Webcam für Geld masturbiert oder der Student, der für Uber für ein geringes Entgelt Menschen durch die Gegen fährt; Menschen verwandeln sich in ein Produkt und reduzieren sich in mannigfaltiger Weise auf ihren Marktwert. Die Konsequenz liegt ganz klar auf der Hand: Der Mensch an sich entwertet sich durch die diese Reduktion. Er wird handelbar und erhält den Status einer Sache.

Wir haben es übertrieben. Der Sieg des Kapitalismus über alle anderen Wirtschaftssystemen  hat dazu geführt, das wir aufgehört haben, diesem System etwas entgegen setzen zu wollen. Wir haben zugelassen, dass Schamlosigkeit und Rücksichtslosigkeit die Triebfeder jeglichen Handelns ist. Spätestens die Digitalisierung wird dazu führen, dass wir, ohne die Frage nach dem Menschen an sich zu stellen, uns auflösen und im virtuellen Raum verschwinden. Übrig bleiben werden die von Adorno beschworenen lieblosen Stümpfe, leere Hüllen menschlichen Daseins. Die eingangs beschriebenen Phänomene legen ganz klar die klaffenden und eitrigen Wunden offen, die wir uns durch die Fokussierung auf ökonomischen Rationalismus zugefügt haben.

Das kaum begreifliche am Menschen scheint seine Fähigkeit zu sein, intuitiv die Gegenbewegung einzuleiten. Er steht nackt im öffentlichen Raum, begibt sich in einen abstrusen Wettbewerb der Schamlosigkeit. Man steigt in Bäder aus Kakerlaken und Scheiße, plappert arglos über seine Schönheits-OP`s, verbringt die Zeit mit Offenbarungen über sein Intimleben, protzt mit Reichtum und körperlichen Vorteilen. Gleichzeitig geht er auf die öffentliche Toilette und versteckt sich beim Pinkeln hinter einer Schamwand.

Sie haben richtig gehört: Schamwand. Die offizielle Bezeichnung der Trennwand, die mittlerweile in fast jeder öffentlichen Männertoilette, den Uriniervorgang des Mannes beschützt und einer der intimsten Vorgänge des Mannes in der Öffentlichkeit den Blicken seiner männlichen Artgenossen entzieht.

Bis vor ca. zwanzig Jahren schien es kein Problem zu sein, sein Geschlechtsteil in der öffentlichen Toilette zu entblößen, um sich unter den Blicken der Artgenossen genüsslich zu entleeren. Klar gab es vereinzelt Exemplare die in Gegenwart anderer Männer kein Wasser lassen konnten. Aber das blieb die Ausnahme. Gerade an den oft vorhandenen Pinkelrinnen traf sich eine Bruderschaft der Stehpinkler, um sich der eigenen Männlichkeit hinzugeben. Ein Blick nach links und einer nach rechts und man hatte die Chance auf den direkten Schwanzvergleich. Wenn noch Alkohol im Spiel war und man teilweise einige Minuten brauchte, um die Blase leer zu bekommen, hat man den Abend mit seinem Pinkelnachbar Revue passieren lassen und sich gemeinsam überlegt, welches weibliche Wesen man heute Abend gerne flachlegen wolle. Am Schluss hat man sich auf die Schultern geklopft und sich alles Gute gewünscht und hat dann das Fleischpaket erst wieder in die Hose gestopft. Angenehme Schamlosigkeit, die trotz allem im Verborgenen einer öffentlichen Männertoilette blieb. Keine Kamera, keine Fremden, man war unter sich. Seltsam, dass mittlerweile die meisten öffentlichen Pissoirs mit Schamwänden versehen sind und die Pinkelrinne quasi ausgestorben ist.  In den heutigen Zeiten absoluter Schamlosigkeit sollte man erwarten, dass das maskuline Verhalten an der Pinkelrinne doch vollkommen in die Zeit passt.

Diese Gegenbewegung im Kleinen scheint notwendig zu sein, um uns wenigstens an einer Stelle im öffentlichen Raum uns die Intimität wieder zu geben, die wir Menschen benötigen, um im Getöse der Marktschreier und Selbstentblößer sich auf uns selbst zu besinnen. Eventuell taugt die Schamwand als Symbol für die Notwendigkeit, sich auf den Kern des Menschseins zu konzentrieren und dazu gehört Kontemplation im abgegrenzten Raum.

Scham kann heute zweierlei Funktionen haben: Sie kann einerseits Menschen wieder zusammenbringen. Klar war die Konditionierung auf gewisse Tabus, die Scham auslösten, ein Mittel der Unterdrückung. Doch positiv betrachtet kann der Wunsch nach Schamhaftigkeit einen  gesellschaftlichen Diskurs über die Definition von Grenzen anstoßen. Man kann gemeinsam heraus fingen, ab welchem Moment die öffentliche Entgrenzung zur sozialen Last wird. Wenn die Grenzzäune in den Köpfen wieder funktionieren und man Schamhaftigkeit als positive Tugend akzeptiert, entfaltet die zweite Funktion ihre Wirkung: die Menschen finden Räume, in denen sie zur Ruhe kommen und die Komplexität ihres Daseins erkennen und sich damit auseinandersetzen. Somit wird den Selbstdarstellern, Narzissten und destruktiven Brüllaffen die Grundlage entzogen. Sie treten in den Hintergrund und verlieren an Bedeutung.

