Die Gesellschaft gibt es, die Gesellschaft nimmt es! (Teil 3)

Als erstes fielen mir unsere direkten Nachbarn auf, die aus der Bekämpfung der Parkplatzbesucher eine regelrechte Passion gemacht haben. Das Ehepaar gebärdete sich wie eine zwei-Personen-Bürgerwehr. Sie ließen die Straße nicht mehr aus dem Blick, liefen Patrouille, notierten Autokennzeichen, versteckten sich hinter den Büschen auf dem Spielplatz und fotografierten mit einem hellen Blitz die vorbeifahrenden Autos, um sie zu erschrecken oder sie glauben zu lassen, sie seien in einer Radarfalle getappt. Außerdem versuchten sie die Nachbarschaft in den Kampf gegen die Rüpel vom Parkplatz mit einzubeziehen bzw. die Polizei und die städtische Verwaltung mit Beschwerden und Hinweisen zum Handeln zu zwingen. Alle ihre Bemühungen verliefen im Sand. Sie erreichten kleine Teilerfolge und das muss man ihnen auch zu Gute halten. Es wurden zwei Fahrbahnschwellen, ein Blumenkübel und am Spielplatz eine Sperrvorrichtung installiert, damit Kinder nicht ungehindert auf die Straße rennen können. Sie behandelten immer nur die Symptome. Die Autos fuhren immer noch röhrend und zu schnell durch unsere Straße. Mit jedem kleinen Teilerfolg wurden sie noch verbissener. Die Nachbarschaft ließ sich auch von ihnen nicht animieren, sie beim Kampf zu unterstützen. Die Zwei-Mann-Bürgerwehr hatte nicht die Fähigkeit, andere Menschen zu integrieren und für ihr Anliegen zu gewinnen. Für sie hatte das Ganze auch keine politische öffentliche Dimension. Vielmehr ging es um eine private Angelegenheit: sie fühlten sich in ihrer Ruhe gestört. Und alle die nicht ihr Leid anerkannten und ihnen Gehör schenkten, betrachteten sie als ihre persönlichen Feinde.

Nachdem ich mich am Anfang von der Zwei-Personen-Bürgerwehr habe vereinnahmen lassen und ich diesen unreflektierte Gefühl, dass alle gegen uns seien und sich diese Jugendlichen überhaupt nicht um uns scheren, dazu geführt hat, dass sich meine Familie durch mein Wutbürgerbenehmen belästigt gefühlt hat, hat bei mir ein Umdenken stattgefunden. Jugendliche brauchen einen Platz, um sich zu treffen. Ihre Art der Anreise mochte vollkommen idiotisch sein. Aber auch diese Menschen  sind das Produkt unserer Gesellschaft. Für die Gesellschaft scheint es leider in Ordnung zu sein, dass junge Menschen große schnelle Autos und Motorräder fahren. Sie bietet ihn genug Möglichkeiten, um auf den innerstädtischen Autobahnen ungehemmt rasen zu dürfen. Schließlich scheint das Überschreiten von Geschwindigkeitsbeschränkungen ein Nationalsport zu sein (denkt man nur mal an die beknackte Diskussion um Tempo 130). Die Jugend ist nicht das Problem, sondern die Gesellschaft, die sich auf das Heilsversprechen einer unbeschränkten und für jeden verfügbaren Mobilität eingelassen hat. Jeder verbeugt sich vor den lackierten Metallkisten als seien es Götter und jeder, der ein schnelles und lautes Auto oder Motorrad sein Eigentum nennt, verdient den Respekt seiner Mitmenschen.

 Es gab in den letzten Jahren immer wieder Begegnungen mit anderen Nachbarn am Gartenzaun, die sich über die Situation beschwerten oder sich dazu äußerten. Die wenigsten sind auf die Idee gekommen, die großen Zusammenhänge zu betrachten. Am Gartenzaun schlug die Stunde der phlegmatischen Zweifler, die erst Mal pauschale Urteile fällten, wenig analytisch vorgingen, die Verantwortung bei der Stadtverwaltung sahen, manchmal mit Straftaten das Problem lösen wollte (wir können ja einfach die Raser mit Steinen bewerfen) oder auch pragmatische Lösung wie Fahrbahnschweller oder künstliche Verengung der Straße ablehnten (das macht dann immer so ein Krach, wenn die Autos da drüber fahren und dann fallen nachher auch noch unsere Parkplätze weg) Das aber jemand mit tiefergelegtem Auto nur einmal über einen Fahrbahnschweller Parcours fährt und dann die Lust am Rasen verliert und einfach das Weite sucht, interessiert diese Menschen nicht. Und am Schluss kommt immer die Feststellung: Tja, daran können wir wohl nichts ändern.

Ein Nachbar, einer der wenigen in der Straße, der immer positiv denkt, hatte den wirklich besten Vorschlag von allen, den er auch gleich in die Tat umgesetzt hat. Man kann doch mal mit den Autofahrern reden und sie höflich auf die Geschwindigkeitsbeschränkungen aufmerksam machen. Er bemerkte auch, dass das alles nette Jungs wären, die einfach nur ein wenig Spaß haben wollten und sie vielleicht gar nicht wissen, dass sie uns auf die Nerven gehen. Die Lösung kann so einfach sein. In der Folgezeit haben wir den einen oder anderen angesprochen und einfach gebeten, langsam zu fahren, da in der Straße Kinder wohnen und die Straße auch sehr unübersichtlich sei. Es gab dabei nie Streit oder harsche Gegenwehr. Ansonsten haben die Autofahrer freundlich und verständnisvoll reagiert und in Folge wurde es ruhiger in der Straße.

Im Frühjahr, die ersten warmen Tage, sind fürchterlich und auch im Sommer hat man manchmal das Gefühl man wohnt auf einer Rennstrecke. Aber es scheint weniger geworden zu sein. Mittlerweile hat sich die Stadt eine Lösung für das Symptom überlegt. Der Festplatz wird mit einem Erweiterungsbau der Berufsschule bebaut. Der Parkplatz soll zum bewachten Platz für Wohnmobile ausgebaut werden. Damit werden die Autotuner und Raser vertrieben. Sie müssen sich nächstes Jahr anderen Platz suchen. Auch dort werden sie den Anwohnern auf die Nerven gehen. Wie man es dreht und wendet: Das eigentliche Problem bleibt. Solange das Fahren von stark motorisierten Fahrzeugen gesellschaftlich höchste Priorität hat und alles in einer Stadt darauf ausgelegt ist, den Autos und Motorrädern Vorrang einzuräumen, werden solche Begleiterscheinungen nicht verschwinden.

