Meine Heldin

Nachdem wir in 2012 unser Haus am Rande der Innenstadt bezogen hatten, wollte ich nach längerer Unterbrechung wieder regelmäßig Sport treiben. Ich hatte in den Jahren davor deutlich an Gewicht zugelegt und auch schon die ersten Anzeichen von Bluthochdruck. Ab und zu mal ein paar Runden zu schwimmen oder am Wochenende bei schönem Wetter eine Mountainbiketour zu machen, reichte nicht aus und passten nicht zu den wenigen Freiräumen, die mir mein eng getakteter Terminplan übrig ließ. Laufen erschien eine gute Alternative zu sein, denn hinter unserem Haus beginnt ein flacher geteerter Feldweg, der ein paar Kilometer an der Lahn entlangführt. Mit dem Laufen zu beginnen, hat mich einige Überwindung gekostet. Es stellte sich aber als der effektivste Weg heraus, um nach der Arbeit ohne viel Aufwand Sport zu treiben. Am 22.09.2013 habe das erste Mal meine Aktivität über Running aufgezeichnet…2,08 km in 16.37 Minuten. Obwohl ich in den billigen Jogginghosen und den Turnschuhen eher unelegant schnaufend die wenigen Meter mit brennenden Oberschenkeln überwand, war ich unglaublich stolz auf meine Leistung. Ich wollte mehr davon und seitdem laufe ich regelmäßig, im Moment dreimal die Woche und mittlerweile ganzjährig, egal ob es kalt ist oder die Sonne mich grillt, es regnet oder schneit oder stürmt: Nichts hält mich von meiner Laufroutine ab.

 Mittlerweile laufe ich recht stabil die Halbmarathonstrecke und seit drei Jahren nehme ich mir vor, endlich einen Marathon in Angriff zu nehmen. Allerdings scheitere ich jedes Jahr an meinen eigenen Bedenken. Um mich auf den Ernstfall eines echten Stadtmarathons vorzubereiten, nehme ich recht regelmäßig an Volksläufen teil. Am Sonntag bin ich zum ersten Mal beim Frühjahrslauf in Gießen gestartet. Man läuft vier flache Runden auf geteerten Feldwegen und ebenen Waldwegen zwischen dem Schwanenteich und der Wiesecker Au. Vor meinem allerersten Halbmarathon hatte ich ein Trainingsprogramm über vier Monate absolviert, dass aus der wöchentlichen Routine eines schnellen fünf-Kilometer-Lauf, eines Intervalllaufes und eines Longruns über 10 oder 15 Kilometer besteht. Ich habe diese Routine beibehalten und kann quasi einen Halbmarathon aus dem Stand laufen. Momentan bin ich gesundheitlich etwas angeschlagen, da ich Magenprobleme habe (Stress und Gastritis) und hatte die Woche über wenig geschlafen. Eine Woche vor einem Halbmarathon mache ich einen Longrun über 15 Kilometer und versuche dabei auch an meine Grenzen zu gehen. Danach laufe ich unter der Woche nur noch zweimal langsame Grundlagenausdauerläufe über 5 Kilometer (die berühmten Zone 2-Läufe). Ich hatte mich anderthalb Wochen vor dem Rennen angemeldet und war die ganze Zeit über in Sorge, ob ich mir nicht zu viel zumute. Ich hatte mich schon überredet, es als Trainingslauf zu betrachten, um meine Erwartungshaltung an meine körperlichen Voraussetzungen anzupassen. 

 Trotz Zeitumstellung hatte ich gut und ausreichend geschlafen, bin rasch aufgestanden, habe mein Müsli gefuttert, einen Kaffee getrunken und mich auf den Weg nach Gießen gemacht. Ich fühlte mich wider Erwarten sehr gut und war vollkommen fokussiert.  