Meine Ausführungen können nur kurze Schlaglichter auf unsere Zeit werfen und meine Lösung für unsere Probleme ist nur kurz angerissen. Aber grundsätzlich brauchen wir mehr Schamwände, um die Zukunft für die Menschheit positiv gestalten zu können, denn ansonsten werden wir uns selbst wie gedankenlose Lemminge in den Abgrund stürzen.

Wer verdaut schon gerne Kohl?

Wir haben von 1982 bis 1998 an einer Überdosis Kohl leiden müssen, die unseren politischen Verdauungstrakt sehr stark in Mitleidenschaft gezogen hat. Der unangenehme Fäulnisgestank, der die bei der Verdauung von kohlartigem Gemüse entstandenen Gase beim Entweichen aus dem Enddarm begleitet, ist die einzige Assoziation, die ich persönlich mit der Regierungszeit von Helmut Kohl in Verbindung bringen kann.

Ich will nicht pietätlos sein und einem frisch Verstorbenen, der sich nicht mehr wehren kann, mit meinen Bösartigkeiten Unrecht angedeihen lassen. Allerdings war es schon vorgestern Abend nach dem Bekanntwerden des Todes von Helmut Kohl sehr offensichtlich, dass alle darum bemüht waren, seine unbestreitbaren Verdienste um die deutsche Einheit und Europäischer Einigung besonders in den Vordergrund zu stellen. Wahrscheinlich muss das so sein, wenn eine berühmte Politikerpersönlichkeit das Zeitliche segnet. Mir persönlich war es zu viel und ich habe zwischendurch wieder dieses unangenehme Darmreißen verspürt, das mich meine ganze Jugend hindurch begleitet hat.

Ich bin 1971 ohne politisches Bewusstsein zur Welt gekommen. Mit elf meldete sich mein politisches Empfinden zum ersten Mal zu Wort, als Helmut Schmidt im Bundestag das Misstrauensvotum verlor und ziemlich geknickt auf Helmut Kohl zulief, um ihn als fairer Verlierer zu gratulieren. Schon damals fand ich diese maliziöse Grinsen, den leicht geneigten überdimensionalen Schädel auf dem Körper eines Riesens, furcht- und ekelerregend. Ich konnte Helmut Kohl Erscheinung nichts abgewinnen und mittlerweile weiß ich, mit welcher Chuzpe und grobschlächtiger Netzwerkarbeit Helmut Kohl zur Macht kam. Erst hatte er Strauß geschickt abserviert,  indem er ihm den Vortritt als Kanzlerkandidat lies. Was schon von großer Bedeutung war, da Strauß im Weben von Intrigen die eindeutige Nummer eins im politischen Betrieb der Sechziger und Siebziger Jahre war (Noch vor Herbert Wehner). Dann hatte Kohl allmählich die FDP auf seine Seite gezogen, die es leid waren mit den Sozis zu regieren. Er schien damals einfach nur fett zu grinsen, weil er nun der Kanzler Kohl war, der alle übers Ohr gehauen hatte.

Bei den Nachrufen werden viele biographische Stationen pflichtschuldig abgeschritten und auch die Niederlagen Kohls kamen zur Sprache. Insbesondere die Spendenaffäre als das Ereignis, dass Helmut Kohl endgültig aus dem politischen Leben katapultierte, fand Raum in den Nachrufen. Natürlich frei nach dem Motto: da war er schon durch und wusste nicht mehr, was er tat. Damit waren das Vergehen und der Abgang auf Mindestmaß zurechtgestutzt. Allerdings hatte man, aus welchem Grund auch immer, den Beginn seiner Kanzlerschaft auf das Misstrauensvotum reduziert und vergessen die Wende zu erwähnen.

