Das war es dann mit der Neuen Neuen Galerie. Wenn man durch den Treppenflur hinausgelangt, kommt an Büros der Diakonie vorbei. Hier betreut man unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Böse Zungen können jetzt behaupten, dass dieser Weg nur dazu dient, um doch etwas mehr aktuellen Zeitbezug in die Documenta zu bringen. So als Deckmäntelchen für die viele alte Gegenwartskunst, die man auch an diesem Standort der Documenta vorgefunden hat. Die Neue Neue Galerie wird trotzdem ihrer Funktion als heimlicher Hauptort der Documenta gerecht.
Weiter geht’s. Wir laufen in das Univiertel und nehmen somit den falschen Weg. Wir wollen zur Gottschalk-Halle. Das schöne Wetter ist entschwunden. Mittlerweile regnet es und als wir an der Halle ankommen, schüttet es aus allen Kübeln. Die Installation in der ehemaligen Versand- und Packhalle wirkt fast wie eine realsatirische Inszenierung moderner Kunst. Vielleicht sind wir auch zu einfältig, um den tieferen Sinn zu verstehen. Es soll angeblich um Flucht und Vertreibung gehen, aber überall in der düsteren Halle liegen Geldhaufen herum und dazu liegen Plakate aus, die Geschichten über Münzen erzählen. Dazu erklingen verfremdete Geräusche einer Akustikgitarre und eines anderen unidentifizierbaren Saiteninstrumentes. Henrike inspiziert die Geldhaufen und stellt fest, dass das Geld nicht befestigt ist. Wir könnten uns also einfach die Säcke vollmachen. Wir bleiben nur kurz, denn bald hört es auf zu regnen. Wir laufen weiter und geraten ins Niemandsland und auf die holländische Straße. Am Halitplatz (nach dem getöteten jungen Mann aus dem Internetcafe benannt, dass in der Nähe des Platzes lag) wollen wir wieder in die Straßenbahn steigen, um zum Hauptbahnhof zu laufen. Wir sprechen über den Verfassungsschutz und seine unrühmliche Rolle in der NSU-Affäre. Wir stellen gemeinsam fest, dass die Sache stinkt und der Verfassungsschutz wohl Kontakt zur NSU haben musste. Wahrscheinlich haben sie die drei Mitglieder der NSU falsch eingeschätzt und dachten, dass sie diese für ihre Zwecke benutzen können und wahrscheinlich war es umgekehrt. Um das zu vertuschen, hat man die Geschichte um den Verfassungsschutzmann im Internetcafe absichtlich herunter gespielt. Eine Theorie, die für uns erschreckend einleuchtend klingt. Aber wie es immer mit den Langhüten und Spionen ist, sie sind undurchschaubar und haben etwas Gefahrbringendes an sich. Mich erinnert es an den Kennedymord. Auch hier vermutet man, dass Geheimdienste involviert waren. Aber man kann es nicht beweisen. Aber wir wollen nicht zu linken Verschwörungstheoretikern werden und messen dem Ganzen nur eine Singularität zu, in der Hoffnung, dass es in Zukunft nicht an der Tagesordnung sein wird, dass der Staat sich selbst aushebelt.
Wir reisen mit der Straßenbahn zur Kurt-Schumacher-Straße. Die Kurt-Schumacher-Straße liegt am Rand der Innenstadt. Schon von weitem sieht man ein ziemlich abgefucktes Bürogebäude und die dazugehörigen Glaspavillons. Gegenüber liegen Backsteinmietskasernen. Zuerst trifft der Blick auf verrammelte Türen, eingeschlagene Fenster und Wandschmierereien. Die Pavillons stellen kleine Vorbauten dar, die als Läden genutzt wurden und nun leer stehen. Auch hier ein Rentiergedächtnisraum und in einem anderen Pavillons die abwesende Seifenmacherin, mit der man doch gerne über Produktionsmittel spräche und die auch hier hübsch aufgestapelt ihrer schwarze Seife hinterließ. In einem dritten Ausstellungspavillon die selbstgebrannten Metallknödel, die es schon in der Neue Neue Galerie gab. Das ist das Problem dieser Documenta. Nichtssagende Elemente depressiv gestimmter Gegenwartskunst werden bis zum Erbrechen zelebriert und damit die interessanten Themen überblendet. Im Hintergrund der Pavillons hat man eine syrische Bäckerei nachempfunden, die Ende der Achtziger im Laufe des syrisch-libanesischen Krieges zerstört wurde. Der Sohn des Bäckers erzählt die Geschichte der Bäckerei in einer Wandinschrift und irgendwie wird man das Gefühl nicht los, dass in Syrien die Assad-Familie schon immer gerne Kriege vom Zaun gebrochen hat und die Bevölkerung einem ständigen Zerstörungstrauma ausgesetzt ist.