 Volksläufe oder stadionferne Wettbewerbe wie sie offiziell heißen, stehen für jeden Läufer offen. Man muss keinem Verein angehören und man braucht keine bestimmten Leistungsnachweise erbringen. Früher belächelte ich die Horden von schwitzenden Menschen, die an Wochenenden in bunten Laufklamotten durch Wälder und über Felder hetzten. Heute weiß ich dass es keine demokratischere und sozialere Sportveranstaltung gibt. Man bezahlt 10 EUR, bekommt eine professionell gemessene Zeit, kann sich mit anderen messen und es ist egal, ob man sich als Leistungs- oder Freizeitsportler betrachtet, ob man alt oder jung ist, seine Leistung steigern will oder einfach nur mit ein paar Leuten eine gute Zeit haben will, jeder ist willkommen und bekommt nach dem Lauf Tee und Bananenstücke so viel wie er will.

 Und trotzdem wollte ich für unseren Verein laufen. Der SV Niedergirmes ist ein junger Verein. Meine jüngsten Kinder spielen dort Handball und meine Frau ist Co-Trainerin einer Handball-Mädchenmannschaft. Einen Ort weiter gibt es einen in der Region sehr bekannten Verein für Laufsport. Er ist ein Sammelbecken für Triathleten und Marathonläufer, die einen gewissen Leistungsanspruch an sich haben. Der SV Niedergirmes hat keine Laufabteilung. Aber das ist egal, es geht ja nur um die Geste und meinen eigenen Dickkopf. Ich renne nicht mit den ambitionierten Athleten, die auf ihren dünnen Beinchen tausende von Kilometern jedes Jahr hinter sich bringen und sich über ihren VO2max definieren. Ich bin der Underdog, die Einmann-Laufabteilung.

 Das Laufen hat mein Leben verändert. Das Laufen gibt mir Kraft, Zuversicht, das Gefühl meine Grenzen erweitern und Hindernisse zu überwinden zu können. Manchmal halte ich mich beim Laufen in meinem eigenen mentalen Grenzbereich auf. Ich bin dann auf mich zurückgeworfen, spüre jede Faser meines Körpers und den Rhythmus meine Atembewegungen. Nur ich selbst, mein Körper, meine Beine, meine Arme und mein Willen bringen mich ins Ziel. Botenstoffe und Hormone versetzen mich in einen emotionalen Ausnahmezustand und öffnen mich für neue Erfahrungen und Gedanken. Als ich das erste Mal den Halbmarathon unter zwei Stunden gelaufen bin, saß ich eine halbe Stunde im Wohnzimmer auf einem Sessel und habe vor Glück geheult. Nicht das Unterschreiten der zwei Stunden haben das Gefühl erzeugt. Es waren die Magie zwei intensiver Stunden, in denen ich mich selbst überwunden habe.

 Während des Frühjahrslaufs hatte ich auch eines dieser magischen Erlebnisse. Es war in der zweiten Runde. Parallel zum Halbmarathon hat das fünf Kilometer Walking-Wettbewerb stattgefunden. Ich lief in die Wieseckau rein und sah ein Paar, das einen leeren Rollstuhl vor sich herschob. Ein paar Meter vor dem Paar lief ein Mädchen im Alter von zwölf Jahren oder älter, ich nehme mal an mit einer spastischen Lähmung, aber ich kenne mich da nicht aus. Ich dachte, das Paar und das Mädchen machten einen Spaziergang. Das Mädchen war flott unterwegs, obwohl ihr das Laufen sichtlich schwer fiel. In der Wieseckau war ein Wendepunkt und auf dem Rückweg lief ich wieder an dem Mädchen vorbei. Das Mädchen trug die Startnummer zweiunddreißig. Sie nahm also am Walking-Wettbewerb teil. Ich bin langsam an ihr vorbei gelaufen. Ich hatte nach ca. neun Kilometer meine erste Krise. Ich sah nicht ihre körperliche Einschränkung, sondern ihr freundliches und offenes Antlitz und ihren unermessliche Freude über das was sie zu leisten imstande war. Ab diesen Moment war sie meine Heldin. Die Nummer zweiunddreißig trug mich durch das Rennen. Immer wenn ich zurückfiel, dachte ich an sie und ihre Kraft und Zuversicht und wie leicht es doch war, wenn man an sich glaubte und einfach macht, anstatt immer zu zweifeln.  Und so kämpfte ich mich durch die einundzwanzig Kilometer und lief nach knapp zwei Stunden mit meiner persönlichen Bestzeit in den Zielbereich. Als ich durch das Ziel lief, begrüßte mich der Sprecher, der das Rennen mit seinen motivierenden Kommentaren begleitete, mit dem Hinweis, dass ich vom SV Niedergirmes sei und der besagte Nachbarverein mal bei uns Werbung machen sollte…lieber nicht..denn ihr seid nicht meine Helden. Meine Heldin trug die Nummer zweiunddreißig, brauchte für die fünf Kilometer 1 Stunde und 9 Minuten und kam als letzte durchs Ziel…ach scheiß drauf…für mich hat sie gewonnen.