Ein Begriff, der bis zur Wiedervereinigung in Verbindung mit Kohl zu einem geflügelten Unwort wurde (ähnlich wie Birne). Ich musste als Elfjähriger verdauen, das dieser Mann seiner ganzen Nation erklärte, dass eine geistig-moralische Wende erforderlich sei und man jetzt endlich mal mit dem ganzen modernen Quatsch aufhören solle und sich auf die guten alten Werte besinnen müsse. Helmut Kohl hat es sehr verquast ausgedrückt, was aber damals üblich war. Politikersprache erschien nicht nur mir damals als rhetorisch aufwendiges Gerede um den heißen Brei. Trotzdem verstand ich sofort, dass Langeweile zur Staatsraison werden solle und alles was von der vorgegebenen Norm abwich nun nicht mehr im Politikbetrieb stattfinden sollte. Alle Errungenschaften der Achtundsechziger, der politische Diskurs um die Zukunft eines Volkes, das schwer an seiner Vergangenheit zu tragen hatte, eines gewissen intellektuellen Anspruch innerhalb der politischen Klasse stand auf dem Spiel. Adenauer winkte mit seiner gruseligen Skeletthand aus seinem Grab. Dabei hatte man Kohl vielleicht etwas anderes zutrauen können. Schließlich war er als Ministerpräsident in seinem Land durchaus als Reformer und junger Wilder des Konservatismus bekannt geworden. Doch die Verbundenheit mit dem Vorbild Adenauer und dessen praktizierten Provinzialismus war anscheinend stärker.

Damit begannen für uns die Qualen. Ab sofort wirkte die Politik der herrschenden Klasse tröge und auf beiden Seiten des politischen Spektrums tummelten sich plötzlich Politrüpel aus der Provinz, die auf neue gesellschaftlichen Strömungen mit tumber Ignoranz reagierten (denken wir nur an Holger Börner und seinem Dachlattenauspruch). Wie schön mögen die Zeiten gewesen sein, als mit Willi Brandt und Helmut Schmidt intellektuelle Schöngeister an der Macht waren, denen es gelungen war, die meisten Bürger mit auf die Reise zu nehmen, die die wichtigen und großen Themen, die über alles schwebten angepackt haben (Brandts Ostannäherung) und sich im Krisenmanagement bewährt haben (Schmidt und der heiße Herbst 1977). Und der dicke Kohl stand nur händchenhaltend mit Mitterand auf einem Soldatenfriedhof und angeblich wollte man dort eine Erbfeindschaft beerdigen, die es für uns junge Menschen schon lange nicht mehr gab. Dabei schaute er nicht wirklich staatstragend, sondern wie ein Technokrat, der jetzt einen notwendigen Termin abarbeitet. Wie viel beeindruckender war da Brandts Kniefall, der die Demut vor Opfern und der Geschichte ausdrücken sollte.

Schon damals war klar, dass Deutschland dringend seine Sozial- und Wirtschaftssysteme reformieren muss. Man brachte nichts zustande und außer das Herr Blüm sagen musste, dass die Rente sicher sei und somit für alle Zeiten unveränderbar den Menschen die Vollabsicherung brachte. Familienpolitik fand nicht statt. Immer wenn es brenzlig wurde, erhöhte man das Kindergeld (leider auch ein Mechanismus, den sich die Nachfolgeregierung zu Nutze machte) oder verschob Frau Süssmuth, die vielleicht frischen Wind in die Familienpolitik bringen wollte, in ein Amt, in dem sie nichts mehr bewirken konnte. Kurzum die Regierungszeit von Helmut Kohl bestand aus nichts anderem als den Versuchen seine Macht auf Dauer zu sichern.

Als die Mauer fiel war Herr Kohl schon auf dem absteigenden Ast. Es war eigentlich abzusehen, dass er bei der nächsten Bundestagswahl abgewählt werden würde. Es keimte bei mir Hoffnung auf, dass dieses Schauspiel bald ein Ende nahm. 1989 war die deutsche Wirtschaft nach einer seltsamen Boomphase, deren Ende sich andeutete, da die klassische Preis-Lohn-Spirale sich im Höchsttempo um sich selbst drehte (Zinsen um die zehn Prozent für Baufinanzierungen, Inflationsraten und Lohnabschlüsse in ähnlicher Höhe). Jedes Jahr gab es neue Privilegien zu verteilen (die fünfunddreißig-Stunden-Woche in der Metallbranche, in manch anderen Branche sprach man über das mittlerweile 14. und 15. Gehalt, im öffentlichen Dienst bekam zwei Tage Urlaub zusätzlich usw.). Man wälzte sich im Wohlstand und erkaufte ihn sich teuer mit Modernisierungsstau und hohen Lohnnebenkosten. Siechende Branchen (Stahlindustrie, Bergbau) wurden gerne mit Subventionen unterstützt und Strukturwandel ließ man nur langsam zu. Ressourcenschonung war tabu und eher verfemt, Atomkraft galt als billige und saubere Energie (für die Konservativen war Tschernobyl nicht existent. Man sah und roch ja die Radioaktivität nicht. Also war alles in bester Ordnung). Alles war dem Streben untergeordnet, Herrn Kohl und der CDU auf alle Zeiten die Macht zu erhalten. Und das machte junge Menschen wie mich natürlich unruhig. Ich war 1989 in der dreizehnten Klasse und musste mich mit meiner Zukunft in einem Land auseinandersetzen, dass die Zukunft als Fortsetzung der Vergangenheit betrachtete. Und jetzt riss dieses Menetekel Kohl die Geschichte an sich und wollte mit aller Gewalt die Einheit Deutschlands erreichen, obwohl er nichts dazu beigetragen hatte. Denn den eigentlichen Umsturz der sozialistischen Winterschlafregierung der DDR hatte das Volk betrieben und nach meiner Ansicht sollte das Volk dort die Früchte ihrer eigenen Revolution ernten, indem sie einen neuen Staat aufbauen können, der von einem basisdemokratischen Verständnis von Politik geprägt sein konnte. Nicht mehr Parteien, sondern Bürgerbewegungen sollten nach meiner Ansicht einen Staat regieren und das hätte doch gut funktionieren können. Kohl war schneller und hat alles in Gang gesetzt und mit Versprechungen die dortigen Politiker und das Volk betört. Dabei hatte er ein paar Jahre vorher noch das andere Deutschland mit Milliardenkrediten künstlich am Leben gehalten. Warum sollte er jetzt der Heilsbringer sein?