Wir fahren zum Mauerstraße, besorgen uns im Rewe etwas zu essen, gehen in die Passage und ich hole mir asiatisches Fastfood. Henrike zieht weiter zum Documentashop auf dem Friedrichsplatz und ich hole mir einen zweiten Kaffee im Starbucks. Im Documentashop ist die Hölle los. Es ist mittlerweile Mittag und die Ausstellungsorte haben sich mit Menschen gefüllt. Das Wetter ist wieder besser geworden. Die Sonne scheint warm, feuchte Luft steigt vom Boden auf. Henrike kauft ein Plakat. Ich brauche ein Zeugnis meines Besuchs und für die Kinder benötigen wir ein paar Mitbringsel.
Auf zur vorletzten Station. Vor dem Hauptbahnhof steht ein Container, in dem sich der Abgang zu einem ehemaligen unterirdischen Bahnsteig befindet. Unten angekommen packt mich der Hunger und knabbere ein paar meiner mitgebrachten Erdnüsse. In einem Raum gibt es eine Videoinstallation, die eine Schulklasse zeigt, die von ihrem Lehrer frontal beschallt wird. Irgendeiner Schüler gibt ein aufmüpfigen Satz von sich und ein anderer Schüle fühlt sich dazu berufen, in auflehnender Pose Widerworte zu geben. Plötzlich stehen alle Jugendliche auf ihren Stühlen, bewerfen den Lehrer mit Büchern und brüllen ihn an. Als das Getöse fast unerträglich ist, fängt der Film wieder von vorne an. Ich bin so in dem Film versunken, dass ich nicht merke, wie mich eine Documentaangestellte am Ellbogen packt. Ich schrecke auf. Ich darf hier nichts essen. Henrike lacht mich aus. Ist mir wirklich unangenehm. Um der Peinlichkeit zu entfliehen, gehen wir über die stillgelegte Rolltreppe hinab zum Bahnsteig. Dort ist im hinteren Bereich eines der bekannteren Werke der Documenta zu finden. Auf einigen Bildschirmen werden verschiedene Filme und Bilder gezeigt. Auf einem rezitiert man Sätze zum Thema der Sklaverei. Ein anderer Bildschirm dient dazu militärische Szenen zu zeigen. Mittendrin Texte aus den Sozialen Medien. Ganz oben rechts Jeff Koons und Cicollina beim Geschlechtsverkehr. Wir schauen uns das ein paar Minuten an und die vielen Bildschirmen und die zahllosen Bilder verwirren mich. Ich beschließe, es mir einfach zu machen und schaue auf den Bildschirm in der oberen Ecke. Man zeigt dort noch andere pornographische Häppchen. Henrike erzählt mir später, dass auf einem anderen Bildschirm widerliche Gewaltszenen gezeigt wurde. Ich habe sie nicht wahrgenommen. Pornos haben so etwas Beruhigendes.
