Was hat nun meine Heimat mit der Geschichte zu tun, die ich schreiben will? Die Gegensätze zwischen moderne Industrie und kleinteiliger Architekturhistorie ziehen sich durch die Wohnviertel und machen sich auch zwischen den Menschen breit. In Wetzlar leben viele Leute, die Anteil am gutbürgerlichen Wohlstand in allen seinen Ausprägungen haben, aber es leben dort genauso viele Menschen, die am Rande der Gesellschaft in Armut und sozialer Ausgrenzung ihr Dasein fristen. Die Stadt ist nicht aufgeteilt in arme und reiche Viertel. Vielmehr ist alles vermischt miteinander und die Grenzen fließend. Dort wo die herunter gekommenen Häuser eine gewisse Armut ausstrahlen, kann es in der Nachbarstraße genau umgekehrt sein. Das heißt nicht, dass die Menschen koexistieren, sondern oft verbirgt sich die Armut der Einen hinter dem Wohlstand der Anderen. Die Armut in den Seitenstraßen fällt nicht auf und ist kaum sichtbar, während sich die Reichen hinter hohen Zäunen und Klingeln ohne Namenschilder verstecken. Manchmal erwarte ich ein offenes Gegeneinander. Da sich aber alle verstecken, kann man den jeweils anderen auch nicht auf die Nerven gehen oder sich von ihm bedrängt oder ausgegrenzt fühlen.
Subtil und kaum spürbar für den oberflächlichen Beobachter herrscht in der Stadt ein eisiges Klima. Wer die städtische Politik verfolgt, erlebt eine einheimische Elite, die unter sich bleiben möchte. In ihrer Vetternwirtschaft begünstigen sie sich gegenseitig und sorgen dafür, dass nichts Neues in der Stadt blüht. Ein heimischer Politiker hat Wetzlar überregional in die Schlagzeilen gebracht, weil er als bildungspolitischer Sprecher seiner Fraktion im Landtag eine wichtige Funktion begleitet und auch gerade in dieser Funktion in vielen Dingen eine neutrale Position vertreten sollte, allerdings in seinem Wetzlarer Hassblättchen, dass alle vier Wochen in den Briefkästen liegt, gegen Moslems, Schwule, Linke und Ausländer hetzt. Über genau den gleichen Politiker ist überall in der Stadt zu hören, dass seine politische Meinung die eine Seite ist, aber die andere Seite ist, dass der Hans-Jürgen immer für einen da ist und auch mal in Wiesbaden Gelder für das persönliche Anliegen besorgt. Also Klientelpolitik ohne Vernunft, die nur der Sicherung der eigenen Machtbasis dient. Ein anderes Beispiel: Wir haben seit langer Zeit in Wetzlar ein Leerstandsproblem in der Innenstadt. Der Einzelhandel hat sich fast vollständig aus der ehemaligen Fußgängerzone am Bahnhof zurückgezogen. Ein Problem, dass viele kleinere Städte kennen. Jahrelang hat man nach einer Lösung gesucht, weil auch dieser Teil der Stadt zu versumpfen droht. Eine leere Fußgängerzone mit Säuferkneipen zieht nur fragwürdiges Publikum an. Irgendwann hatte man die kluge Idee, Bürger mit in den gewünschten Veränderungsprozess mit einzubeziehen. Man hat für viel Geld ein Stadtplanungsbüro engagiert, die die Stärken der Stadt herausarbeitete, dem städtischen Magistrat entsprechende Empfehlungen vorlegte und den Beteiligungsprozess mit den Bürgern begleitete. Grundsätzlich ein gute Idee und gut gemeinte Öffnung des Diskurses, da Ideen von externen Experten solch ein Prozess positiv beeinflussen können. Man ist mit den Bürgern durch die Stadt gegangen und hat Lösungen diskutiert. Einige Dinge wurden im Laufe der letzten Jahre umgesetzt, andere Dinge sind