Im Nachhinein muss man Kohl und seinem Beharren auf der deutschen Einheit, seinem Verhandlungsgeschick und seinen Netzwerkkünsten größten Respekt zollen. Was ansonsten innenpolitisch zu seinem Machterhalt gedient hat, hat er einmal im Leben zu etwas Positiven genutzt. Und wahrscheinlich ging es ihm wirklich darum, Deutschland in seiner Einheit als das Vorbild für ein geeintes Europas zu etablieren und somit den Frieden und die Freiheit in Europa für Jahrzehnte zu sichern. Bald darauf war die Geschichte beendet und es gab ein Jahrzehnt in dem alles danach aussah, als könne es so etwas wie Weltfrieden geben. Kohl hat dazu einen deutlichen Beitrag geleistet und sich um die Auflösung des starren Blockdenkens aus den Zeiten des kalten Krieges verdient gemacht. Allerdings zu dem Preis, dass ich ihn noch weitere acht Jahre als Kanzler ertragen musste. Aber ganz ehrlich: dilettantische Bürgerbewegungen, die zumeist als Amateure, Hasardeure und per Zufall in den Politikbetrieb gerieten, hätten mit einem neuen ostdeutschen Staat nichts anstellen können und der Bezug zur großen Idee eines geeinten Europas hätte sie überfordert, weil sie nur mit dem wirtschaftlichen Überleben beschäftigt gewesen wären.

Meine Vorbehalte gegenüber diesen Jahren der Kohl-Regierung sind geblieben und niemand wird sie mir ausreden können. Trotzdem haben sie mich auch positiv geprägt. Ich habe in der Beobachtung des politischen Tagesgeschäftes gelernt, politisch zu denken, Politik zu hinterfragen, die Bedeutung einer differenzierten und ausgewogene Meinung, die zu meiner Wertewelt passt, zu schätzen gelernt, weil es das einzige Mittel ist, um sich nicht einer wildgewordenen Herde anzuschließen, die sich mit aller Gewalt die Deutungshoheit über ein Thema aneignen möchte. Ich habe gelernt, wie wichtig ein politischer Diskurs ist, der auch eine Gegenmeinung, solange sie ausgewogen und differenziert ist, akzeptiert. Ich habe gelernt, dass Demokratie die einzige Form eines Herrschaftssystems ist, die größtmögliche Freiheit und Vielfalt zulässt und dass man dieses Gut nicht fahrlässig aufgeben sollte. Und ich habe gelernt, dass Pragmatismus in der Politik oft die einzige Chance ist, die Macht der Ideologien aufzubrechen. Nämlich nichts anderes hat Kohl während der Wiedervereinigung gemacht. Ohne Rücksicht auf ideologische Vorbehalte alle Beteiligen betört und mit einbezogen, Kompromisse gesucht und verhandelt. Somit war er in dieser Phase das Vorbild für einen Politikstil, den ich auch in der aktuellen Situation als wegweisend halte. Starke positive Charaktere (in dieser Zeit war Kohl positiv in seiner Projektion des Friedens für ein geeintes Deutschland und Europa), die sich gegen negative Ideologien stemmen und allen Miesmachern mit konkretem Handeln zeigen, dass sie nichts anzubieten haben, außer Hass und Vorurteile.

Somit muss man den Phänomen Helmut Kohl gegenüber konstatieren, dass es durchaus zwei Seiten hat und das es im Rahmen einer Demokratie geschehen ist, die sich in ihren Grundsätze nicht aufgibt, sondern trotz allem vielen Beteiligten die Möglichkeit gibt, eine Gesellschaft zu gestalten. Denn wenn Kohl sich in seinem Machterhaltungstrieb gegen die bundesrepublikanische Demokratie gewendet hätte, was niemals jemand ihm hätte unterstellen dürfen, wäre es nicht möglich gewesen, dass eine politische Partei wie die Grünen sich genau in dieser Zeit als Gegenbild zu dem politischen Muff des Konservatismus als neue Alternative etabliert haben und wieviel Spaß wäre uns entgangen, wenn z.B. ein Joschka Fischer sich nicht innerhalb der Demokratie vom Turnschuhminister zum Vizekanzler hätte hochdienen können.

