Heimat

Zwei weitere Autoren gilt es noch vorzustellen. Beiden ist gemeinsam, dass sie sich an der hessischen Provinz abgearbeitet haben: Andreas Maier und Roderich Feldes.

Roderich Feldes Texte haben als Schauplatz zumeist das mittelhessischen Hinterland. Er ist 1996 gestorben. Leider viel zu früh. Vielleicht ist dies ein Grund, warum er als Autor nie die Popularität erhielt, die er verdient hätte.

Der Kern seiner Texte dreht sich oft um die Veränderung des dörflichen Lebens in Mittelhessen beschäftigt. Das Dorf als Anker für die Gemeinschaft der Einheimischen veränderte sich in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts radikal. Eine abseits liegende Welt öffnet sich. Mit dem einkehrenden Wohlstand übernimmt sie unreflektiert alle äußeren Einflüsse und passt sie auf die Heimat an. Die Straßen und Häuser werden größer und breiter. Überall werden Wohngebiete aus dem Boden gestampft. Alle bauen schicke Einfamilienhäuser, parken ihre kleinen Autos davor, stellen sich den Fernseher ins Wohnzimmer, sammeln dort den Plunder aus den Fabriken dieser Welt und vereinzeln sich. Die Gemeinschaft stirbt zugunsten des Konsums. Es zählt nur das Glück des Einzelnen, dass dieser niemals erreichen kann, weil der Besitz vieler Dinge nur scheinbar Zufriedenheit schenkt. Feldes Bücher handelten oft vom Aufbrechen der Oberflächlichkeit. Unter einer dicken Kruste aus Belanglosigkeit schlummert die Sehnsucht nach etwas Anderem.

Feldes ist kein Heimatdichter. In diesem Sinne ist er mir sehr nahe. Er beobachtet die Veränderungen und weiß, dass sie nicht aufzuhalten sind. Das alte Leben kann man nicht retten, indem man es verherrlicht. Heimatdichter verklären die Vergangenheit. Feldes beschreibt die Orientierungslosigkeit der Menschen, deren Heimat ihnen keine Orientierung mehr gibt. Insofern ist er mein heimliches Vorbild bei meinem Projekt.

Roderich Feldes unterscheidet sich von sogenannten Heimatdichtern durch seine literarische Qualität. Genauso wie er die Veränderungen der Menschen und ihrer Umgebung durchdringt, widmet er sich der Ambivalenz der Sprache, die sich wie die Menschen verändert. Es gibt in unserer Gegend eine sehr starke Diversifizierung der Dialekte. Fast jeder Ort spricht eine kleine Abwandlung des Dialektes des Nachbarortes. Wer zwanzig Kilometer in den Westerwald hineinfährt wird das Platt der Leute dort schon fast nicht mehr verstehen. Aber seit zwei Generationen ist der Gebrauch der Dialekte deutlich auf dem Rückzug. Meine Kinder lernen kein Platt mehr und ich habe es zwar noch von meiner Großmutter gehört, aber selbst nicht sprechen gelernt. Diesen Umstand schlägt sich bei Roderich Feldes nieder. Er verwendet viel Alltagssprache, der hessische Dialekt unserer Gegend kommt nur am Rande vor oder wie in ‚Lilar‘ als Anekdote über das Verschwinden der Dialekte. Er beschreibt häufig aus der subjektiven Sicht eines Erzählers, der sich in einer Alltagssprache ausdrückt. Er fügt Beschreibungen hinzu, die wie literarisches Zierwerk wirken und den Text dadurch die nötige Qualität geben. Hier könnte ich von ihm profitieren. Veränderung wird nicht durch den allwissenden Erzähler referiert, sondern von dem Erzähler, der mitten drin steckt und die Veränderungen am eigenen Leib spürt und aus dieser Perspektive schreibt.

Andreas Maier hat sich in einigen Texten mit der Wetterau, seiner Heimat, auseinander gesetzt. Leider habe ich bisher nur ‚Wäldchestag‘, seinen Debütroman gelesen. Trotzdem sollte ich ihn erwähnen, denn in gewisser Weise beschäftigt er sich auf eine andere Art und Weise mit seiner Heimat als es Feldes getan hat.