In der Mitte des Bahnsteiges steht ein Nomadenzelt. Ein Künstler ist quer durch Europa gereist, um andere Künstler und Musiker zu treffen, um einfachen Menschen zu begegnen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Darüber hat er einen Film gedreht, der in diesem Zelt gezeigt wird. Mehr gibt es nicht zu bestaunen, außer Plakatwände, die zuletzt in 2005 mit ZDF-Werbung bestückt wurden (mit dem zweiten sieht man besser). Wir können den Gleisen folgen und verlassen so den Bahnsteig. Draußen empfängt uns ein Banner auf Griechisch. Ein unerwartetes Kunstwerk. Im ersten Weltkrieg haben Deutsche griechische Soldaten, deren Status unklar war (man behandelte sie wie Gäste, aber eigentlich waren es Kriegsgefangene) nach Görlitz gebracht und dort in einem Lager interniert. Die Soldaten hatten trotzdem die Möglichkeit sich frei in Görlitz zu bewegen und wurden wie Gäste behandelt. Aber nach Hause ließ man sie nicht. Das Banner ist dem Banner empfunden, dass vor dem Lager in Görlitz stand und Besucher willkommen heißen sollte. Wir gehen ein Stück den Gleisen entlang und landen auf einem Platz im Nirgendwo. Unweit des Nirgendwo finden wir eine Bushaltestelle, die uns wieder in die Innenstadt gebracht hat.
Die letzte Station lag an der schönen Aussicht, eine kleine Promenade, die Friedrichsplatz und Grimmwelt verbindet. Allerdings bildete sich vor der Neuen Galerie eine unmöglich lange Schlange, der wir uns nicht anschließen wollten. Wir hatten noch eine Stunde Zeit und wollten sie nicht mit Warterei verbringen.
Wir liefen zur Grimmwelt und beschlossen spontan dort hinein zu gehen. Henrike gab ihre Tasche ab. Der junge Mann im Gaderobencontainer war äußerst unfreundlich. Er würdigte uns keines Wortes und Blickes und auch andere Besucher strafte er mit Nichtbeachtung. Wie eine Maschine packte er die Taschen und suchte für sie einen Platz. Henrike vermutete, dass der Junge taubstumm sei oder der Teil einer äußerst ausgefuchsten Perfomance. Oh je, auch hier, alter Trödelkram. Die Seiten eines Szenenbuchs, alle einzeln in Glaskästen zur Schau gestellt. Kinderbücher eine Jüdin, die sich Tom nannte, weil sie ein Identitätsproblem hatte, die mit Sigmund Freud verwandt war und sich in den dreißiger Jahren das Leben nahm, kurz nach dem sich ihr Mann umgebracht hatte. Der Grund: Geldprobleme. Seufz, ist das alles traurig. In einem anderen Kontext, hätte mich die Lebensgeschichte dieser Frau interessiert. Ansonsten spüre ich den Mangel am Sauerstoff in diesen Räumen und muss gähnen.
Wir gehen zum Museum für Sepulkralkunst. Im Garten des Museums liegt besagter Schwurstein. Wir machen uns einen Spaß und heben beide den Stein hoch. Henrike will sich unbedingt mit ihm fotografieren lassen. Danach atmen wir noch einmal tief durch, gehen über den Weinberg zurück zum Hotel und fahren heim.
Hier bin ich nun auf der Flucht vor der Darstellung einer tieftraurigen Gegenwart, die beeinflusst wird von einer tieftraurigen Vergangenheit und es ist mir jetzt klar vor Augen: Die Zukunft wird nicht besser. Warum nicht den Wagen in die Leitplanken lenken? Dann wäre alles vorbei. Aber dann könnte ich auch die Documenta 15 nicht besuchen, um mich am alten und neuen Leid der Gegenwartskunst zu laben.
Aber im Ernst: Kassel ist der richtige Ort für solch ein Ereignis. Ein übersichtlicher Platz mit vielen Facetten. Eine Großstadt mit ihren prallen Sehenswürdigkeiten kann den Betrachter von dem Blick auf die Kunst ablenken. Die verschiedenen Ausstellungsorte haben die verschiedenen Facetten der Stadt sichtbar gemacht. Barockgebäude, Bauhaushalle, alte Fabrikgebäude, modernistische abgenutzte Gebrauchsgebäude, Wiesen, Parks und Weinberge, alte Bahnstationen, zentrale Einkaufsstätten, alles vertreten was diese Stadt ausmacht und was die Provinz trotz allem Gelaber von der ach so tollen Urbanität, so interessant macht. Aber bitte liebe Kuratoren: Das nächste Mal mehr Spaß und Freude am Dasein zeigen und nicht so viel alten Trödelkram aus der Urzeit der Gegenwartskunst zeigen. Dann bleiben wir Freunde und ich und Henrike kommen wieder.