Und somit kehre ich zum ersten Teil meiner kleinen soziologischen Betrachtung zurück. Die Gesellschaft gibt es und sie nimmt es. Sie hat uns den Autoverkehr gegeben, als es noch der Ausdruck von Wirtschaftswachstum und Wohlstand war und alle vom Fortschritt profitiert haben. Die Gesellschaft wird es uns auch wieder nehmen, nämlich spätestens dann, wenn auch der letzte Tuner kapiert hat, das Autofahren voll uncool ist und das Eigentum an einem Auto gar keine Bedeutung hat und man lieber in den Bus steigt, Fahrrad fährt oder zu Fuß unterwegs ist.

 Es ist auch nicht so, als könnte ich und du und jeder andere nichts dafür tun. Wir können selbst unser Verhalten ändern, auf Fahrrad und ÖPNV umsteigen, mehr Wege zu Fuß zurücklegen, auf das eigene Auto verzichten, wenn wir doch mal darauf angewiesen sind, es uns nur leihen, bei Wahlen die Parteien und Politiker wählen, die eine Verkehrswende wollen, vor Ort mit Lokalpolitikern reden, für Veränderungen einstehen, sich aktiv beteiligen, wenn es darum geht, das Bürger mitentscheiden sollen und das sind nur ein paar Möglichkeiten, die ich als Teil der Gesellschaft habe. Das dauert und ist anstrengend aber es lohnt sich!!

Die Gesellschaft gibt es, die Gesellschaft nimmt es!

Wenn wir von Gesellschaft reden, denken wir an ein abstraktes Gebilde, das außerhalb von uns existiert und dessen Willkür wir vollkommen ausgeliefert sind. Anhänger von Verschwörungstheorien, Querdenker, Reichsbürger und politische Extremisten scheinen sich diesem Gebilde in den Weg zu stellen und es herauszufordern.

Eine Gesellschaft besteht aus vielen einzelnen Gliedern, die untereinander agieren.  Jedes dieser Glieder hat ein Interesse an Teilhabe und persönlicher Entfaltung. Um das optimal organisieren zu können, ist ein größtmöglicher Nenner in Form von Absprachen, Regeln und Ausgleich der Interessen nötig. Daraus erwächst eine Komplexität, die etwas magisches, fast absolutes hat.  

Oben genannter Personenkreis sieht nur das gottähnliche im Antlitz einer Gesellschaft. Für sie schwebt sie wie eine dunkle Bedrohung über uns und mit dem Versuch, die Gesellschaft als Spielball einer Elite darzustellen, die im Hintergrund und Untergrund die Geschicke lenkt, versuchen sie ihre Angst vor dem imaginären Absoluten zu mildern.

Seltsamerweise wollen sie nicht zur Transparenz beitragen. Sie versteifen sich auf ihre wilden Wahrheiten, die man noch nicht einmal Theorien nennen darf, weil sie fest von deren Evidenz überzeugt sind und gerieren sich wie katholische Dogmatiker, die von der angeblichen Wahrheit der Jungfrauengeburt nicht abrücken wollen, weil sie Angst vor dem Zusammenbruch ihres ideologischen Kartenhauses haben.

Es gibt also keinen Grund für sie, zum Verständnis beizutragen. Sie wollen ein Missverständnis kultivieren, dem schon viele Rebellen und Revoluzzer aufgesessen sind. Sie glauben, dass ein Leben außerhalb der Gesellschaft auf dem Territorium der Gesellschaft möglich ist. Wenn man die Reichsbürger betrachtet, haben sie dieses Missverständnis auf die ultimative Spitze getrieben. Es gibt aber kein Leben außerhalb der Gesellschaft. Man ist immer Teil dieses Gebildes. Und wenn man ein Selbstversorgerleben in der Wildnis bevorzugt, wird es ab und zu Berührungspunkte mit der zivilisatorischen Organisation namens Gesellschaft geben. Man kann sich ihr nicht entziehen. Warum sollte man es auch? Viel wichtiger ist die Erkenntnis als Teil einer Gesellschaft sich nicht von ihrer Komplexität abschrecken zu lassen. Der Preis der Komplexität ist die Trägheit des Systems. Vieles scheint starr zu sein. Man hat sich scheinbar unabänderliche Regeln gegeben. Aber eine Gesellschaft kann nur funktionieren, wenn sie auf Veränderungen reagiert. Anstatt sich ihr entziehen zu wollen, ist es die Aufgabe des aufgeklärten Teilhabenden, die Veränderungsprozesse voran zu treiben und positiv zu begleiten, auch in seinem persönlichen Umfeld.

Stadt, Land……Weltuntergang

Vor ein paar Wochen hat mich ein guter Freund besucht. Er wollte schon immer abgeschieden auf dem Land leben. Den Wunsch hat er sich vor ein paar Jahren gemeinsam mit seiner Ehefrau erfüllt. Sie haben sich ein Haus in einem kleinen Ort mit zweihundert Einwohnern gekauft. Die Hauptstraße, eine Buckelpiste mit tiefen Schlaglöchern führt durch das Dorf und endet im Wald. Es gibt dort kein Geschäft, keinen Kindergarten, keine Schule. Der nächste Ort mit nennenswerter Infrastruktur ist fünf Kilometer entfernt und seine Arbeitsstelle und die nächste Stadt ca. 10 Kilometer.

Als ich damals meine jetzige Frau kennen gelernt habe, die jahrelang in einer Großstadt gewohnt hat und nach ihrer Rückkehr in eine mittelgroße Kleinstadt mit 80.000 Einwohnern gezogen war, habe ich das Leben in der Stadt schätzen gelernt. Sie wohnte zur Miete in einer gemütlichen Altbauwohnung inmitten der Innenstadt. Wenn ich bei ihr war, war vieles sehr einfach. Zum Einkaufen, zum Essen ins Restaurant, zum Theaterbesuch ging man einfach um die Ecke.

Wir sind nach zwei Jahren in die Stadt gezogen, in der wir heute noch wohnen. Erst zur Miete, später haben wir uns ein Haus gekauft. Die Stadt hat 50.000 Einwohner und je nachdem in welchem Viertel man wohnt, hat man ähnlich kurze Wege wie in einer Großstadt. Wir hatten sehr viel Glück, dass wir zum richtigen Zeitpunkt ein Haus in einer Nebenstraße in einem recht ruhigen Viertel gefunden haben. Dieses Haus pflegen, schätzen und lieben wir über alles. Es ist das Heim unserer Familie. Zwei Erwachsene, drei Kinder, vier, acht und elf Jahre alt.

Mein Freund und ich saßen bei uns im Garten. Wir haben einen kleinen Gartenschuppen, eine fest gemauerte niedrige Hütte, mit einem Vordach und einem grünen Dach aus Traubenranken. Darunter befindet sich mein Lieblingsplatz. Im Sommer sitze ich dort und schreibe, rauche und unterhalte mich abends bei einem Glas Wein mit meiner Frau. Wenn mein Freund und ich uns gegenseitig besuchen, wälzen wir alle Probleme dieser Welt. Wir kennen uns seit über zwanzig Jahren und wir schätzen die Gesellschaft des anderen ungemein. Unsere Besuche finden ein- zwei Mal im Jahr statt und sind für jeden von uns immer ein Vergnügen.