Auf die Zukunft projiziert, hoffe ich, dass wir als Demokraten, egal welcher politischen Richtung wir angehören,  uns genau diesen Spielraum lassen, um immer wieder unserer Gesellschaft die Möglichkeit zur Erneuerung und zur Entwicklung zu geben.

Auf dem Feldberg – eine kurze Geschichte über soziale Gerechtigkeit

Der erste Schnee liegt auf den Höhen der Mittelgebirge. Bei uns unten im Tal ist es grau und nass. Oben auf dem Feldberg liegen in Gipfelnähe zwanzig Zentimeter Schnee. Bei Minusgraden und Sonnenschein überspült die erste winterliche Ausflugswelle den Gipfel des Feldberges. Viele Familien mit ihren Kindern zieht es hierher. Daneben die üblichen Verdächtigen, die sich hier auf dem Berg tummeln, Nordic-Walking-bestockte Hausfrauen, Jogger, Mountainbiker und Spaziergänger. Die Kinder nutzen alle Möglichkeiten, um den Berg hinunter zu rutschen und die Eltern stehen daneben und spüren zum ersten Mal wie der Frost sie bibbern lässt. Ich stehe mitten im Wald und lausche dem Chor heulender Kinder, die erst im Wald gemerkt haben, was es heißt, dass es verdammt kalt ist, als meine achtjährige Tochter sich wünscht, dass wir diesen Winter endlich mal in den Skiurlaub fahren. Naja, wir können uns das nicht leisten. Weder die Ausrüstungen noch die Reise an sich passt in unser Budget. Sie überlegt kurz und macht einen wahrhaft populistischen Vorschlag und hat auch gleich die passende Argumentation parat. Wir könnten doch zwei der drei Kinder, die zur Familie gehören, einfach weggeben. Sie wäre dann das einzige Kind und wir hätten dann genug Geld, um in den Urlaub zu fahren. Ich antworte: “Gute Idee! Ich wollte schon immer mal mit deiner Mutter in die USA zum Skifahren fhren, nach Aspen, oder in die Schweiz, nach St. Moritz. Das können wir dann machen, wenn wir dich auch noch weggeben.“ Sie schaut mich etwas beleidigt an und ich erkläre ihr, wie die Welt momentan zu funktionieren scheint. „Tja, wir machen es wie viele andere Menschen. Wir können behaupten, dass das Boot voll ist und wir einige Kinder loswerden müssen, damit wir endlich teure Reisen machen und das Leben genießen können.“   Meine Antwort verstört sie ein wenig, denn sie zeigt mir ihre schiefen Vorderzähne und kneift die Augen zusammen. “Oder wir können es so machen, wie es sich unter Menschen eigentlich gehört. Wir behalten alle Kinder, verzichten zwar auf teure Reisen in den Schnee und fahren einmal im Jahr mit allen ans Meer. Dort haben wir dann gemeinsam Spaß. Denn erkläre mal deinen kleinen hilflosen Bruder, warum er jetzt gerade in ein Kinderheim muss. Das Teilen unter den Menschen, so dass alle etwas davon haben, hat eigentlich Tradition bei uns. Manche nennen es soziale Gerechtigkeit.“ Meine Tochter lächelt und rennt weg. Sie hat nicht wirklich zugehört, denn sie will wie ihre Schwester, die ein paar Meter weiter schon auf dem Hosenboden sitzt, den Berg hinunter rutschen.

Ich bin der Hass

Die Wahl des Donald J. Trump zum mächtigsten Mann der Welt weckt in mir Erinnerungen an ein altes Stück deutsch-österreichischer Popmusikgeschichte. Fast am Ende der Neuen Deutschen Welle gab es einen unerträglichen Hit der Band DÖF. Ein Ohrwurm mit einem Refrain, der bis heute in meinem Gehörgang festhängt und anscheinend dort dreiunddreißig Jahre darauf gewartet hat, um einen tieferen Sinn zu bekommen. Eine tiefe wutgeprägte Stimme verkündet das Fehlen der Liebe seit zweitausend Jahren auf der Erde, bezeichnet sich selbst als hässlich und letztendlich als personifizierten Hass. Dann kommt Codo aus dem Weltall und düst im Sauseschritt und bringt die Liebe mit von seinem Himmelsritt. Das ist ein Reim, den man niemals vergessen sollte. Denn wahrscheinlich haben wir angesichts dieser von Hass geprägten Politprolls, die überall nach Macht streben, bald nur noch die Hoffnung, dass jemand aus dem Weltall auf die Erde kommt und uns die Liebe wieder bringt……