Alle Jahre wieder….

Gestern haben sich einige hundert Menschen in Wetzlar vor dem Herkules-Center in der Bahnhofstraße versammelt, um die Demokratie zu verteidigen und mit anschließender Menschenkette, die ungefähr einen Kilometer lang vom Herkules-Center vorbei am Stand der AFD. über Karl-Kellner-Ring und Langgasse bis über die alte Lahnbrücke reichte, zu zeigen, dass die Demokratie noch lange nicht am Ende ist.

Die „Omas gegen Rechts“ (Ortsgruppe Wetzlar) hatte eingeladen und obwohl man an diesem Tag die ganze Kraft bürgerlichen Engagements zu spüren bekam, fällt es mir schwer, optimistisch in die Zukunft zu blicken. In den letzten Jahren hat sich in Wetzlar das bürgerliche Engagement für Demokratie, Zusammenhalt, Toleranz und Vielfalt neu positioniert. Einige Gruppen, die sich um diese Themen kümmern, haben sich gegründet und zeigen mit ihrem Engagement, dass man die Stadt nur gemeinschaftlich gestalten kann und dass es ein Miteinander über alle Meinungsgräben hinweg geben muss. Rund um die Omas gegen Rechts, Wetzlar Solidarisch, Wetzlar erinnert ist viel Positives in der Stadt geschehen und trotzdem scheint es nicht zu reichen.

Letztes Jahr um die gleiche Zeit waren wir demonstrieren, weil sich Rechtsextreme in Potsdam getroffen hatten, um einen Plan für die Remigration von Asylsuchenden und Menschen mit Migrationshintergrund zu diskutieren. Die Empörung war groß…und was ist geschehen? Frau Weidel hat auf dem Bundesparteitag der AFD das Wort Remigration voller Stolz ausgesprochen und es als Teil des Programmes der AFD vorgestellt. Herr Merz, Teile der CDU, CSU, die FDP übernehmen Positionen der AFD und wollen gerne Remigration light betreiben…man denke nur mal an die Diskussion um Syrer, die nach Ende des Assad-Regimes bitte alle verschwinden sollen. Natürlich ist das ganze populistische Gebrüll rund um die Migration als Mutter aller Probleme und das Abstimmen mit AFD im Bundestag auch teil einer solchen menschenfeindlichen Programmatik.

Wenn Isabel Schayani in einer Hart aber Fair-Sendung die einzig richtigen Worte für die Misere findet, in dem sie konstatiert, dass wir mittlerweile über Menschen wie über Klappstühle reden und ihre Worte schnell untergehen, weil sich alle anderen versuchen mit ihren abscheulichen Ideen rund um Begrenzung der Migration zu überbieten, kann ich eigentlich nur davon ausgehen, dass Parteien wie die AFD uns in nicht ferner Zukunft regieren werden.