Man bemerkt bei Maier, dass er aus einer anderen Schriftstellergeneration kommt wie Feldes. Feldes war geprägt von den Achtundsechzigern. Im Subtext schwelt immer die Kritik an einer entfremdeten Konsumgesellschaft. Bei Maier ist der gesellschaftliche Bezug nicht gegeben. In den Kritiken zu ‚Wäldchestag‘ wird immer wieder die sprachliche Verwandtschaft zu Thomas Bernhard bemüht. Maier hat das Buch im Konjunktiv geschrieben, was zur Folge hat, dass der Text genauso wie die Texte von Bernhard etwas distanziertes, wenig konkretes an sich haben. Es gibt viel Raum für Spekulationen. Hier hat Andreas Maier das richtige Mittel gefunden, da es sich in dem Buch auch viel um Gerüchte und Hörensagen dreht. Die Leute reden übereinander und stellen viele Vermutungen an. Man beschäftigt sich mit dem Anderen mehr als mit sich selbst. Maier geht es nicht wie Feldes, um die Veränderungen im Dorfleben, die zu einer übertriebenen Individualisierung führen, sondern um die Einheimischen, die die Dorfgesellschaft nur am Leben erhalten, um über die Mitmenschen herzuziehen. Viele Stimmen reden im Konjunktiv, alle sind gemein zueinander und wünschen dem Anderen nur das Schlechte. Beim Wiederlesen des Textes ist mir aufgefallen, dass Andreas Maier mich so beeindruckt haben muss, dass ich meinen zweiten Roman auch im Konjunktiv geschrieben habe, ohne dass mir dieser Bezug zu Maier bewusst war. Ich war der Meinung, das sei etwas Besonderes.

Also lerne ich von den beiden Heimatdichtern: Subjektivität schadet nicht. Thomas Bernhard ist immer und überall. Ironie und Boshaftigkeit ist die Realität des Lebens und vielleicht das geeignete Mittel gegen Sozialkitsch und man kann Romane über die Provinz schreiben und trotzdem Literatur auf höchstem Niveau produzieren.

 

 

 

 

Charakterisierung der Hauptpersonen und deren Vorgeschichte I:

Olaf Sommer (Vater):

Olaf ist ein gutmütiger Zeitgenosse. Er ist nie aus seiner Heimatstadt herausgekommen und kommt aus einem Arbeiterviertel. Aufgewachsen ist Olaf zwischen Mietskasernen aus den Sechzigern. Der soziale Wohnungsbau hat homogene Viertel hervorgebracht. Alle Häuser sehen gleich aus und wurden auf den immer gleichen Grünflächen drapiert, Wäscheständer und Sandkasten inklusive. In seiner Jugend gab es wenig soziale Probleme. In den Jahren der Vollbeschäftigung war es den Menschen möglich, sich ein wenig Wohlstand zu erwirtschaften: Einbauküche, Farbfernseher, Mittelklasseauto, Schrebergarten und der Pauschalurlaub am Mittelmeer. Olaf ist behütet aufgewachsen, mit dem Anrecht auf ein bescheidenes Mittelklasseleben, dessen Verlauf schon vorgegeben war. Arbeit, Familie, Rente, Tod. Er hat eine Lehre beim ortsansässigen Industrieunternehmen gemacht und brauchte nie den Arbeitgeber zu wechseln. Arbeit ist mehr als genügend vorhanden. In der Industrie wird in drei Schichten gearbeitet, durchgehend, auch Wochenends und Feiertags. Außerhalb der Arbeit führt Olaf ein angenehmes Leben. Die Mutter bekocht ihn, der Vater kümmert sich um seine Angelegenheiten. Den Umgang mit Bürokratie bringt ihm niemand bei. Daher machen ihm lange Briefe von Behörden Angst und dorthin gehen mag er schon gar nicht. Olaf ist unbedarft und verzichtet auf viele Ansprüche, weil er fürchtet, sich im Wirrwarr der Bestimmungen und Paragraphen zu verlieren. Sich gegen die Obrigkeit, vertreten durch Ämter, Beamte und Behörden, zu behaupten, kommt für ihn nicht in Frage. Sein größter Traum ist es, ein eigenes Haus zu besitzen. Er möchte seine Eltern überflügeln, die mit einer sauberen Mietwohnung im sozialen Wohnungsbau zufrieden sein mussten. Die muffige Enge der Mietskaserne, der Kehrpläne und Gemeinschaftsräume will er überwinden, um seiner Frau und seinen Kindern etwas bieten zu können. Hier beginnt das erste große Missverständnis zwischen ihm und seiner Frau, die zu labil ist, um sich für einen solchen Traum aufzureiben.