1925 vs. 2029

Häufig ähneln sich gesellschaftliche Entwicklungen unterschiedlicher Epochen ähneln. Autoritäre Gesellschaftsstrukturen mit  starren Klassenstrukturen, die sich nach Faktoren wie Herkunft, Status, Eigentum richten, galten oft genug als Standard. Im Gegensatz dazu stehen die liberalen Gesellschaftsordnungen, die die Bildung von Klassen vermeidet und dementsprechend nach allen Richtungen durchlässig sind. Die letztere Gesellschaftsordnung scheint aus unserer heutigen Sicht das Ideal zu sein. Trotzdem erleben wir gerade im Moment, wie die autoritären Strukturen für viele Menschen anscheinend einen gewissen Reiz ausüben. Man spricht von Elitenbildung, von starken Persönlichkeiten, die wissen, wie der Hase läuft und das man denen doch Politik und Wirtschaft überlassen sollte, weil sie das ganze Chaos der Globalisierung beseitigen werden. Die Forderung nach einer starken Elite ist nicht nur in Europa en Vogue und das obwohl nach dem zweiten Weltkrieg alles dafür getan wurde, um separatistische antidemokratische Gesellschaftsstrukturen zu vermeiden.

Der große Unterschied zwischen 1925 und 2029 ist, dass die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung genau entgegengesetzt verläuft. Man erlebt zwischen den Kriegen ein allgemeines Aufatmen, eine Abkehr von autoritären Herrschaftsformen und beginnt sogar fünfzehn Jahre später den absoluten Endkampf gegen die ausgearteten faschistischen Regime mit ihrem Führerprinzip, die nichts anderes darstellen als eine moderne Übertreibung von absoluter Herrschaft und Klassengesellschaft. In 2029 ist man im Verlauf der letzten dreißig Jahren weltweit genau in diese Kerbe hineingerutscht. Die herrschenden Subjekte einer globalen Gesellschaft setzen alles auf eine utilitaristische Ökonomisierung des Zusammenlebens und ernten dafür eine Elitengesellschaft mit autoritäre Zügen, die dafür sorgt, dass ein Großteil der Menschen in eine wirtschaftliche Abhängigkeit geraten, die kaum Fluchtmöglichkeiten bietet. Natürlich für die Undurchlässigkeit der einzelnen Klassen zu  einem degenerativen Stillstand sozialer Entwicklung. Gerade dieser große Unterschied, die Zeit des Aufbruchs vs. die Zeit des Stillstandes gibt mir als Autor die Chance den Rückgriff auf die Vergangenheit zu wagen, um zu zeigen, was der Zukunft fehlt. Shaw als Bote der Vergangenheit mit seinem ausgeprägten politischen Bewusstsein, der erkennt, dass Gesellschaft sich evolutionär zum Besseren entwickeln kann, in dem jeder am politischen Leben teilnimmt, kann den Unterschied zur politisch unbewussten Alethea deutlich werden lassen, die sich in die autoritären Strukturen einordnet und deren Generation die Teilhabe an Politik gar nicht mehr kennt. Insbesondere ist das für mich als Autor möglich, da beide eine Parallele in ihrer Herkunft aufweisen. Durch das wirtschaftliche Scheitern ihrer Väter haben sie den sozialen Abstieg erlebt. Bei Shaw wie Alethea ist ihr Leben darauf ausgerichtet, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf wieder heraus zu ziehen. Shaw allerdings indem er gegen den Mainstream arbeitet und Alethea indem sie sich anpasst. Alleine daraus ergibt sich die Reibung, die ich brauche, um meine Intention für den Leser sichtbar zu machen.

 

Großbritannien im Jahr 1925

Der Zeitraum zwischen den Weltkriegen war voller Widersprüche und wechselhafter Entwicklungen. Die europäischen Großnationen hatten mit den Vereinigten Staaten einen neuen Konkurrenten bekommen. Die Wirtschaftskraft der USA nahm in diesen Jahren sprunghaft zu. Auf vielen Gebieten überflügelte die USA die erfolgsgewohnten europäischen Siegermächte und teilweise wurden sie abhängig von den USA. Zudem beobachtete man misstrauisch die russische Revolution und das Heranwachsen eines neuen Staatsmodelles. Zusätzlich hatte man die ehemalige Großmacht Deutschland als Kriegsverlierer ausgemacht. Deutschland sollte die Schuld für den Krieg übernehmen. Allerdings brauchte man das Deutsche Reich als Puffer zwischen Ost und West und als Handelspartner.  Die Euphorie der Sieger Frankreich und Großbritannien verpuffte, als man erkannte, dass der Sieg über das Deutsche Reich sich nicht auszahlte. Bis Kriegsende verfügte in beiden Staaten das Militär über sehr viel Macht und hatten dementsprechend Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen. Nachdem Krieg gab es in beiden Staaten starke pazifistische Strömungen, die darauf ausgerichtet waren, erneute Kriege zu verhindern, anstatt sie als Mittel der Staatsführung zu sehen. Ein weiterer Faktor war, dass Franzosen wie Briten erkennen mussten, dass ihre Kolonien ihnen nicht ewig als Ressourcenbeschaffer zu Verfügung stehen würden. In der Mitte der zwanziger Jahre war die wirtschaftliche Situation in Großbritannien noch gut. Man hatte in den Jahren davor einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, von dem viele Menschen profitieren konnten.