Das emsige Suchen von Sündenböcke scheint für Politiker wieder die einzige Möglichkeit zu sein, um sich zu profilieren. Natürlich ist unsere Infrastruktur vom stetigen Strom von Flüchtlingen unter Druck geraten. Aber niemand fragt mehr, warum unsere Infrastruktur darunter leidet? Wohnungsmangel, zu wenig Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, Bildungsnotstände, überforderte Behörden und Kommunen hat kein einziger Flüchtling zu verantworten, sondern die Politiker, die in den letzten zwanzig Jahren diese Entscheidungen treffen konnten.

Ich bleibe pessimistisch und trotzdem werde ich weiter an Demonstrationen teilnehmen, meine Meinung kund tun und mit Menschen, egal welche Meinung sie vertreten, im Gespräch bleiben und ich bin sehr dankbar dafür, dass es in unserer Stadt Menschen gibt, die sich engagieren und es nicht zulassen wollen, das die Demokratie nicht einfach ausblutet.

Brett vor dem Kopf

Das Gehirn ist eine Prognosemaschine, die Sinneseindrücke mit Erfahrungen und Erwartungen abgleicht und Vermutungen über die Welt anstellt. Dabei ist das Gehirn nicht an Wahrheit interessiert, sondern gewissermaßen am eigenen Vorteil: Die Art, wie es arbeitet, hilft dem Menschen, folgenschwere Fehler zu vermeiden. Es ist ein Mechanismus, der auch dazu führt, dass sich unsere Überzeugungen verfestigen. (Spiegel 22/2024, 24.05.2024, Artikel „Im Labyrinth der Lügen“)

Meine Selbstbeschreibung klingt wie das Mantra eines Gutmenschen: Ich bin ein rational denkender Mensch, weltgewandt, aufgeschlossen und tolerant, belesen und interessiert an der Welt und den Menschen. Ich kenne keine Vorurteile. Für mich sind alle Menschen gleich. Wenn diese Selbstbeschreibung stimmte, wäre ich ohne Fehl und Tadel und damit auf der richtigen Seite des gesellschaftlichen Grabens, der von Tag zu Tag tiefer und breiter wird und uns alle eines Tages verschlingen wird.     In der Dauerempörungsschleife, die wir durch das Internet gelegt haben, ging uns leider die Erkenntnis verloren, dass wir alle nur Menschen sind, voller Fehler und eingeübten Verhaltensweisen, die man nur schwer geradebiegen kann. Wenn man einmal seine Überzeugungen hat, möchte man sie immer wieder bestätigt bekommen. Unser Lieblingsinstrument ist nicht die Wahrheit, sondern Verknappung, Verkürzung, Verdrehung der Tatsachen und das gepflegte Vorurteil. Wie am Anfang des Textes beschrieben, könnten wir es ansonsten mit uns selbst nicht aushalten.

 Im Sinne der Selbstoptimierungswut sollen wir ja ständig unsere Komfortzone verlassen, ansonsten droht uns der Stillstand (Wut besteht aus Zwangsneurose, sinnlosem und ziellosen Kraftaufwand und eruptiven Emotionen, also alles was der Influencer so braucht, um Millionen Follower zu begeistern). Ich bin kein Freund des Stillstandes, aber muss ich dafür meine Komfortzone verlassen? Man muss mich schon schubsen oder mit irgendwelchen persönlichen Vorteilen locken.