Über Umwegen kamen wir auf das Thema Klimawandel. Mein Freund berichtete mir, dass seine älteste Tochter mit elf schon ein Handy habe. Als Eltern mit klarem Erziehungsauftrag murrten wir hörbar auf. Unsere Tochter bekommt erst mit vierzehn Jahren ein eigenes Handy. Wir erlauben ihr nur die kontrollierte Nutzung sozialer Medien. Er hat sich umgehend gerechtfertigt. Schließlich fahre nur der Schulbus nach Hause und ein Linienbus fahre nur ein- bis zweimal am Tag. Das heißt, wenn bei seiner Tochter Unterricht ausfällt oder irgendetwas in der Schule dazwischen kommt und sie den Bus verpasst, muss sie abgeholt werden. Bei uns ist das kein Problem. Wenn ein Bus nicht fährt oder meine Tochter den Bus verpasst, wartet sie einfach auf den Linienbus, der alle halbe Stunde fährt oder läuft nach Hause. Die Schule ist zwar in einem anderen Stadtteil, aber auf dem halben Weg liegt der Bahnhof und spätestens dort kann sie in den Bus einsteigen.

Schnell waren wir bei dem Thema Mobilität. Mein Freund und seine Familie sind auf Autos angewiesen. Es gibt wenige Möglichkeiten flexibel öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Meine Frau hat als Landesbedienstete sogar ein kostenloses Jahresticket für den ÖPNV und fährt jeden Morgen mit dem Zug in die Nachbarstadt und sie hat nachmittags wenig Schwierigkeiten pünktlich in die Kita zu kommen, um meinen Sohn abzuholen. Unsere beiden Töchter haben alle Jahrestickets für den ÖPNV (kostet 365 EUR pro Jahr) und kommen so auch flexibel zu allen möglichen Zeiten zur Schule und nach Hause. Es ging noch weiter. Wir kamen dann auf das Thema Müllvermeidung. Wir haben einen Bioladen in der Stadt, der Unverpackt anbietet und in der Nachbarstadt (in die wir am Wochenende mit dem Ticket meiner Frau kostenlos mit dem Zug fahren können) einen Unverpacktladen. D.h. wir können mit wenig Aufwand einen Großteil des Verpackungsmülls einsparen. Die gängigen Nahrungsmittel wie Nudeln, Reis, Müsli holen wir unverpackt und auch Reinigungsmittel, Pflegemittel bekommen wir unverpackt. Den gelben Sack nutzen wir seit Jahren nicht mehr. Ich habe gerade nach vier Wochen unsere schwarze Tonne vor die Tür gestellt und sie war nur zu einem Drittel gefüllt. Als wir noch nicht an Verpackungsmüll gespart haben, war die Tonne jedes Mal bis oben hin voll. Mein Freund geht in einen Rewe im Nachbarort und kann dort vielleicht Obst und Gemüse in mitgebrachte Taschen und Behältnisse verstauen und seinen gesamten Einkauf vielleicht in einen Korb stopfen. Wenn er aber dort an die Metzgertheke geht und darum bittet, dass die Wurst in ein mitgebrachtes Behältnis gepackt wird, wird er mit Kopfschütteln abgewiesen. Auch das ist bei uns möglich, weil es genug Leute in der Stadt gibt, die das von ihren Metzgern verlangen und die, um die Kunden nicht zu verlieren, auf den Wunsch eingehen. Einen Unverpacktladen gibt es bei meinem Freund eventuell in der nächsten Großstadt, die ungefähr fünfzig Kilometer entfernt ist. Mangels Öffentlicher Verkehrsmittel wird er da mit dem Auto hinfahren müssen, also kann er es sich gleich sparen und nur darauf hoffen, dass sein Supermarkt im Nachbarort irgendwann mal den Schuss gehört hat. Ich kann alle Strecken in der Stadt mit dem Fahrrad fahren. Die Radwege bei uns sind nicht optimal, aber wir haben welche. Wenn mein Freund in den nächsten Ort fahren will, muss er auf vielen Umwegen durch den Wald fahren oder auf einer Landstraße. Einen Radweg gibt es nicht. Er ist wegen der Natur aufs Land gezogen und für ihn ist es selbstverständlich für den Erhalt der derselben etwas zu tun. Er sieht in den Anstrengungen für Umwelt- und Klimaschutz ein Gewinn für seine Lebensqualität. Aber er hat weniger Möglichkeiten im Alltag aktiv Umwelt- und Klimaschutz zu betreiben.

Nach diesem Sommertag im Garten hat sich mir eine Frage aufgedrängt. Gibt es auch beim Umweltschutz ein neues gesellschaftliches Ungleichgewicht?

In den letzten Jahren hat sich die bundesrepublikanische Gesellschaft in vielen Bereichen auseinander bewegt: Ob links oder rechts, oben oder unten, Ost oder West, Stadt oder Land. Auch bei Umweltthemen öffnen sich die Gräben, die immer unüberwindbarer erscheinen, weil sie mit den anderen Gegensätzen korrespondieren. Wer in der Stadt lebt, sich vegetarisch oder vegan ernährt, mit dem Fahrrad fährt oder den Bus nutzt, der kurze Wege hat, hat es leicht auf solche Menschen wie meinen Freund hinabzuschauen, der gerne auf dem Land lebt, gerade weil er ein Interesse an der Natur und der Umwelt hat, aber auf das Auto angewiesen ist und nun einmal sich nicht den Luxus gönnen kann, in den Bioladen um die Ecke zu gehen.

Viele gesellschaftlich relevante Probleme wurden in den letzten Jahren von großen Teilen der Gesellschaft erfolgreich verdrängt. Die Überflussgesellschaft, die es gewohnt ist, von der Ausbeutung von Ressourcen und weniger entwickelten Ecken dieser Welt zu profitieren, hat erfolgreich jede Herausforderung zur Bedrohung des eigenen Lebensstandards uminterpretiert. Dabei bringt das Wegsehen die wirkliche Bedrohung hervor. Aus Trägheit und Desinteresse hat man jegliche Vorschläge zur Veränderung von Verhaltensweisen erfolgreich niedergeschrien. Wenn ich in Facebook die vielen hasserfüllten Beiträge von eigentlich friedlichen Mitmenschen lese, die sich höllisch über Greta Thunberg und politisch aktive Schüler aufregen und die mittels Statistiken aus der Bildzeitung beweisen wollen, dass Deutschland ja eh nichts ändern kann, da wir Deutschen nur ein Prozent der Weltbevölkerung stellen und China aufgrund der vielen Chinesen viel eher in der Pflicht ist, etwas gegen den Klimawandel zu tun, weiß ich, dass diese Menschen glauben, wirklich etwas zu verlieren, wenn sie ihr Verhalten ändern, indem sie anstatt mit dem SUV zum Bäcker zu fahren, die hundert Meter einfach mal laufen. Für sie geht es nur um den Statusverlust und nicht um die Frage nach der Veränderung unserer Lebensweise zugunsten unseres Planeten und uns selbst.