 Die letzten dreißig bis vierzig Jahre in Großbritannien waren geprägt von der Industrialisierung, von dem sozialen Aufstieg der Arbeiter und des Bürgertums, also von grundlegenden Änderungen in Wirtschaft und Gesellschaft. Shaw war zum Zeitpunkt der Gespräche mit Cherry-Garrard ungefähr sechzig Jahre alt. Er war in Irland groß geworden, seine Familie war gescheitert, sein Vater hatte als Geschäftsmann versagt und seine Mutter war nach London geflohen. Er hatte noch eine andere Zeit erlebt, als der soziale Aufstieg für Menschen aus armen Verhältnissen kaum möglich war und es einen großen Unterschied zwischen Arm und Reich gab. Cherry-Garrard war zu dem Zeitpunkt der Gespräche mit Shaw in seinen Enddreißigern. Er kommt aus einer anderen Generation und auch aus einem anderen sozialen Umfeld. Sein Vater hatte beim Militär Karriere gemacht, hatte in den Kolonien gekämpft. Die Familie gehörte zur viktorianischen Mittelschicht. Cherry-Garrard war als Kind schüchtern und zurückhaltend und wollte seinem Vater nacheifern, der als junger Mann einen abenteuerlichen Lebensstil gepflegt hatte. Cherry-Garrard hatte im ersten Weltkrieg als Offizier gedient und aus gesundheitlichen Gründen wurde er schnell aussortiert. Cherry-Garrard war 1925 ein gebrochener Mann, der am Ende der Scott-Expedition seinen Verstand verloren hat und mit seinem Schicksal haderte. Shaw hatte sich während des Krieges mit einem pazifistischen Aufsatz unbeliebt gemacht und seine Karriere als Autor aufs Spiel gesetzt. Erst als er den 1925 den Nobelpreis erhielt, bekam er in seiner Heimat die nötige Anerkennung als Autor.

Die Welt im Jahre 2029

Es gilt nun die verschiedenen sozialen Systeme der Ebene Alethea und Shaw Cherry-Garrard zu erforschen, um ihre Gemeinsamkeiten heraus arbeiten zu können. Die gesellschaftlichen Zustände, die in der Ebene Jo Sommer herrschen, habe ich an anderer Stelle ausgiebig dargestellt

 Beginnen wir mit der Zukunft im Jahre 2029: Das soziale Gefüge beruht auf Trennung anstatt Solidarität. Jeder Mensch bekommt zu Beginn seines Lebens eine monetäre Schuld aufgebrummt, die seine Schuld gegenüber der Gesellschaft darstellt und die er im Laufe seines Lebens abarbeiten muss. Jeder Bürger fängt mit den gleichen Schuldenstand an. Durch das erwirtschaftete Einkommen, durch ererbtes Vermögen, also durch Geldleistung kann jeder seine Schuld nach und nach tilgen. Wer von Geburt an in wohlhabenden Verhältnissen lebt, wird seine Schuld sofort tilgen können, derjenige, der in Armut groß wird, hat wenige Chancen die Tilgung seiner Schulden zu erreichen. Dadurch sind drei Kasten entstanden, die mehr oder weniger nebeneinander existieren und die wenige Berührungspunkte haben. Es gibt die Elite, der Geldadel, der schon vor Generationen seinen Reichtum angehäuft hat, die Mächtigen, Banker, Industrielle, dazu gehören die Emporkömmlinge, die durch Zufall und Glück von den unteren Schichten aufgestiegen sind. Sie dienen oft als Alibi für die Elite, die anhand der Existenz der Emporkömmlinge zeigen kann, dass das Kastensystem durchlässig ist. Die Elite stellt in der Bevölkerung nur einen kleinen Anteil. Der weitaus größere Anteil wird von den sogenannten Maden gestellt. Dies sind die gewöhnlichen Arbeitnehmer, deren einziges Ziel ist, ihr Schuldenkonto schnellstmöglich abzuarbeiten. Ihre Chance, irgendwann zur Elite zu gehören, ist illusorisch gering und da alle um diesen Umstand wissen, agieren die meisten Maden wie die Hamster im Hamsterrad. Sie arbeiten Tag und Nacht, haben kaum Zeit, um ihren eigenen Interessen zu folgen und sind grundsätzlich ohne politisches Bewusstsein. Durch den Druck, der auf ihnen lastet, sind viele von ihnen psychisch ausgezehrt, wenn nicht sogar krank und viele neigen dazu, latent aggressiv zu sein. Das Bildungssystem beruht auf der Vereinzelung. Den Maden wird in der Schule beigebracht, dass sie nur die Tilgung ihres Schuldenkontos im Augen haben sollen und deswegen sich auf ihr berufliches Weiterkommen konzentrieren sollen. Fraternisierung mit Gleichgesinnten gilt als verpönt. Man misstraut dem Nachbarn und verhält sich gegenüber anderen gleichgültig oder abweisend. Liebesbeziehungen gelten als altmodisch. Sexualität und Fortpflanzung ist ökonomisiert worden. D.h. man bezahlt für eine Dienstleistung und geht keine langfristigen freiwilligen Beziehungen ein. Eigentlich sind alle sozialen Lebensweisen mit Dienstleistungen verknüpft, die bezahlt werden müssen.