 Obwohl die Aussicht auf einen Abend mit meiner Frau mich gelockt hat, musste sie mich doch ein wenig schubsen. Und das nur weil die Gleichung viele Unbekannte hatte. Wir sollten mit uns unbekannten Menschen das Konzert einer uns unbekannten Band aus einem uns unbekannten Genre besuchen und vorher noch mit diesen uns unbekannten Menschen in einem unbekannten Restaurant, an einem unbekannten Ort, uns unbekannte Speisen zu uns nehmen. So viele Unbekannte funktionieren schon bei mathematischen Gleichungen nicht gut, warum sollte es dann in meinem Leben funktionieren. (Folgenden Spruch dürfen Sie unentgeltlich als Wandtattoo für den privaten Gebrauch nutzen: Das Leben ist eine mathematische Gleichung. Lizenzgebühren fallen nur bei gewerblicher Nutzung an.)

  Ich bin jetzt über fünfzig und spüre in mir einen stetig wachsenden Unwillen, mich auf unbekannte Situationen einzulassen. Als junger Mensch erlebt man alles zum ersten Mal. Mit dem zweiten, dritten und vierten Mal stellt sich ein Gewöhnungseffekt ein, dem man nicht unterschätzen sollte. Durch die Beschaffung von zahlreichen Informationen kann man das Unbekannte wie einen Blindgänger entschärfen. Allerdings sollte man, wie beim Entschärfen einer Bombe, vorsichtig sein und nicht zu viele Kabel durchschneiden. 

Ich bin Meister darin, mich selbst in die Luft zu jagen.  In meiner manischen und perfektionistischen Art übertreibe ich meine Recherche. Selektiv konzentriere ich mich auch einige Details und übersehe andere leichtfertig.  

 Meine Vorbereitung fing Wochen vor dem Konzert an. Ich habe mir erste einmal auf Spotify alle Songs der Band angehört. Dann habe ich Wikipedia und andere Wissensplattformen nach der Band durchsucht. Innerhalb ein paar Tagen war ich Experte für diese Band. Die Musik hat trotzdem in mir keine Begeisterung ausgelöst. Aber wenigstens konnte schon einmal mitreden. Dieses Paar, das den Konzertbesuch initiiert hatte, ist Fan dieser Band und dieser Musik. Also musste ich für die gepflegte Abendkonversation eine Grundlage schaffen. Als der Ort der Aufführung und das Restaurant bekannt waren, habe ich Googlemaps bemüht, um herauszufinden, wie lange wir fahren müssen, wo man parken kann, wie weit das Restaurant von der Halle entfernt ist, und so weiter.

 Für meine Frau und mich ist der kleine Ausbruch aus der Routine immer mit zusätzlicher Anstrengung verbunden. Das Hamsterrad darf nicht zum Stillstand kommen, auch wenn wir mal kurz aussteigen. Also hetzt man von einem Ort zum nächsten, das Pflicht- und Verantwortungsgefühl im Nacken.

 Wir fuhren rechtzeitig los, Haustürschlüssel, ein wenig Geld, Handy, EC-Karte, Personalausweis, Führerschein, Eintrittskarten, alles da! Ich saß hinter dem Steuer und wollte den Motor starten, als mir einfiel, dass ich mir noch eine Jacke ins Auto legen wollte. Sich schwitzend ins kalte Auto setzen, geht gar nicht. Also bin ich zurück, habe die Tür aufgeschlossen und die Jacke geholt.  

 Wir kamen pünktlich an und fanden sofort einen kostenlosen Parkplatz an der Location.

 Auf dem Weg zum Treffpunkt mache ich wie gewohnt meine Hosentaschenkontrolle, in dem ich mit meinen Fingern in der Hosentasche alle Gegenstände ertaste. Mein Haustürschlüssel fehlte, oh Gott! Wenn wir nachts nach Hause kommen, schlafen alle und wir müssen die ganze Nacht in der Kälte verbringen. Meine Frau kennt mich gut genug und beschwichtigte mich sofort. Ich soll mir keine Gedanken machen, sie habe einen Haustürschlüssel mit und meiner wird sich schon zu Hause finden. Ich kann meine neurotische Angst vor Schlüsselverlusten mit dem Hinweis auf meine Haftpflichtversicherung, die natürlich den privaten und dienstlichen Schlüsselverlust abdeckt, unterdrücken und schaffe es wirklich, dass die Angst nur sporadisch in meinem Gehirn aufblitzt.