Die Haltung, die von der Weltanschauung, dass der Kapitalismus durch die Produktion des permanenten Überfluss anscheinend die Unsterblichkeit der eigenen Art garantiert, geprägt ist, treibt die Gesellschaft noch weiter auseinander. Wir müssen uns eigentlich über die Gräben hinweg die Hand reichen und uns überlegen, wie wir in Zukunft unsere Gesellschaft organisieren wollen, um jedem Bürger zu ermöglichen, dass er seinen Beitrag zur Ressourcenschonung leisten kann. Leider sind die Stimmen der Konservativen, die unter Bewahrung, das Vermeiden von Veränderung verstehen, viel zu grell und zu laut, um im Rahmen einer politischen Willensbildung die vollständige Veränderung aller Infrastrukturen zu erreichen. Das aktuelle Klimapaket der Bundesregierung bringt dies leider zum Ausdruck. Man will keine Wende, sondern nur Symbolpolitik, die die eine Seite beruhigt und die andere Seite bestätigt, die aber nichts zusammenbringt.

Dabei könnte es so einfach sein. Wir sitzen am Tisch im Garten und reden miteinander. Wir hören dem anderen zu, zeigen Verständnis für seine Situation und werben für Verständnis für unsere Situation. Dann kommt das Einverständnis über gemeinsame Ziele. Weil niemand will wirklich, dass diese Welt zugrunde geht. Das klingt romantisch, aber was im Kleinen funktioniert, könnte eventuell auch im Großen funktionieren.

Versuchslabor

Tag der offenen Tür in der Schule meiner Tochter. Ich bin, wie immer, zu spät. Die Arbeit und wichtige Besprechungen haben mich aufgehalten. Ich irre fast orientierungslos durch die Dunkelheit. Nur die Umrisse des Schulgebäudes, ein grauer Betonklotz, halten mich auf Kurs.

Ich erreiche die Eingangshalle der Schule. Die Schüler, Eltern und Lehrer, Informations- und Verkaufsstände, das ohrenbetäubende Durcheinander überfordern mich. Meine Frau eilt auf mich zu. Es geht in den Musikraum. Meine zehnjährige Tochter spielt ein Weihnachtslied auf der Gitarre. Sie hat im Sommer im Rahmen der Gitarren-AG ihre ersten Gehversuche auf dem Instrument unternommen und kann jetzt schon kurze und einfache Lieder spielen. Sie hat sich sehr auf diesen Auftritt gefreut. Sie ist das Präsentieren ihrer musikalischen Fähigkeiten gewohnt. Seit zwei Jahren spielt sie Klavier, davor hast sie Blockflöte gelernt. Sie ist das erste meiner fünf Kinder mit ausgeprägten musikalischen Talent. Sehr zu meiner Freude.  

Da sitzt meine Tochter freudestrahlend mit ihren blonden Zöpfen und ihrer nagelneuen Gitarre auf den Schoss und freut sich, dass es ihr Vater noch rechtzeitig geschafft hat. Natürlich haben wir Jule im Sommer sofort eine eigene Gitarre gekauft. Wir waren im Musikgeschäft in der Nachbarstadt und haben uns beraten lassen. Es musste schon die Gitarre für hundertsiebzig Euro sein. Drunter gab es nichts Vernünftiges.

Neben Ihr sitzt ein großer adipöser Junge, mit schwarzen Haaren und Teddybäraugen und hält sich an einer abgenutzten alten Erwachsenenklampfe fest.

Es gibt im Moment eine Diskussion darum, ob man als Politiker wohlhabend sein darf. Friedrich Merz sehen viele schon als zukünftigen Kanzler. Doch man misstraut ihm, weil er in den letzten fünfzehn Jahren in der freien Wirtschaft einige Milliönchen verdient hat.

Der Lehrer, der an der Schule für die Gitarren-AG zuständig ist, geht zu dem großen Jungen und stellt ihn vor. A. hat keine eigene Gitarre und kann nur Dienstagsnachmittags vor dem Gitarrenunterricht mit einer Gitarre üben, die der Schule gehört. Dem Lehrer scheint es wichtig zu sein, das Publikum über diesen Umstand aufzuklären. Denn eigentlich sei A. ein wissbegieriger Schüler, der unbedingt das Instrument erlernen möchte.

Friedrich Merz kommt aus dem Sauerland und ist dort fest verwurzelt. Ein bodenständiger, heimattreuer Wertkonservativer. Allerdings passen die gut dotierten Posten in Aufsichtsräten großer international agierender Unternehmen und die zwei Privatflugzeuge nicht zum Sauerland.

A. legt los. Er kann nur Lieder mit der Anschlagshand spielen. Also schlägt er tapfer seine Leersaiten an und der Lehrer singt dazu.  Nach ein paar Takten sind die Lieder schon vorbei und alle klatschen. A. strahlt über sein ganzes Gesicht. Seine Teddybäraugen leuchten. Der Applaus gibt ihm Zuversicht.

Die marktliberale Haltung des Herrn Merz ist legendär. Allerdings heutzutage nicht mehr opportun. In den Neunzigern waren viele Politiker der Ansicht, der freie Markt regelt alles selbst. Wen nur alle an sich denken, ist an alle gedacht. Raus aus der sozialen Hängematte, rein in den Kampf ums Überleben. Es ist jetzt so, dass man in der Politik gerne das Rad wieder zurückdrehen möchte. Zumindest rhetorisch.

Dann ist meine Tochter dran. Sie spielt fast fehlerfrei ihr Stück herunter. Jingle Bells in einer einfachen Version mit beiden Händen. Sie kann jeden Tag auf ihrer eigenen nagelneuen Gitarre üben.

Herr Merz ist für die Einen das Böse an sich und für die Anderen ist er der Heilsbringer. Alles eine Sicht der Perspektive. Mich verwirrt dieser Mensch. Ich denke nicht, dass Politiker nicht wohlhabend sein dürfen und ich finde es generell nicht problematisch, wenn sie in der freien Wirtschaft gearbeitet haben. Aber sein Habitus, seine Neigung zu populistischen Geplänkel (wie z.B. das Infrage stellen des Asylrechtes) widern mich an.

Nachdem drei andere Mädchen aus der Gruppe noch mehrere Lieder zum Besten gegeben haben, fordert A. den Lehrer auf, ihn noch ein Stück spielen zu lassen. A. ist auf einer Mission. Er will es allen zeigen, dass er es kann.