 In der dritten Kaste sammeln sich alle Personen, die in dem System der Maden nicht mitmachen wollen oder nicht mitmachen können. Die Ausgestoßenen möchten sich von ihren Pflichten gegenüber der Gesellschaft befreien. Allerdings haben sie keine Möglichkeit ihrer Schuldenrückführung zu entkommen. Insofern sind sie darauf angewiesen, in irgendeiner Art und Weise ein Einkommen zu generieren. Entgegen den Maden haben sie verstanden, dass ein Überleben nur möglich ist, wenn man sich mit Gleichgesinnten zusammenschließt. Das heißt nicht, dass sie politisch organisiert sind. Sie leben zumeist in kleinen Kommunen abseits der Städte und versuchen durch einen hohen Grad an Selbstversorgung sich eine kleine Freiheit zu verschaffen. Sie werden von den Behörden geduldet, weil sie für ein geringes Einkommen den Maden als Dienstleister zu Verfügung stehen, also sich um ihre Kinder kümmern, Sex mit ihnen haben oder abends gemeinsam mit ihnen Fernsehen schauen. Obwohl sie sich von der Gesellschaft lösen wollen, sind sie Teil des Systems. Der Staat wird gelenkt von der Heiligen Dreifaltigkeit: Gesellschaft, Staat und Arbeitgeber. Es ist eine anonyme Struktur der Macht, die sich nur in ihren Vertretern zur erkennen gibt und die für die Menschen nicht greifbar ist. Es gibt keine grundsätzlich diktatorische Struktur, es gibt keine autoritäre Führung, die sich als Inhaber der staatlichen Gewalt aufspielt. Es gibt nur noch scheindemokratische Teilhabe der Menschen am Staat. Wahlen haben nicht die Funktion, den Bürger seine Geltung als Souverän zu verschaffen, sondern sie dienen dazu, den Menschen das Gefühl zu geben, sie hätten die Möglichkeit etwas zu bestimmen. Dabei bestimmt die anonyme Heilige Dreifaltigkeit die Geschicke eines Staates. Grundsätzlich hat sich durch die ökonomische Verknüpfung ein globales politisches System etabliert, dass eher dynamisch funktioniert und sich nicht an der Idee der Nationalstaaten orientiert. Wirtschaftlichkeit und Effizienz prägen politisches Handeln. Ethische Grundsätze sind nicht mehr maßgebend für politische Entscheidungen. Da der Einzelne sich selbst überlassen ist, gibt es auch aus der Bevölkerung wenige Bestrebungen an politischen Entscheidungen zu zweifeln. Das Denken der Internet-Generation, dass alles dazu dient die Welt besser zu machen und diese Maxime sich auf rein positivistisches und materialistisches Weltbild stützt, hat sich endgültig durchgesetzt. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde hat sich als lästiges Übel überlebt, weil sie der Schaffung eines perfekten Menschen, der nur den wirtschaftlichen Nutzen als einzige normative Kraft anerkennt, im Wege steht. Dazu gehört, dass die technische Entwicklung sich nicht ins unendliche fortgepflanzt hat, sondern auf dem Status von 2015 stehen geblieben ist. Man hat sich in eine Sackgasse manövriert und das politische System verhindert Innovationen und Weiterentwicklung, weil die Menschen keine Zeit haben, um neue Visionen zu entwickeln.

 Alethea Cumberland gehört durch ihre Herkunft eigentlich zu den Maden. Sie schickt sich an in die Kaste der Emporkömmlinge hinein zu wachsen. Sie hat ihr einziges Talent genutzt, um ihr Schuldenkonto in absehbarer Zeit ausgleichen zu können und danach Vermögenswerte anzuhäufen. Dazu gehört allerdings, dass sie weiterhin erfolgreich ist. Ein Fehltritt, ein Flop und sie fängt wieder von vorne an. Alethea profitiert von ihrer Popularität und genießt einige Privilegien der Elitären. Doch der Druck auf sie ist groß. Dementsprechend steckt hinter ihrer Arroganz ein Stück Unsicherheit und Nervosität. Zudem gibt es genug Menschen, die ihr mistrauen, weil sie durch ihre individuelle Kreativität vorangekommen ist und dies nicht zur utilitaristischen Vorstellung von ökonomischem Erfolg passt.