Nennen wir die Kinder doch beim Namen

Als nächstes beschäftige ich mich ausführlich mit den Personen. Zwei wichtige Personen habe ich schon genannt und ihnen Rollen zugewiesen. Es geht im Folgenden darum, den Personenkreis zu erweitern und diese Personen lebendig werden zu lassen. Dazu gehören Details wie Namen, Charakterbeschreibungen und die Historie jeder Person. Es ist überaus wichtig, ihnen Leben einzuhauchen und dazu gehören nun einmal auch die Herkunft und die Einflüsse, die einen Menschen prägen. Für mich hat es sich als praktisch erwiesen, eine Art Dossier zu jeder Person zu entwerfen. Dabei erstreckt sich diese Feinarbeit auf Hauptpersonen und wichtigen Nebenfiguren. Alles andere führt zu weit und ist wieder kontraproduktiv. Am Ende entsteht ein eigener Mikrokosmos, der die Grundlage für die Entwicklung der Handlung darstellt. Meine Arbeit beginne ich, indem ich mir einen Kreis an Hauptpersonen überlege. Anfangs sind das drei bis fünf Personen. Nach und nach kommen noch ein paar Hauptpersonen hinzu. In diesem Fall ist es einfach: Im Mittelpunkt steht eine Familie. Also: Mama, Papa, Kinder. Sollen es mehrere Kinder sein? Sohn und Tochter oder nur Töchter? Die Hauptperson soll am Anfang der Erzählung ca. 12 Jahre alt sein. Erfahrungsgemäß sind die ältesten Kinder einer Familie am meisten von Konflikten in der Familie betroffen. Sie fechten viele Konflikte für die jüngeren Kinder aus. Sie sind oft diejenigen, die den Streit der Eltern am ehesten zu spüren bekommen, weil niemand älteres da ist, der sie beschützt und ihnen Rat geben kann. Zumeist haben sie die Verantwortung für ihre jüngeren Geschwister. Also bekommt die Hauptperson ein jüngeres Geschwisterkind an die Seite gestellt. Wir nehmen ein Mädchen, das etwas jünger ist, so etwa sechs bis acht Jahre alt. Die Familie besteht aus einem Vater, Mutter und einer Tochter 12 Jahre alt und einer Tochter acht Jahre alt. Ich modelliere erst einmal diese vier zentralen Figuren und erarbeite mir den Familienkosmos. Die Verbindungen und Vernetzungen zwischen den vier Personen müssen vor dem Schreiben schon deutlich erkennbar sein. Z.B. welche Tochter ist ein Vater- oder Mutterkind? Wie fasst die Mutter ihre Rolle in der Erziehung auf? Ist der Vater mit seiner Position in der Familie glücklich? Wie sieht diese aus? Aber am Anfang steht erst eine ganz banale Angelegenheit: Die Menschen brauchen Namen. Ein heikles Thema. Es gibt durchaus Autoren, die die Namen ihrer Figuren mit einer Symbolik beschweren. Das bekannteste Beispiel: Die Ehre der Katharina Blum von Heinrich Böll. Dazu muss man sagen, dass ich nie ein großer Böll-Fan war. Die meisten deutschen Autoren aus der Nachkriegszeit, egal ob Gruppe 47 oder nicht, langweilen mich auf die eine oder andere Weise. Katharina Blum soll unschuldig und vielleicht sogar etwas naiv klingen, naturnah und rein. Wenn man Angelika Winkler in der Verfilmung sieht, denkt man, dass der Regisseur nicht viel von der Namensgebung gehalten hat. Sie wirkt verstört und gebrochen, anstatt naiv und verletzlich. Mit der Symbolik nehme ich es nicht sonderlich ernst. Es sollten in dem Fall der Familie bodenständige Namen sein. Namen, die typisch zu der Zeit der Geburt der Personen war, verbunden mit einem gewöhnlichen häufig vorkommenden Nachnamen. Dahinter steckt nicht die Überlegung die Namen mit Symbolen oder einer Konnotation aufzuladen. Diese Familie ist nicht aus der Zeit gefallen. Sie soll die Auseinanderentwicklung der sozialen Schichten repräsentieren und deswegen sind es Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die nun einmal nicht Baronin von und zu heißen. Das junge Mädchen wird als Erwachsene für die Ausübung ihres Berufes als Schriftstellerin einen Künstlernamen benutzen, der natürlich abgefahren und interessant klingen muss.