Ich kann mich noch gut an sein früheres politisches Leben erinnern. Herr Merz war immer der Stachel im Fleisch der damalig noch sehr verknöcherten CDU. Fast schon ein konservativer Rebell. Auch damals hat er mich verwirrt. Die Steuererklärung auf dem Bierdeckel: ein rhetorischer Coup. Viel heiße Luft  im rückwärtsgewandten Kohlklima der CDU, die den abgestandenen Mief von  Männerfreundschaften kurzzeitig vertrieb. Erst Frau Merkel schaffte es, die Bude CDU anständig durchzulüften.

Auf dem Rückweg vom Tag der offenen Tür irrte ich wieder durch die Dunkelheit. Finsternis lag über dem regennassen Asphalt.  Meine Frau und ich gehören zu dem Teil der Gesellschaft, der gerne als Bildungsbürgertum geschmäht wird. Jule hatte von Anfang an alle Chancen. Meine Frau und ich haben gute Jobs, wir wollen und können in die Bildung unserer Kinder investieren. Oft bemerke ich ironisch, dass Jule unser soziales Experiment ist. Die Schule meiner Tochter liegt in einem Stadtteil, der als sozialer Brennpunkt gebrandmarkt ist. Wir haben unsere Tochter absichtlich dort hingeschickt. Wir können es uns leisten. Sie wird keine Probleme in der Schule haben. In der Dunkelheit begegnen mir die Kinder, die den anderen Teil unseres sozialen Experimentes darstellen. Es sind laute, schrille Wesen, aus deren Handys laute Hip-Hop-Musik gegen den Regen anbrüllt.  Im Gegensatz zu unserer Tochter hatten sie keine Wahl. Sie sind die Versuchskaninchen einer Gesellschaft, die ständig austestet, ob sie ihr Potential mit möglichst wenig Aufwand heben kann. Es ist egal, ob die Versuchskaninchen später tot im Käfig liegen, denn die Kinder, die die vermeintliche Wahl haben, Leistungsträger sein zu dürfen, werden es schon für uns alle schaukeln. Die anderen Kinder sind halt Versuchstiere und ihr Erfolg besteht darin, einfach zu überleben.  Ich schäme mich für unser soziales Experiment. Mehr schäme ich mich allerdings noch für die Eltern, die mit ihren Kindern niemals in einem sozialen Brennpunkt auftauchen, weil sie solche Gegenden für den Dschungel halten. Sie schicken ihre Kinder auf teure Privatschulen und haben den beruflichen und monetären Erfolg ihrer Sprösslinge schon bei deren Zeugung eingepreist. Nachwuchs muss sich lohnen. Unsere Kinder sind die Opfer einer gespaltenen Gesellschaft.

Wer kümmert sich um A., den tapferen Jungen, der keine eigene Gitarre hat? Vielleicht gibt es irgendeine Stelle, die Kinder unterstützt, deren Eltern keine finanziellen Möglichkeiten haben, um sich Instrumente und Musikunterricht zu leisten. Ich finde nicht viel und weil die Suche so eintönig ist, lese ich auf Spiegel-Online einen Artikel über Friedrich Merz. Es waren die Tage der Neiddiskussion und dem Autor fiel es auch schwer, Herr Merz grundsätzlich zu verurteilen. Er wies darauf hin, dass Herr Merz kein kaltes Herz haben könne, da er ja zusammen mit seiner Frau eine Stiftung ins Leben gerufen habe, die soziale Projekte in seiner Heimat fördern sollte. Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Herr und Frau Merz die Auswahl der Projekte mitbestimmt. Ich habe mir die Homepage der Stiftung angeschaut. Wahrscheinlich hat Herr Merz die besten Absichten und ich will nicht so böse sein, ihm zu unterstellen, er unterhalte eine Stiftung nur aus steuerlichen Gründe. Allerdings hatte er keine Kinder wie A. im Blick. Leider sprechen die geförderten Projekte für sich: Buchgeschenke für die Jahrgangsbesten in der Schule, Stipendien für musisch begabte Kinder, die schon ihre Leistung an ihrem Instrument gezeigt haben und so weiter. A. bekäme von Herrn Merz nie eine Förderung. Herr Merz kauft keine Gitarren für Kinder aus sozialen Brennpunkten. Vielmehr fördert er nur seinesgleichen. Kinder, die zur Elite gehören und einen guten Start gehabt haben. Politiker wie Herr Merz erkennen die Probleme von A. noch nicht einmal an und solange das so ist, werden unsere Kinder an der Spaltung der Gesellschaft leiden. Die einen als Versuchskaninchen, die anderen als Investment.

Prognose

Die Prognose

 

Dunkelheit

zieht durch die Wohnstuben.

Die letzten Jahre meiner Jugend

verlieren sich in Finsternis.

Viel schwerer

als der Verlust meiner Jugend,

wiegt das Gewicht der Prognose.

Die Prognose der Geschichte,

die besagt,

das sich alles zum Schlechten wendet,

und nichts zum Guten

 

Katastrophen finden ihren Anfang

in beiläufigen Handlungen.

Der Wettermann kündigt den Sturm an

und niemand sucht Schutz,

sondern verliert sich in den Geschäften des Alltags.

Erst wenn der Winter

in die Herzen deiner Liebsten einzieht,

ihre Antlitze zu Stein gefrieren,

ihre Münder sich verschließen,

ihre Blicke sich senken,

Erfüllt sich die Prognose

und wird zur Prophezeiung.

 

Doch dann ist es für alle zu spät.

 

 

Können wir jetzt endlich anfangen?

Nein, leider noch lange nicht. Meine ersten Schreibversuche bereiteten mir auch Unbehagen, weil ich nur Klischeeumgebungen für den Beginn meiner Geschichte ersonnen hatte. Mein erster Gedanke war es, Alethea aus ihrer Wohnung im 30. Stockwerk eines Wolkenkratzers berichten zu lassen. Sie steht über allem und aus dieser Perspektive erzählt sie. Eine schreckliche Idee: die Megastädte der Zukunft sind doch schon die Gegenwart. Außerdem ist die Perspektive nicht passend. Alethea sitzt zwischen den Stühlen und steht nicht über allem. Sie gehört an einen fernen und unwirklichen Ort. Ein Ort, an dem sie sich per se unwohl fühlen muss, der ihre Einsamkeit und ihren Zwiespalt nochmals betont. Das Bild vom Großstadtmenschen, der in Wohntürmen in der Anonymität ihres Reichtums lebt, ist doch sehr abgegriffen.