 Da meine Frau die Eintrittskarten bezahlt hat, soll ich das Essen bezahlen. Ich habe aber gar nicht genug Bargeld mit. Hoffentlich kann man in dem Restaurant mit Karte bezahlen. Dieser Gedanke lässt sich nicht mehr wegwischen. Wir brauchen jetzt nicht zu diskutieren, warum wir Deutschen nicht gerne mit Karte bezahlen und warum viele Deutschen glauben, Bargeld sei mit Freiheit gleich zu setzen. Penunzen nehmen einem immer die Freiheit, weil sie verdient werden müssen, dann ist es egal ob man sie in Form von Papier oder Plastik in der Hand hält. Bargeldbesitz ist hinderlich im Alltag. Man muss immer eine ausreichende Menge mit sich herumschleppen oder sucht andauernd einen Geldautomaten. Das beschränkt mich doch mehr, als wenn ich meine Karte oder noch besser, einfach mein Handy zum Bezahlen zücken muss.

 Wir treffen die unbekannten Menschen und unseren Freund an der Ampel. Sie entpuppen sich sofort als freundliche und kommunikative Zeitgenossen. Aber ich fühle angesichts ihrer Freundlichkeit und Zugewandtheit meine eigene Erschöpfung. Außer der Frage, ob man in dem Restaurant mit Karten zahlen kann oder nicht und der Information, dass mein Haustürschlüssel verschwunden ist, habe ich ihnen nichts anzubieten. Die ganze Vorbereitung für die gepflegte Konversation war im Arsch!!!

 Auf dem Weg zum Restaurant finden wir eine Sparkassenfiliale. Das löst schon mal die ersten Beklemmungen. Das italienische Restaurant liegt etwas abseits in einem Wohnviertel und auf dem ersten Blick erkennt man, dass das Restaurant sich in einem Wohnhaus befindet. Es handelt sich um einen typischen Familienbetrieb. Wir betreten das Grundstück durch ein Gartentürchen und befinden uns quasi auf einem Privatgrundstück. Mein Urteil ist gefällt. Niemals werden diese Italiener, die ja eh alle Verbindungen zur Mafia haben und daher ja ihre Einnahmen waschen müssen, Kartenzahlung anbieten. Und dieses Familiengetue ist doch nur Fassade. Sie erinnern sich an das Zitat am Anfang des Textes?

 Ich will einfach nicht, dass man hier im Restaurant mit Karten bezahlen kann. Die Wahrheit interessiert mich nicht und so passiert folgendes:

Wir setzen uns an den Tisch, geraten in eine ausführliche Konversation und werden von der Bedienung (die Tochter des Hauses) unterbrochen. Ob wir schon Getränke bestellen wollen? Wir diskutieren noch über Weine und als Liebhaber toskanischer Weine entscheide ich mich für einen Chianti. Worauf die Frau einen Primitivo empfiehlt. Hier gibt es niemals die Möglichkeit, mit der Karte zu bezahlen. Wer als Italiener Primitivo mit Chianti gleichsetzt, wird nur Bargeld akzeptieren. Zur Belustigung aller gebe ich meine Kritik zum Besten. Meine Frau schränkt ein, dass die Bedienung nur den Primitivo erwähnt habe, weil er nicht auf der Karte stehe und dass sie die Weine nicht gleichgesetzt habe. Der Wein kommt. Er schmeckt gut. Wir warten auf die Pizza. Ich spüre den Alkohol und muss nun Klarheit über die Zahlungsmittel zur Begleichung der Rechnung erlangen. Bevor das Essen kommt, muss die Frage geklärt werden. Also verabschiede ich mich schlecht gelaunt von der gut gelaunten Runde mit dem Hinweis, dass ich mal austreten müsse.

