Die alte Heimat

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St. Urban in Fischern

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Der alte Ortskern von Fischern

Mein Vater hat seine ersten Lebensjahre in Fischern, dem heutigen Rybáře, verbracht. Dort steht die Kapelle St. Urban.  Als im Jahre 1820 ein Sturm das Dach der Kapelle wegriss, hat man das Dach nicht repariert. Die Kapelle war zu klein, um dort Gottesdienste abhalten zu können. Die Kapelle wurde der Stadt übereignet und sich selbst überlassen. Nach dem ersten Weltkrieg hat man unterhalb der Kapelle ein Gefallenendenkmal für die Opfer des 1. Weltkrieges errichtet. Als 1939 die sudetendeutschen Gebiete und damit auch Fischern heim ins Reich geholt wurde, hat man das Gefallenendenkmal gegen eine Gedenkstätte für die nationale Befreiung ausgetauscht. Als der zweite Weltkrieg vorbei war, die Gedenkstätte der Nazis  nicht mehr erwünscht war, hat man die Kapelle der roten Armee geweiht. Das Kreuz auf dem kleinen gedrungenen Turm hat man durch einen fünfzackigen roten Stern ersetzt. In den sechziger Jahren sollte die Kapelle abgerissen werden. Obwohl das Gebäude schon lange nicht mehr als Gotteshaus genutzt wurde, war es den Sozialisten als Ort der Religion ein Dorn im Auge. Kluge Menschen hatten herausgefunden, dass die Kapelle nicht erst im sechzehnten Jahrhundert gebaut worden war, sondern schon einige Jahrhunderte älter war. Somit wurde es zum Kulturdenkmal und man durfte das Gebäude nicht einfach abreißen. Man hat St. Urban wieder sich selbst überlassen. Die Kapelle verfiel. Nach dem Ende des kalten Krieges hat ein Unternehmer die Kirche gekauft und als Sicherheit an eine Bank übereignet. Alle Bestrebungen die Kirche zu restaurieren wurden jahrelang durch Rechtsstreitigkeiten verhindert, bis es der Stadt gelang, das Gelände wieder zu übernehmen. Aktuell wird die Kapelle rekonstruiert.

Die Kapelle hat die Jahrhunderte überdauert, obwohl sie in regelmäßigen Abständen als ideologische Projektionsfläche missbraucht wurde. Genauso wie die Kapelle haben Rybare, Tschechien und Europa die letzten zwei Jahrhunderte überdauert. Kriege, Revolutionen, Katastrophen, Demagogen und Fanatiker haben an diesem Kontinent gezerrt. Sie haben alles gegeben, um ihn in seinen Grundfesten zu zerstören.

Ich rede seit ca. 12 Jahren nicht mehr mit meinem Vater. Trotzdem fühle ich mich ihm verbunden. Warum ich mit meinen Vater nicht mehr spreche, hat keine Bedeutung. Das ich nicht mehr mit ihm spreche, hat durchaus mit den Ereignissen rund um seiner „alten“ Heimat zu tun. Mein Vater war wahrscheinlich drei oder vier Jahre alt, als er mit seiner Mutter und seinen drei Brüdern aus Fischern vertrieben wurde. Die Ideologen hatten damals die Oberhand und viele Menschen zu Opfern oder Tätern werden lassen. Wichtig ist, dass wir heute alle in einem geeinten und friedlichen Europa leben und uns mit unserer gemeinsamen Geschichte auseinander setzen. Dazu gehört, dass ich mir die Frage stelle, was Flucht und Vertreibung, Hass und Ausgrenzung mit Menschen macht. Früher hat mein Vater mir hin und wieder von seiner „alten“ Heimat berichtet. Kleine Splitter einer unfassbaren Wirklichkeit, deren psychische Wirkung auf sich selbst er nie hätte beschreiben können. In ihrer neuen Heimat waren mein Vater und seine Familie nicht willkommen. Er wuchs ohne Vater auf, dessen Tod etwas Geheimnisvolles an sich hatte und musste früh für sich selbst sorgen, da seine Mutter selbst lange um ihre wirtschaftliche Existenz kämpfen musste. Mit  vierzehn verließ er die neue Heimat, um bei seinem Onkel in die Lehre zu gehen. Er musste während seiner Kindheit und Jugend zweimal um die Zugehörigkeit zu einem Ort und einer Familie bangen. Mein Vater hat viel geredet und in seinem Redefluss blitzte immer wieder der Wunsch durch, zu Verstehen und verstanden zu werden.  Ihm fehlten die Mittel zur Reflektion. Der Verlauf seiner Jugend war zu wechselvoll und belastend, um sich selbst seiner Identität gewiss zu sein. Als Vater habe ich ihn oft ungehalten und als ungerecht erlebt und trotzdem hat er versucht, liebevoll zu mir zu sein. Er hat sich als Erwachsener etwas aufbauen können: Er hatte einen Beruf, eine Familie, ein Haus, ein Auto, Beständigkeit. Veränderungen, die von außen an ihn heran getragen wurden, sah er als Gefahr. Er war ein Pessimist, der immer glaubte, man könne ihm das Erreichte einfach wegnehmen. So wie er es in jungen Jahren erlebt hatte, dass das Leben etwas mit ihm macht und er sein Leben nicht gestalten kann. In absoluter Hoffnungslosigkeit hat er die Katastrophe erwartet, die niemals über ihn hereingebrochen ist. Als Rentner wurde er depressiv und lethargisch. Man hatte ihm die Arbeit, das einzige Mittel zu Selbstbestätigung, weggenommen. Später wurde erkrankte er ernsthaft. Damals kam der Bruch zwischen uns und heute wüsste ich gerne, wie er es geschafft hat, den Kampf um sein Leben zu gewinnen. Ich glaube nicht, dass er Frieden mit seinem Leben und seiner Geschichte geschlossen hat. Er wird viel darüber nachdenken. Aber seine Gedanken werden sich im Kreise drehen.