 Als ich auf das Scott-Thema stieß, drängte sich mir ein Ort regelrecht auf: McMurdo-Sund, der Ausgangsort für Scotts-Südpolexpedition. Beim McMurdo-Sund handelt es sich um einen Küstenabschnitt, der im Süden der Antarktis liegt und sich als Ausgangspunkt für Expeditionen besonders eignet, weil die Bucht zu bestimmten Zeiten im Jahr eisfrei ist. Seit den fünfziger Jahren gibt es dort eine Forschungsstation, die im Laufe der Jahrzehnte zu einem Dorf angewachsen ist. Sie ist auch heute noch ein wichtiger Ausgangspunkt für Reisen an den Südpol. Am Südpol selbst gibt es eine größere Forschungsstation, die mit dem McMurdo-Sund durch eine Straße verbunden ist. Also nach nur knapp hundert Jahren hat die Menschheit es geschafft, diesen letzten unwirtlichen Ort ständig zu besiedeln. Am McMurdo-Sund leben im Sommer bis zu 1100 Menschen und dementsprechend hat man die Infrastruktur aus Gebäuden zum Wohnen und Arbeiten, mit den dazugehörigen Versorgungseinrichtungen, geschaffen. Es gibt sogar eine eigene Feuerwehr und eine Zeitung. Neben dem Ort steht auf einer Anhöhe die Hütte der Scottexpedition, die gut erhalten ist.

 In 2029 wird es dort immer noch einer Forschungsstation geben. Es ist anzunehmen, dass der Ort wächst und auch die Infrastruktur Richtung Südpol besser wird. Also ist es auch wahrscheinlich, dass Nichtforscher ein Interesse an einem solchen Ort entwickeln, um dort z.B. Urlaub zu machen.

 Alethea wird von ihrem Management dazu verdonnert, dort zwei Wochen zu verbringen, um sich von der authentischen Umgebung inspirieren zu lassen. Kurz vorher hat ein Investor dort ein Luxushotel mit allen Annehmlichkeiten für wohlhabende Mitglieder der Elite erbaut. Allerdings stößt das Luxushotel auf wenig Interesse. Alethea, die ein paar Wochen nach der Eröffnung anreist, ist der erste und einzige Gast dort. Sie braucht einen Tag, um das zu verstehen. Sie verbringt ihre Tage dort alleine mit sich und dem Personal und alle warten auf weitere Gäste. Der Roman beginnt nicht mit Aletheas Ankunft, sondern ihrem ersten Abend, den sie alleine auf ihrem Zimmer verbringt. Sie macht keine Anstalten, sich ernsthaft mit dem Stoff auseinander zu setzen. Sie fühlt sich von ihrem Management und auch ihrer besten Freundin Sofia bedrängt. Sie soll einerseits den historischen Stoff zu einem lesbaren Roman verarbeiten und andererseits die Vorlage für einen politischen Umbruch liefern. Sie zweifelt, hadert und langweilt sich. Erst am nächsten Tag, als sie alleine im Frühstücksraum sitzt, wird ihr klar, dass sie der einzige Gast im Hotel ist.

 

 

 

Großbritannien im Jahr 1925

Der Zeitraum zwischen den Weltkriegen war voller Widersprüche und wechselhafter Entwicklungen. Die europäischen Großnationen hatten mit den Vereinigten Staaten einen neuen Konkurrenten bekommen. Die Wirtschaftskraft der USA nahm in diesen Jahren sprunghaft zu. Auf vielen Gebieten überflügelte die USA die erfolgsgewohnten europäischen Siegermächte und teilweise wurden sie abhängig von den USA. Zudem beobachtete man misstrauisch die russische Revolution und das Heranwachsen eines neuen Staatsmodelles. Zusätzlich hatte man die ehemalige Großmacht Deutschland als Kriegsverlierer ausgemacht. Deutschland sollte die Schuld für den Krieg übernehmen. Allerdings brauchte man das Deutsche Reich als Puffer zwischen Ost und West und als Handelspartner.  Die Euphorie der Sieger Frankreich und Großbritannien verpuffte, als man erkannte, dass der Sieg über das Deutsche Reich sich nicht auszahlte. Bis Kriegsende verfügte in beiden Staaten das Militär über sehr viel Macht und hatten dementsprechend Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen. Nachdem Krieg gab es in beiden Staaten starke pazifistische Strömungen, die darauf ausgerichtet waren, erneute Kriege zu verhindern, anstatt sie als Mittel der Staatsführung zu sehen. Ein weiterer Faktor war, dass Franzosen wie Briten erkennen mussten, dass ihre Kolonien ihnen nicht ewig als Ressourcenbeschaffer zu Verfügung stehen würden. In der Mitte der zwanziger Jahre war die wirtschaftliche Situation in Großbritannien noch gut. Man hatte in den Jahren davor einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, von dem viele Menschen profitieren konnten.

 Die letzten dreißig bis vierzig Jahre in Großbritannien waren geprägt von der Industrialisierung, von dem sozialen Aufstieg der Arbeiter und des Bürgertums, also von grundlegenden Änderungen in Wirtschaft und Gesellschaft. Shaw war zum Zeitpunkt der Gespräche mit Cherry-Garrard ungefähr sechzig Jahre alt. Er war in Irland groß geworden, seine Familie war gescheitert, sein Vater hatte als Geschäftsmann versagt und seine Mutter war nach London geflohen. Er hatte noch eine andere Zeit erlebt, als der soziale Aufstieg für Menschen aus armen Verhältnissen kaum möglich war und es einen großen Unterschied zwischen Arm und Reich gab. Cherry-Garrard war zu dem Zeitpunkt der Gespräche mit Shaw in seinen Enddreißigern. Er kommt aus einer anderen Generation und auch aus einem anderen sozialen Umfeld. Sein Vater hatte beim Militär Karriere gemacht, hatte in den Kolonien gekämpft. Die Familie gehörte zur viktorianischen Mittelschicht. Cherry-Garrard war als Kind schüchtern und zurückhaltend und wollte seinem Vater nacheifern, der als junger Mann einen abenteuerlichen Lebensstil gepflegt hatte. Cherry-Garrard hatte im ersten Weltkrieg als Offizier gedient und aus gesundheitlichen Gründen wurde er schnell aussortiert. Cherry-Garrard war 1925 ein gebrochener Mann, der am Ende der Scott-Expedition seinen Verstand verloren hat und mit seinem Schicksal haderte. Shaw hatte sich während des Krieges mit einem pazifistischen Aufsatz unbeliebt gemacht und seine Karriere als Autor aufs Spiel gesetzt. Erst als er den 1925 den Nobelpreis erhielt, bekam er in seiner Heimat die nötige Anerkennung als Autor.