Name der Hauptperson:

Jo (hanna) Sommer Hauptperson Künstlername: Alethea Cumberland

Lu (isa) Sommer Schwester

Olaf Sommer Vater

Kerstin Sommer Mutter

Der Boden, der Dünger und die Saat

 Wie schlägt sich jetzt mein ambivalentes Empfinden für meine Heimat in meinem Text nieder?

Eine Schriftstellerin beschreibt ihre Kindheit in einer Kleinstadt, die in einer ähnlichen Situation wie meine Heimatstadt steckt. Die Stadt bildet den verkeimten Untergrund, auf dem die Probleme einer Familie ungehindert aufblühen können. Ich werde Wetzlar nicht nennen, sondern eine fiktive Stadt erschaffen, die sich in manchen Beschreibungen an Wetzlar anlehnt, aber an anderen Stellen abweicht. Warum dieser Kunstgriff? Ich habe in meinen ersten beiden Romanen genau dieselbe Konstellation gewählt. Ich schrieb über eine Stadt, die ich kenne, die es aber gar nicht gibt. Es gibt mir den Freiraum, manche Umstände auszumalen und zu konstruieren, ohne das zu vergessen, wofür meine Heimatstadt steht. Nehme ich meine Heimatstadt als Symbol, kann ich Akzente setzen und wichtige Elemente überhöhen. Wie ein Maler, der die Farben kräftiger setzt und Lichteinfall überbetont, um auf wichtige Bestandteile seines Gemäldes aufmerksam zu machen.

Die Stadt beeinflusst wesentlich das Drama um die Hauptperson. Ein scheinbarer Glücksfall für die Familie entpuppt sich als absoluter Alptraum. Der Vater der Hauptperson hat ein Haus in der Peripherie der Stadt geerbt. Vorher die Familie in einer der Vororte zur Miete im sozialen Wohnungsbau gelebt. Der Onkel des Vaters hatte keine eigenen Kinder und lebte alleine. Da die Eltern des Vaters auch schon verstorben waren, ist er der gesetzliche Erbe. Er hatte nicht viel Kontakt zu seinem Onkel, alleine schon, weil er als Einsiedler und Kauz verschrien war. Das Haus liegt an der verkehrsreichsten Stelle in der Stadt, inmitten eines Gewerbegebietes, in der Nähe der Bahnlinie. Es ist in keinem guten Zustand. Der Onkel hat jahrelang an dem Haus herum gewerkelt und es nur noch schlimmer gemacht, als es schon vorher war. Das Erbe erweist sich schnell als Last für die Familie. Die Kinder wachsen an einer vielbefahrene Straße in einem baufälligen Haus auf. Um das Haus auf Vordermann zu bringen, reichen die eigenen finanziellen Mittel nicht aus. Der Vater investiert seine gesamte Kraft in die Modernisierung des Hauses. Er scheitert und verliert nach und nach alles. Seinen Job, seine Ehefrau, sein Traum vom Eigenheim. Das Haus ist in dem Zustand und in der Lage nicht verkäuflich. Wie ein Fluch klebt es an der Familie.