Ich habe das Glück, in Wohlstand und Frieden aufgewachsen zu sein. Ich bin es meinem Vater schuldig, mich von seinem Trauma zu lösen und ein anderes Leben zu führen. Nach meinem Verständnis gehört es auch dazu, mich mit seiner Vergangenheit und Herkunft auseinander zu setzen. Er selbst hat den Ort seiner frühesten Kindheit nicht besucht. Wenn ich mit ihm darüber redete, wich er aus. Wahrscheinlich hatte er sich selbst lang genug eingeredet, dass es dort für ihn nichts zu finden gab.

Also habe ich mich auf Spurensuche begeben und bin mit meiner Familie vor Ostern nach Karlory Vary, früher Karlsbad, dem Geburtsort meines Vaters gefahren. Wir haben uns für zwei Tage eine Ferienwohnung gemietet und haben uns die meiste Zeit wie Touristen verhalten. Der alte Wohnort meines Vaters ist heute ein Vorort von Karlsbad. Mit dem Stadtbus braucht man zehn Minuten nach Fischern. Ich habe dort erwartet, Spuren meiner Herkunft zu finden. Ein Name, ein Hinweis, ein Gebäude, ein Grab, irgendetwas was man mit meiner Vater in Verbindung bringen konnte. Es gab dort nichts zu finden. Das Rad der Geschichte hat sich weiter gedreht. In Fischern gibt es zwar Gebäude aus der Vorkriegszeit, allerdings hat sich der Ort in den letzten siebzig Jahren stark verändert. Zum Kriegsbeginn lebten dort ca. 3000 Menschen, heute sind es ca. 10.000. Man hat rund um den alten Ortskern neue Wohnburgen gebaut. Wohnriegel, wie ich sie aus meiner Heimatstadt auch kenne.

Einen Moment lange habe ich befürchtet, dass die Herkunft meines Vaters auch für mich zum Trauma wird. Eine Konfrontation mit den Fragen, vor denen mein Vater Angst gehabt hätte. Ich habe dagegen in Rybáře ein Ort gefunden, mit einer Geschichte, die sich um Kriege, Revolutionen, Ideologien und Fanatiker dreht. Ein Ort, an dem ich gerne zurückkehren werde, weil er in meiner Heimat Europa liegt. Ein Ort, der mich in meiner Ansicht bestätigt hat, das es ist gut ist, in Europa zu leben, weil wir uns frei bewegen können und dass es sich lohnt um die Freiheit, um Europa zu kämpfen und nicht zu warten, bis Fanatiker und Ideologen Europa wieder einmal zerstören wollen und Menschen mutwillig dem Trauma aussetzt, das der Verlust von Zugehörigkeit und Herkunft in ihnen zwangsweigerlich auslöst.

 

  

 

 

2 Gedanken zu “Die alte Heimat

  1. Intensiver und zugleich liebevoller Einblick in ein prägendes Schicksal der Elterngeneration. Da sich vor allem verdrängte Erfahrungen m. E. auch immer auf Kinder und sogar Enkel auswirken, finde ich es gut, dass du dich dem gestellt hast. Dieses Erlebnis und der offene Umgang damit könnte sich trotz Funkstille sogar positiv auf deinen Vater auswirken. Ich habe so etwas schon erlebt.

    • Vielen Dank! Mir war es ein Anliegen, mich zu öffnen und ich habe lange überlegt, wie ich es anfangen soll. Darum freut es mich, wenn es Anklang findet. Natürlich hoffe ich immer, dass mein Vater doch irgendwann wieder den Kontakt mit mir aufnimmt…..

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