Die Charakterisierung der Hauptpersonen und ihre Vorgeschichte letzter Teil

Der Sprachverlust wird zum Symbol und zum roten Faden der Geschichte. Nacheinander verliert, verlernt oder vergisst jeder in der Familie die Fähigkeit zur Kommunikation. Erst die Mutter durch ihre Depression, dann der Vater durch die soziale Isolation, dann Luisa durch Krankheit oder psychischem Verfall. Letztendlich ist Johanna die Einzige, die ihre Kommunikationsfähigkeit behält. Sie ist das Sprachrohr der Familie und hält somit den Kontakt zur Außenwelt.

Die Vorgeschichte der Eltern wird im Text nach und nach beschrieben. Kerstins Großeltern und Olafs Eltern tauchen sporadisch auf. Ihre Charaktere und Geschichte auszuformen erachte als nicht wichtig, da sie nur Randfiguren sind. Der Großteil der Geschichte spielt in den Jahren beginnend ab dem Einzug in das Haus des Onkels. Deswegen finde ich es wichtiger die Figuren aus dem direkten Umfeld zu modellieren, wie zum Beispiel die Nachbarn usw.

Das Haus des Onkels befindet sich am Rande eines Industriegebietes, das wiederum am Stadtrand liegt. Das Areal wird auf der einen Seite durch die Hauptverkehrsader der Stadt begrenzt, auf der anderen Seite durch das Firmengelände einer Spedition. Ein gewisser Geräuschpegel begleitet den Alltag der Familie Tag und Nacht. Tagsüber kommt von der Straße der Lärm des stetigen Verkehrs und von der anderen Seite, in den Abend- und Morgenstunden der Lieferverkehr der großen LKW`s. Das graue Standrandmilieu zieht gesellschaftliche Randfiguren an. Die Verlierer, Außenseiter, Verrückten, Kranken und Armen der Stadtbevölkerung. Für mich ist es von großer Bedeutung diese Menschen möglichst authentisch zu zeigen. Der Text wird unglaubwürdig, wenn ich in sozialkitschigen Moritaten die Außenseiter als Heilige skizziere. Ich kann nicht sagen, dass ich viele Obdachlose, Alkoholiker, Prostituierte zu meinen Freunden zähle. Natürlich sind in meinem Leben mir problembeladene Zeitgenossen begegnet, die eher am Abgrund als in mitten der Gesellschaft leben. Trotzdem kann ich nicht behaupten, sie in ihrer Lebenssituation über längere Zeit beobachtet zu haben. Mir kann man also leicht vorwerfen, ich wüsste nicht, worüber ich schreibe und letztendlich benutze ich das Schicksal anderer Menschen, um mich als Autor zu profilieren. Es ist in diesem Falle eine verdammte Gratwanderung zwischen Fiktion und Realität und für mich stellt es eine Hürde dar. In anderen Texten habe ich nicht immer aus einer optimalen Perspektive heraus Dinge beschrieben, die ich nicht erfahren habe. Natürlich weiß ich, dass ich nicht wie ein Journalist schreiben muss, der reale Begegnungen und Begebenheiten wahrheitsgetreu darstellen will und die eigene Interpretation hinzufügt, aber auch kenntlich macht. Ich schreibe nicht dokumentarisch und kann mir das Recht herausnehmen, zum Stilmittel der Überhöhung oder Verkürzung zu greifen. Kein Schriftsteller dieser Welt ist gezwungen, das Bewusstsein einer Person in seinen unendlichen Facetten auszuleuchten. Dann gäbe es keine Geschichten mehr, sondern nur noch Psychogramme, die auch ein Psychologe hätte schreiben können. Es gibt diesen Grenzbereich zwischen Fiktion und Wirklichkeit, aus der sich die Verpflichtung des Autors ableitet, die Würde der Figuren und ihre Herkunft zu wahren. Jede Romanfigur hat seinen Urgrund in der Wirklichkeit, in einer oder mehrerer real existierende Personen. Wenn Autoren erzählen, sie haben eine Figur erfunden, lügen sie.

Ich skizziere die Figuren nur kurz, werde aber bei Ausgestaltung meines Textes meine Bedenken in Ehren halten.

Kira: Prostituierte aus Polen, die in einem abgewrackten Nebengebäude ihre Kunden empfängt. Jo und Lu begegnen ihr oft und wundern sich über ihr Erscheinungsbild. Kira steht oft rauchend und in aufreizender Bekleidung vor ihrer Wohnung. Es entsteht eine Art Freundschaft zwischen ihr und den Kindern, die Jahrelang anhält, bis Kira eines Tages einfach verschwindet.

Erhard der Penner, der in abgerissenen Klamotten in der Nachbarschaft abhängt und zumeist eine halbleere Bierflasche vor sich her trägt.

Friedrich, der Schrotthändler, der auf seinem Schrottplatz lebt.

Frau Kowalski, die alte Nachbarin, Rentnerin über achtzig, die schon leicht dement ist und in ihrer Messiewohnung lebt.

Der Hausmeister der Spedition, der die Kinder immer verscheucht und anbrüllt….

Die Frau vom Jugendamt, die nach dem Verschwinden der Mutter die Familie betreuen will und daran scheitert, weil sich Johannas Vater nicht helfen lassen will. Schließlich gibt sie auf.

Die Direktorin der Grundschule: Jo hat trotz aller Widrigkeiten gute Noten. Die Rektorin sorgt trotzdem dafür, dass Jo nur in die Hauptschule/ Realschule kommt, weil sie aufgrund des sozialen Umfelds Jo in eine Schublade steckt und ihr nicht zutraut, aus dem Übel heraus zu kommen.

Ihre einzige Schulfreundin, die sie seit der ersten Klasse begleitet und die sich immer wieder begegnen. Ihre Familie ist das Gegenbild zu Jos Umfeld. Die Eltern sind Akademiker, Aufsteiger, die mit großen Auto und Haus in der Innenstadt protzen und denen das aber nicht reicht. Ihre Tochter soll es einmal noch besser haben und die besten Chancen erhalten und dementsprechend treiben sie ihre Tochter vor sich her. Ihre Tochter wird sich gegen sie stellen.

Somit habe ich schon ein großes Portfolio an Personen. Aus dem Reservoir an Charakteren kann ich mich bei der Entwicklung der kompletten Handlung bedienen. Ich werde aus den Verhaltensweisen der beschriebenen Personen den Plot stricken. Sie sind der Wollfaden, mein Grips und die Tastatur sind die Stricknadeln und ab und zu wird mir eine Masche herunterfallen und ich muss mir etwas Neues einfallen lassen. Das heißt aber auch, dass die eine oder andere Nebenfigur wegfallen wird, andere Personen hinzukommen oder sich anders darstellen, wie oben beschrieben.