noch nicht umgesetzt und stellen sich teilweise als nicht umsetzbar heraus. Trotzdem hat man die Chance ergriffen, etwas grundsätzlich in der Stadt zu ändern. Klar ist, wenn die Stadtplanung auf die Bedürfnisse möglichst vieler Rücksicht nimmt, ist diese Stadt die Stadt aller Bürger und nicht nur die von wenigen. Auffällig war bei diesem Prozess, dass die größten Widerstände von den Hauseigentümern kamen. Also eigentlich den Menschen, denen es daran liegen muss, dass die Stadt für Außenstehende attraktiv ist. Die Vertreterin von Haus und Grund war bekannt dafür, mit ihren nervigen Einwürfen jede neue Idee zu torpedieren. Ich hatte den Eindruck, in den alten Vierteln darf sich nichts ändern, weil man sich ansonsten mit jungen Menschen oder Familien mit mittleren Einkommen auseinander setzen müsste, die durch die Veränderungen die Chance bekommen, in der Innenstadt sesshaft zu werden. Man hat immer nur gejammert, dass man dem Einzelhandel eine Chance geben muss und die alten Einkaufsstraßen Bahnhofstraße und Langgasse wieder für den Einzelhandel attraktiv gestalten sollte. Das sind fromme Wünsche von Menschen, die der Tatsache verschließen, dass der Einzelhandel als Mieter zwar eine kalkulierbare und interessante Einnahmequelle ist, aber der Einzelhandel sich nun einmal seit Jahren aus den Innenstädten zurückzieht, um in Shoppingmalls unabhängige Einkaufswelten zu schaffen, fern ab der Innenstädte. Der Einzelhandel schafft sich dort effiziente Räume, die genau auf die großen Filialketten zugeschnitten sind. Das kleinteilige wird in unserer Ökonomie nicht als gangbarer Weg betrachtet. Man schafft über Expansion und Größenklassen die größtmögliche Abschöpfung des Gewinns. Das ist nicht schön und jeder heult dem Tante Emmaladen nach und trotzdem gehen alle gerne bei Aldi und Rewe einkaufen. Bei den frommen Wünschen und den halbherzigen Willen zur Veränderung ist es leider geblieben. Sinnvolle Ansätze sind wieder für die alten Eliten umgedeutet worden. In der Folge hat man die Hauseigentümer begünstigt, in dem man an der Lahn Häuser mit teuren Eigentumswohnungen hochzieht, die natürlich nur sehr wohlhabende Menschen als Kapitalanlage kaufen, um sie vielleicht selbst zu bewohnen, aber am liebsten zu vermieten und zwar nur zu den entsprechend hohen Mietpreisen. Man schafft so keine Durchmischung in der Stadt, sondern nur die Aufwertung für das entsprechend wohlhabende Publikum, während die mittleren bis unteren Einkommen sich wieder in die teilweise unattraktiven aber preiswerten Randlagen in Niedergirmes oder Dalheim verziehen. Der Leerstand in der Bahnhofsstraße bleibt. Es gab Ideen, aus der Bahnhofstraße und Lahnhof ein Wohnviertel mit der dazugehörigen Infrastruktur zu schaffen. Mit Parks, Schulen und Kindergärten. Man hätte dafür einige Großkapitalisten quasi enteignen müssen, die den Leerstand verwalten, um sich Abschreibungsmöglichkeiten zu bewahren. Seltsamerweise gehören einige der besagten Objekten Immobiliengesellschaften, die an anderer Stelle mit attraktiven Einkaufszentren Gewinne abschöpfen. Die Bürger werden also mehrfach bestraft. Mittlerweile sind die Mietpreise in der Altstadt auf einem fast unbezahlbaren Niveau und der Plan in der Mitte der Stadt, erschwinglichen Wohnraum zu schaffen, um eine Durchmischung zu erreichen, stellt sich als Idee für Idealisten heraus.