Es gibt solche Ecken in meiner Heimatstadt. Straßenverkehr auf der einen Seite, Zugverkehr auf der anderen Seite und mittendrin noch Gewerbegebiet. Und trotzdem wohnen dort Menschen. Gerade an den Ein- und Ausfallsstraßen der Stadt, die Braunfelser und Altenberger Str. gibt es ausreichend solche Ecken. Wenn man die Stadt kennt, wird der eine oder andere behaupten, dass sei alles kein Problem. Irgendwo muss der Verkehr ja durch, irgendwo muss sich Gewerbe stadtnah ansiedeln können. Das gehört zu einer urbanen Umgebung dazu und in einer Großstadt gibt es viel schlimmere Ecken, wenn dann zum Beispiel noch ein Hafen, Industrie und ein Flughafen hinzukommt. Mag alles sein. Wenn man die besagten Gegenden besucht, ist es kein schöner Anblick, es ist für Kinder keine geeignete Umgebung, insbesondere, wenn es zwei Straßen weiter ruhig und schön ist und man auch die entsprechende Infrastruktur vorfindet, wie Spielplätze usw. Es geht auch eher darum, dass dieses Haus als Erbe einerseits eine Last ist und andererseits zur fixen Idee des Vaters wird, der damit die Familie in den Ruin treibt. Die Umgebung ist nur der Katalysator. Läge das Haus in einer ruhigen Ecke, hätte die Familie es einfach verkaufen können. Es ist aber unverkäuflich, weil niemand neben einer Durchgangsstraße und einer Eisenbahnlinie wohnen will und es außerdem in einem fürchterlichen Zustand ist. Grundsätzlich stellt sich die Frage, inwiefern der Mensch auch innerhalb einer urbanen Umgebung das Anrecht auf eine menschenwürdige Umgebung hat, wirtschaftliche Interessen über die Interessen des Einzelnen stehen und der ständige Verbrauch von Flächen und natürlichen Ressourcen überhaupt in einem Land notwendig sind, dessen Bevölkerung in den nächsten Jahren schrumpfen wird. Das sind Fragen, die mitschwingen und auch ihren Ausdruck im Text finden können, aber nicht unbedingt müssen. Diese Entscheidungen trifft ein Autor an anderer Stelle. Es besteht ständig die Gefahr, den Text damit zu überfrachten. Es soll eine Geschichte entstehen, die aktuelle Entwicklungen und gesellschaftliche Problemstellungen wiedergibt, weil diese direkte Auswirkungen auf die handelnden Personen haben.

Randgebiete meiner Heimatstadt Wetzlar – 3 Impressionen

    

Es tut so weh, man mag gar nicht hinschauen

Was hat nun meine Heimat mit der Geschichte zu tun, die ich schreiben will? Die Gegensätze zwischen moderne Industrie und kleinteiliger Architekturhistorie ziehen sich durch die Wohnviertel und machen sich auch zwischen den Menschen breit. In Wetzlar leben viele Leute, die Anteil am gutbürgerlichen Wohlstand in allen seinen Ausprägungen haben, aber es leben dort genauso viele Menschen, die am Rande der Gesellschaft in Armut und sozialer Ausgrenzung ihr Dasein fristen. Die Stadt ist nicht aufgeteilt in arme und reiche Viertel. Vielmehr ist alles vermischt miteinander und die Grenzen fließend. Dort wo die herunter gekommenen Häuser eine gewisse Armut ausstrahlen, kann es in der Nachbarstraße genau umgekehrt sein. Das heißt nicht, dass die Menschen koexistieren, sondern oft verbirgt sich die Armut der Einen hinter dem Wohlstand der Anderen. Die Armut in den Seitenstraßen fällt nicht auf und ist kaum sichtbar, während sich die Reichen hinter hohen Zäunen und Klingeln ohne Namenschilder verstecken. Manchmal erwarte ich ein offenes Gegeneinander.  Da sich aber alle verstecken, kann man den jeweils anderen auch nicht auf die Nerven gehen oder sich von ihm bedrängt oder ausgegrenzt fühlen.