Charakterisierung der Hauptpersonen und deren Vorgeschichte I:

Olaf Sommer (Vater):

Olaf ist ein gutmütiger Zeitgenosse. Er ist nie aus seiner Heimatstadt herausgekommen und kommt aus einem Arbeiterviertel. Aufgewachsen ist Olaf zwischen Mietskasernen aus den Sechzigern. Der soziale Wohnungsbau hat homogene Viertel hervorgebracht. Alle Häuser sehen gleich aus und wurden auf den immer gleichen Grünflächen drapiert, Wäscheständer und Sandkasten inklusive. In seiner Jugend gab es wenig soziale Probleme. In den Jahren der Vollbeschäftigung war es den Menschen möglich, sich ein wenig Wohlstand zu erwirtschaften: Einbauküche, Farbfernseher, Mittelklasseauto, Schrebergarten und der Pauschalurlaub am Mittelmeer. Olaf ist behütet aufgewachsen, mit dem Anrecht auf ein bescheidenes Mittelklasseleben, dessen Verlauf schon vorgegeben war. Arbeit, Familie, Rente, Tod. Er hat eine Lehre beim ortsansässigen Industrieunternehmen gemacht und brauchte nie den Arbeitgeber zu wechseln. Arbeit ist mehr als genügend vorhanden. In der Industrie wird in drei Schichten gearbeitet, durchgehend, auch Wochenends und Feiertags. Außerhalb der Arbeit führt Olaf ein angenehmes Leben. Die Mutter bekocht ihn, der Vater kümmert sich um seine Angelegenheiten. Den Umgang mit Bürokratie bringt ihm niemand bei. Daher machen ihm lange Briefe von Behörden Angst und dorthin gehen mag er schon gar nicht. Olaf ist unbedarft und verzichtet auf viele Ansprüche, weil er fürchtet, sich im Wirrwarr der Bestimmungen und Paragraphen zu verlieren. Sich gegen die Obrigkeit, vertreten durch Ämter, Beamte und Behörden, zu behaupten, kommt für ihn nicht in Frage. Sein größter Traum ist es, ein eigenes Haus zu besitzen. Er möchte seine Eltern überflügeln, die mit einer sauberen Mietwohnung im sozialen Wohnungsbau zufrieden sein mussten. Die muffige Enge der Mietskaserne, der Kehrpläne und Gemeinschaftsräume will er überwinden, um seiner Frau und seinen Kindern etwas bieten zu können. Hier beginnt das erste große Missverständnis zwischen ihm und seiner Frau, die zu labil ist, um sich für einen solchen Traum aufzureiben.

Nennen wir die Kinder doch beim Namen

Als nächstes beschäftige ich mich ausführlich mit den Personen. Zwei wichtige Personen habe ich schon genannt und ihnen Rollen zugewiesen. Es geht im Folgenden darum, den Personenkreis zu erweitern und diese Personen lebendig werden zu lassen. Dazu gehören Details wie Namen, Charakterbeschreibungen und die Historie jeder Person. Es ist überaus wichtig, ihnen Leben einzuhauchen und dazu gehören nun einmal auch die Herkunft und die Einflüsse, die einen Menschen prägen. Für mich hat es sich als praktisch erwiesen, eine Art Dossier zu jeder Person zu entwerfen. Dabei erstreckt sich diese Feinarbeit auf Hauptpersonen und wichtigen Nebenfiguren. Alles andere führt zu weit und ist wieder kontraproduktiv. Am Ende entsteht ein eigener Mikrokosmos, der die Grundlage für die Entwicklung der Handlung darstellt. Meine Arbeit beginne ich, indem ich mir einen Kreis an Hauptpersonen überlege. Anfangs sind das drei bis fünf Personen. Nach und nach kommen noch ein paar Hauptpersonen hinzu. In diesem Fall ist es einfach: Im Mittelpunkt steht eine Familie. Also: Mama, Papa, Kinder. Sollen es mehrere Kinder sein? Sohn und Tochter oder nur Töchter? Die Hauptperson soll am Anfang der Erzählung ca. 12 Jahre alt sein. Erfahrungsgemäß sind die ältesten Kinder einer Familie am meisten von Konflikten in der Familie betroffen. Sie fechten viele Konflikte für die jüngeren Kinder aus. Sie sind oft diejenigen, die den Streit der Eltern am ehesten zu spüren bekommen, weil niemand älteres da ist, der sie beschützt und ihnen Rat geben kann. Zumeist haben sie die Verantwortung für ihre jüngeren Geschwister. Also bekommt die Hauptperson ein jüngeres Geschwisterkind an die Seite gestellt. Wir nehmen ein Mädchen, das etwas jünger ist, so etwa sechs bis acht Jahre alt. Die Familie besteht aus einem Vater, Mutter und einer Tochter 12 Jahre alt und einer Tochter acht Jahre alt. Ich modelliere erst einmal diese vier zentralen Figuren und erarbeite mir den Familienkosmos. Die Verbindungen und Vernetzungen zwischen den vier Personen müssen vor dem Schreiben schon deutlich erkennbar sein. Z.B. welche Tochter ist ein Vater- oder Mutterkind? Wie fasst die Mutter ihre Rolle in der Erziehung auf? Ist der Vater mit seiner Position in der Familie glücklich? Wie sieht diese aus? Aber am Anfang steht erst eine ganz banale Angelegenheit: Die Menschen brauchen Namen. Ein heikles Thema. Es gibt durchaus Autoren, die die Namen ihrer Figuren mit einer Symbolik beschweren. Das bekannteste Beispiel: Die Ehre der Katharina Blum von Heinrich Böll. Dazu muss man sagen, dass ich nie ein großer Böll-Fan war. Die meisten deutschen Autoren aus der Nachkriegszeit, egal ob Gruppe 47 oder nicht, langweilen mich auf die eine oder andere Weise. Katharina Blum soll unschuldig und vielleicht sogar etwas naiv klingen, naturnah und rein. Wenn man Angelika Winkler in der Verfilmung sieht, denkt man, dass der Regisseur nicht viel von der Namensgebung gehalten hat. Sie wirkt verstört und gebrochen, anstatt naiv und verletzlich. Mit der Symbolik nehme ich es nicht sonderlich ernst. Es sollten in dem Fall der Familie bodenständige Namen sein. Namen, die typisch zu der Zeit der Geburt der Personen war, verbunden mit einem gewöhnlichen häufig vorkommenden Nachnamen. Dahinter steckt nicht die Überlegung die Namen mit Symbolen oder einer Konnotation aufzuladen. Diese Familie ist nicht aus der Zeit gefallen. Sie soll die Auseinanderentwicklung der sozialen Schichten repräsentieren und deswegen sind es Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die nun einmal nicht Baronin von und zu heißen. Das junge Mädchen wird als Erwachsene für die Ausübung ihres Berufes als Schriftstellerin einen Künstlernamen benutzen, der natürlich abgefahren und interessant klingen muss.

Name der Hauptperson:

Jo (hanna) Sommer Hauptperson Künstlername: Alethea Cumberland

Lu (isa) Sommer Schwester

Olaf Sommer Vater

Kerstin Sommer Mutter