 Ich wollte eigentlich an der Theke des Hauses nachfragen, aber an der Eingangstür zum Restaurant hängt ein Zettel. Ich lese dort, dass man keine Kartenzahlung wünsche. Ich atme tief durch, beschleunige den Gang aufs Klo, und schreibe meiner Ehefrau eine verzweifelte WhatsApp-Nachricht:

„Geh Geld holen. Die nehmen keine Karte.“

Ich hetze zur Sparkasse, hebe viel Geld ab und renne wieder zurück. Die gutgelaunte Runde erwartet mich schon und wundert sich, warum ich so lange weg war.

 Ich sitze, warte auf die Pizza, man redet und redet, eigentlich ist alles nett. Die fremden Menschen sind uns gar nicht mal unähnlich. Wir reden über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und das ich immer Elternzeit in Anspruch genommen habe, damit meine Frau schnell wieder in den Beruf kann, halt eben so ein richtiger Gutmensch. Dabei mache ich meiner Frau das Kompliment, dass ich mich unter anderem in sie verliebt habe, weil sie klüger ist als ich und schränke gleich ein, dass sei nur ein Grund gewesen, die sollen ja nicht glauben, dass ich meine Frau hässlich finde und sie nur wegen der Intelligenz geheiratet habe. Ein richtiger Gutmensch, der in die sich in seinen eigenen Gutmenschen-Verstrickungen so verheddert, dass er sich längs auf die Schnauze legt. Aber in der Runde kommt das gut. Die fremde Frau sagt noch, dass wir ja irgendwie auch so seien wie sie und als er noch erzählt, dass er auch mal bei einer Bank gelernt hat, sind alle Bedenken verschwunden und es kommt auch bei mir so etwas wie Entspanntheit auf. Die Pizza kommt, wir essen und trinken und reden und zwischendurch denke ich mir, komm scheiß auf das Konzert, das ist gerade so schön hier. Dann der Schock! Der Wirt serviert dem Nachbartisch ein Kartenzahlungsgerät. Eine Gästin holt ihre Bankkarte raus und legt es wie selbstverständlich auf das Gerät. Man hört den Thermodrucker rattern und der Wirt reißt den Beleg ab. An unserem Tisch herrscht plötzlich Stille. Ich wechsle meine Gesichtsfarbe von bleich zu grün zu tomatenrot.

„Hier kann man doch mit Karte bezahlen?!“

Ich habe meine eigenen Fake-News in die Welt gesetzt und wurde nun entlarvt. Wie immer, wenn man die eigenen Fake-News für echt hält, muss man dagegenhalten.
„Aber der Zettel an der Tür…“

Ich mache mich kurz zum Gespött und dann tritt das Thema zum Glück in den Hintergrund. Man unterhält sich zu gut um mit einem Disput über Lüge und Wahrheit den Abend zu verderben. Ich atme auf und denke wieder an meinen Haustürschlüssel. Als wir wieder vor dem Haus jenseits der Gartentür und der Hecke stehen, erzählt mir meine Frau im Vertrauen, dass auf dem Zettel nur stand, dass hier keine Kreditkarten akzeptiert werden aber man ansonsten gerne Karten zur Begleichung der Rechnung annimmt.

 Ich hatte mir also aufgrund meiner Vorurteile und weil diese nun mal bestätigt werden müssen, meine eigene Wahrheit konstruiert und mich damit auf eine Stufe mit all den Aluhüten und Querdenkern gestellt, die den ganzen Tag nichts anderes machen, als sich die Welt so zu denken, wie sie sie gerne haben möchten. Und da sehen wir wieder mal Gut und Böse sind keine Kategorien, um menschliches Verhalten zu qualifizieren. In manchen Situationen verhält sich unser Gemüt wie ein Querschläger. Man ahnt nichts Böses und wird von einen Gedanken erwischt, von den man niemals geglaubt hätte, dass er einem durch den Kopf schießt.