Subtil und kaum spürbar für den oberflächlichen Beobachter herrscht in der Stadt ein eisiges Klima. Wer die städtische Politik verfolgt, erlebt eine einheimische Elite, die unter sich bleiben möchte. In ihrer Vetternwirtschaft begünstigen sie sich gegenseitig und sorgen dafür, dass nichts Neues in der Stadt blüht. Ein heimischer Politiker hat Wetzlar überregional in die Schlagzeilen gebracht, weil er als bildungspolitischer Sprecher seiner Fraktion im Landtag eine wichtige Funktion begleitet und auch gerade in dieser Funktion in vielen Dingen eine neutrale Position vertreten sollte, allerdings in seinem Wetzlarer Hassblättchen, dass alle vier Wochen in den Briefkästen liegt, gegen Moslems, Schwule, Linke und Ausländer hetzt. Über genau den gleichen Politiker ist überall in der Stadt zu hören, dass seine politische Meinung die eine Seite ist, aber die andere Seite ist, dass der Hans-Jürgen immer für einen da ist und auch mal in Wiesbaden Gelder für das persönliche Anliegen besorgt. Also Klientelpolitik ohne Vernunft, die nur der Sicherung der eigenen Machtbasis dient. Ein anderes Beispiel: Wir haben seit langer Zeit in Wetzlar ein Leerstandsproblem in der Innenstadt. Der Einzelhandel hat sich fast vollständig aus der ehemaligen Fußgängerzone am Bahnhof zurückgezogen. Ein Problem, dass viele kleinere Städte kennen. Jahrelang hat man nach einer Lösung gesucht, weil auch dieser Teil der Stadt zu versumpfen droht. Eine leere Fußgängerzone mit Säuferkneipen zieht nur fragwürdiges Publikum an. Irgendwann hatte man die kluge Idee, Bürger mit in den gewünschten Veränderungsprozess mit einzubeziehen. Man hat für viel Geld ein Stadtplanungsbüro engagiert, die die Stärken der Stadt herausarbeitete, dem städtischen Magistrat entsprechende Empfehlungen vorlegte und den Beteiligungsprozess mit den Bürgern begleitete. Grundsätzlich ein gute Idee und gut gemeinte Öffnung des Diskurses, da Ideen von externen Experten solch ein Prozess positiv beeinflussen können. Man ist mit den Bürgern durch die Stadt gegangen und hat Lösungen diskutiert. Einige Dinge wurden im Laufe der letzten Jahre umgesetzt, andere Dinge sind noch nicht umgesetzt und stellen sich teilweise als nicht umsetzbar heraus. Trotzdem hat man die Chance ergriffen, etwas grundsätzlich in der Stadt zu ändern. Klar ist, wenn die Stadtplanung auf die Bedürfnisse möglichst vieler Rücksicht nimmt, ist diese Stadt die Stadt aller Bürger und nicht nur die von wenigen. Auffällig war bei diesem Prozess, dass die größten Widerstände von den Hauseigentümern kamen. Also eigentlich den Menschen, denen es daran liegen muss, dass die Stadt für Außenstehende attraktiv ist. Die Vertreterin von Haus und Grund war bekannt dafür, mit ihren nervigen Einwürfen jede neue Idee zu torpedieren. Ich hatte den Eindruck, in den alten Vierteln darf sich nichts ändern, weil man sich ansonsten mit jungen Menschen oder Familien mit mittleren Einkommen auseinander setzen müsste, die durch die Veränderungen die Chance bekommen, in der Innenstadt sesshaft zu werden. Man hat immer nur gejammert, dass man dem Einzelhandel eine Chance geben muss und die alten Einkaufsstraßen Bahnhofstraße und Langgasse wieder für den Einzelhandel attraktiv gestalten sollte. Das sind fromme Wünsche von Menschen, die der Tatsache verschließen, dass der Einzelhandel als Mieter zwar eine kalkulierbare und interessante Einnahmequelle ist, aber der Einzelhandel sich nun einmal seit Jahren aus den Innenstädten zurückzieht, um in Shoppingmalls unabhängige Einkaufswelten zu schaffen, fern ab der Innenstädte. Der Einzelhandel schafft sich dort effiziente Räume, die genau auf die großen Filialketten zugeschnitten sind. Das kleinteilige wird in unserer Ökonomie nicht als gangbarer Weg betrachtet. Man schafft über Expansion und Größenklassen die größtmögliche Abschöpfung des Gewinns. Das ist nicht schön und jeder heult dem Tante Emmaladen nach und trotzdem gehen alle gerne bei Aldi und Rewe einkaufen. Bei den frommen Wünschen und den halbherzigen Willen zur Veränderung ist es leider geblieben. Sinnvolle Ansätze sind wieder für die alten Eliten umgedeutet worden. In der Folge hat man die Hauseigentümer begünstigt, in dem man an der Lahn Häuser mit teuren Eigentumswohnungen hochzieht, die natürlich nur sehr wohlhabende Menschen als Kapitalanlage kaufen, um sie vielleicht selbst zu bewohnen, aber am liebsten zu vermieten und zwar nur zu den entsprechend hohen Mietpreisen. Man schafft so keine Durchmischung in der Stadt, sondern nur die Aufwertung für das entsprechend wohlhabende Publikum, während die mittleren bis unteren Einkommen sich wieder in die teilweise unattraktiven aber preiswerten Randlagen in Niedergirmes oder Dalheim verziehen. Der Leerstand in der Bahnhofsstraße bleibt. Es gab Ideen, aus der Bahnhofstraße und Lahnhof ein Wohnviertel mit der dazugehörigen Infrastruktur zu schaffen. Mit Parks, Schulen und Kindergärten. Man hätte dafür einige Großkapitalisten quasi enteignen müssen, die den Leerstand verwalten, um sich Abschreibungsmöglichkeiten zu bewahren. Seltsamerweise gehören einige der besagten Objekten Immobiliengesellschaften, die an anderer Stelle mit attraktiven Einkaufszentren Gewinne abschöpfen. Die Bürger werden also mehrfach bestraft. Mittlerweile sind die Mietpreise in der Altstadt auf einem fast unbezahlbaren Niveau und der Plan in der Mitte der Stadt, erschwinglichen Wohnraum zu schaffen, um eine Durchmischung zu erreichen, stellt sich als Idee für Idealisten heraus.

