Reihe 3, Platz 58 + 59, Woyzeck von Georg Büchner

Wir haben es eilig und betreten das Theater kurz bevor die Türen geschlossen werden. Wir haben erst ziemlich spät mitbekommen, das Vorstellungen am Sonntag schon um 18.00 Uhr beginnen. Wie immer drängeln wir uns durch die Sitzreihe und machen uns bei unseren Nachbarn unbeliebt.

 Unsere Sitznachbarin begrüßt uns freundlich zur neuen Spielzeit. Wir sitzen schon einige Jahre nebeneinander und stellen fest, dass wir schon seit 2006 Besitzer des Platzes 58 und 59 sind und unsere Nachbarn kurz nach uns ein Abonnement ergattert haben. Wir sind also schon fest verwoben mit der Institution Stadttheater und so wie man Beamter auf Lebenszeit wird, wird man in der öffentlichen Einrichtung Stadttheater auch Abonnent auf Lebenszeit.

 Stücke wie „Woyzeck“, ein Klassiker des deutschen Theaters, oft aufgeführt, verfilmt und auch gelegentlich mal durch den Kakao gezogen, reizen mich wenig. Die Story kennt jeder: der Soldat Franz Woyzeck versucht sich, seine Freundin Marie und ihr gemeinsames uneheliches Kind finanziell über Wasser zu halten, in dem er seinen Sold durch Frondienste für seine Vorgesetzten und als Versuchskarnickel für einen Arzt aufbessert. Dann tritt der Tambourmajor in Erscheinung, ein eitler Frauenheld, und verführt Marie. Als Woyzeck von ihrem Verhältnis erfährt, meuchelt er Marie bei einem Abendspaziergang am See, der Mond blutrot am Horizont…

 Georg Büchner hat in seinen 23 ihm zur Verfügung stehenden Lebensjahren nur wenige literarische Werke produzier, war er doch nebenbei noch Revoluzzer und angehender Arzt. Alles was wir von ihm kennen, besteht aus wenigen Grundzutaten. Es gibt immer ein unausweichliches Schicksal, dass durch das soziale Umfeld bestimmt wird und immer zur Katastrophe führt. Die Natur ist der bedrohliche Begleiter und Urgrund des Wahnsinns.

 Büchner hat seine Werke im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts zu Papier gebracht und bereitet vieles vor, was ein paar Jahrzehnte später total angesagt sein wird.

 Aber die Zukunft der Moderne ist ja schon wieder Vergangenheit und auch die Postmoderne ist schon irgendwie vorbei. Also was liegt nahe: Wir machen aus dem Stück ein Musical.

 Oh Gott, nicht schon wieder!! In den Spielzeiten davor haben wir einige Inszenierungen erlebt, die durch Gesang und Musik eine Erweiterung erlebt haben. Aber Woyzeck als Musical? Die Idee ist nicht neu und wurde 2000 in Kopenhagen uraufgeführt. Kein geringerer als Tom Waits hat zusammen mit seiner Ehefrau Kathleen Breenan die Musik und Texte geschrieben und das Konzept zur Inszenierung stammt von der Theaterikone Robert Wilson.

 Ich bin schon seit 1985 ein heimlicher Tom-Waits-Verehrer. „Rain Dogs“ sein Album, mit dem er endgültig seinen Durchbruch in Deutschland schaffte, faszinierte mich damals. Die Art wie dort Musik zelebriert wurde, die schräge Instrumentierung mit Marimba und Tuba und einer hellen aufdringlichen Jazz-Gitarre, die sich mit chromatischen Singlenotes durch die Arrangements knödelt, die raue Stimme, die je nach Song, fies bösartig aber auch melancholisch, fast zärtlich klingen konnte, war einzigartig und entsprach damals keinem gängigen Genre. Ich war gerade auf den Thrash-Metal-Trip und es fiel mir schwer, meine Zuneigung zu Tom Waits öffentlich auszuleben. Aber wenn ich in einer gewissen melancholischen und leicht depressiven Stimmung bin, verliere ich mich nur zu gerne in den Songs von Tom Waits.

 Tom Waits hat die Songs aus dem Stück „Woyzeck“ unter dem Titel „Blood Money“ aufgenommen. Die Aufnahme sollte man sich anhören. Sie klingt kein bisschen nach Musical. Tom Waits räuspert und grunzt sich durch die bissigen und zynischen Texte. Gerade am Titelstück „Misery`s the river of the world“ kann man gut erkennen, wie Waits das Theaterstück verstanden haben will.

„If there’s one thing you can say about mankind. There’s nothing kind about man. You can drive out nature with a pitchfork. But it always comes roaring back again.“

 Hat man in Gießen die Botschaft umgesetzt? Ich glaube schon. Das Bühnenbild wie immer schlicht: Am Ende einer treppenförmigen Terrasse hat man die Band positioniert. Sie thronte über dem Publikum, schemenhaft konnte man die Musiker erkennen. Die Instrumentierung wurde vom Original übernommen. Die Schauspieler klebten mit unterschiedlichen Intensitäten an ihren Rollen. Am einen Ende des Spektrums der wehleidige Hauptmann als Karikatur vorgetragen, ähnlich wie der Doktor, Franz Woyzeck am anderen Ende, sehr intensiv allmählich dem Wahnsinn verfallend.

 Woyzeck existiert in seiner Urform nur als Fragment. Wahrscheinlich schreit es deswegen nach Erweiterungen und mit den Songs und der Musik wurde dem Fragment neue Aspekte hinzugefügt, die die Grundaussage verstärken.

  Als ganz nebenbei der Satz fiel, “Jeder Mensch ist ein Abgrund; es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.“, lief es mir kalt den Rücken herunter. Für mich ist dieser Satz der wichtigste in dem ganzen Stück. Jede Figur in dem Stück macht sich schuldig und man fragt sich die ganze Zeit, nach dem Warum. Es gibt keine Erlösung für Niemanden. Daher ist der Pessimismus mit dem die Musik dem Stück beikommen möchte nur folgerichtig und eher erhellend.

 Alles in Allem ein intensiver Theaterabend, der einem noch die letzte Zuversicht genommen, gerade wenn man bedenkt, dass wir die Aufführung am 15.10. besucht haben und eine Woche vorher die Hamas in Israel gewütet hat. Schwere Zeiten, wie immer und Franz Woyzeck ist ein Soldat und kein Mensch…  

6 Gedanken zu “Reihe 3, Platz 58 + 59, Woyzeck von Georg Büchner

  1. Manchmal fallen Geschehnisse auf merkwürdige Weise zusammen, wie diese, dass ich gerade mit viel Mühe eine Klausur zum Woyzeck zusammenstellte und dann plötzlich dein interessanter Bericht zur Inszenierung auftauchte. Bestimmt gibt es Clips bei Youtube, die schau ich mir gleich mal an.

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