Wir verorten uns jetzt mal

Wir sind aber nicht am Ende der Geschichte. Trotzdem ist es schön zu sehen, dass der Anfang ganz logisch zu einem sinnvollen Ende führt und nichts ist besser, als als Autor schon einmal den Gesamtrahmen der Handlung zu kennen. Bevor ich den Rahmen mit Leben fülle, gibt es noch viele Details zu klären. Wir haben die Zeit geklärt und nähern uns jetzt dem Raum, das heißt dem Ort der Handlung. Alle meine Romane haben meine Heimat als Bezugspunkt. Man möge mir daraus den Vorwurf stricken, dass ich nur das mir Bekannte beschreiben kann. Es steckt mehr dahinter. Natürlich fällt es mir leichter die Umgebung, in der ich lebe, zu erfassen und als Autor literarisch zu reproduzieren. Ich lebe in Mittelhessen und habe hier meine Wurzeln. Nur ein kleiner Teil meiner Familie stammt von hier und trotzdem zähle ich mich zu den Eingeborenen. An der Art wie ich Rede kann man meine Herkunft bestens erkennen. Ich spreche diese weiche labberige hessische Sprachtönung, die zwischen nasalen und nuscheligen Lauten über die hart klingenden Buchstaben hinweg huscht. Den örtlichen Dialekt imitiere ich, ohne ihn perfekt sprechen zu können.

Ich habe niemals an einem anderen Ort gelebt und natürlich, wenn ich Berlin, Frankfurt oder Köln bin, frage ich mich, ob ich dort besser leben könne. Sogar wenn ich an die Nordsee in den Urlaub fahre, frage ich mich, ob ich nicht lieber am Meer leben sollte, anstatt in diesem verwaschenen Klima zwischen Taunus und Westerwald. Und doch kehre ich jedes Mal in das Lahntal zurück und kann es kaum erwarten den Karlsmunt zu sehen oder unsere Straße, die auf einer Halbinsel zwischen Lahn und Dill liegt. Wenn ich aus meinem Wohnzimmer zwischen die Häuser schaue, kann ich den Wetzlarer Dom sehen und wenn ich die Straße herunter laufe, bin ich an der Lahn und sehe die alte Lahnbrücke. Das ist meine Welt und sie ist nicht immer hübsch anzusehen. Wetzlar ist vom Fluch oder Segen, je nachdem aus welche Perspektive man schaut, betroffen eine Altstadt zu haben, die von modernistischer Industriekultur umringt ist. Es ist bezeichnend, dass das höchste Gebäude in Wetzlar nicht der Dom, sondern einer der Türme von Heidelberg-Cement ist, die dieses Jahr fallen sollen. Vor ein paar Jahren hat man das Betonwerk stillgelegt. Es ist fraglich, ob das die mutwillige Zerstörung eines Denkmals ist oder die Befreiung einer Stadt, die seit mehr als einem Jahrhundert von der Industrie dominiert wird. Und genau dieser Zwiespalt macht für mich als Autor die Stadt und die Gegend interessant. Wunderschöne Ausblicke säumen die Höhen über der Stadt. Bei klarem Wetter habe ich das Gefühl, vor mir liegt ein unberührtes grünes Paradies. Ist man unten in der Stadt, zur besten Stoßzeit, drängeln sich die Autos mit aller Gewalt über den Karl-Kellner-Ring in die Braunfelser Straße hinein. Der Krach ist unerträglich und man wähnt sich in einer Großstadt. Fährt man nach Niedergirmes, liegt links das übermächtige Industriegelände der Firma Buderus und rechts der an vielen Stellen unansehnliche Ortsteil, der seinen negativen Ruf nicht wirklich verdient hat. Biegt man ab, fährt an den Rand des Stadtteils kann über eine steile Auffahrt einer der schönsten Aussichtspunkte der Gegend oben auf dem Simberg erreichen. Dann liegt das Lahntal vor einem und man kann sogar über die Industrietürme hinwegsehen.