 Übrigens: die Band war super! Sehr gute Stimmung! Sehr gute Show! Um halb zwei Nachts waren wir zu Hause und mein Haustürschlüssel lag auf dem Tisch. Ich hatte ihn in der Tür stecken lassen, als ich mir die Jacke geholt habe, die ich übrigens nicht angezogen habe. Meine Tochter hatte den Schlüssel im Schloss entdeckt und ihn einfach auf den Tisch gelegt. Das war nicht das erste Mal.

Bundesstraße

Letzten Samstagnachmittag fuhr ich auf der vierspurigen schnurgeraden Autostrada zwischen Wetzlar und Gießen. Beim Fahren kann man den Blick über die idyllische Lahnebene schweifen lassen. Der Fluss schlängelt sich hier durch ein Naherholungs- und Naturschutzgebiet. Man kann sich Zeit nehmen. Die erlaubte Höchstgeschwindigkeit liegt bei 100 KM/H. Ich habe wenig Interesse an der Idylle neben der Straße. Ich bin diese Strecke schon tausendmal gefahren. Die Straße führt nicht nur durch das Lahntal, sondern auch durch mein Leben. Auf der linken Fahrspur lasse ich die anderen Fahrzeuge hinter mir.

 Hinter mir rauscht ein schwarzes Geschoß heran. Fast instinktiv spüre ich seine Anwesenheit noch bevor es sich mit Lichthupe ankündigt. Gefühlt einen halben Kilometer entfernt von mir entdecke ich das nervig Lichtsignale emittierende Objekt im Rückspiegel. Warum soll ich die Fahrspur wechseln? Ca. 100 Meter vor mir fährt ein Fahrzeug auf der rechten Spur und ich möchte es gerne überholen. Innerhalb ein paar Sekunden erreicht mich die Bedrohung auf der linken Spur und mir wird ganz anders. Noch bevor es meine Stoßstange berühren kann, wechselt es auf die rechte Spur. Meine Furcht vor dem Auftreffen des unbekannten Objektes gleitet nahtlos über in Wut und störrischem Beharren auf mein Recht.  

 In einer miesen Kurzschlussreaktion gebe ich Gas, um zu dem Fahrzeug auf der rechten Spur aufzuschließen. So macht man die Räume dicht und riskiert einen verheerenden Unfall. Das ist mir völlig egal, denn meine Testikel sind innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde auf die doppelte Größe herangewachsen. Mein ganzes maskulines Bewusstsein verharrt auf dem Gaspedal.

 Ich beschleunige mein kleines Elektroauto, neben mir das rasende Objekt, das ich mittlerweile als schwarzen Golf identifizieren konnte. Nur kurz habe ich die Macht über die Situation, denn der Golf ist schneller und sein Fahrer absolut furchtlos. Kurz bevor wir das Fahrzeug auf der linken Spur erreichen, setzt sich der schwarze Golf vor mich. Der Fahrer scheint keinerlei Nerven zu besitzen. Als ich das erste Mal die Silhouette des Fahrers erahnen kann, legt er eine Vollbremsung hin. Der Bruchteil der Sekunde in der ich der Vollbremsung gewahr werde, entscheidet über Leben und Tod. Ich weiß gar nicht, wie ich schaffe, das Bremspedal bis unten durchzutreten, gleichzeitig zu hupen und zu brüllen:

„Nötigung, du Schwachkopf.“

 Die Angst vor dem Tod muss irgendwie artikuliert werden.

Dem Fahrer des schwarzen Golfes bin ich vollkommen gleichgültig. Er hat mich niedergerungen und kann nun bequem meine wütenden Handbewegungen und Beschimpfungen ignorieren. Ich fahre ihm hinterher, fühle mich gedemütigt und suche einen Weg, mich wieder aufzurichten. Ich notiere mir sein Kennzeichen, überlege ihn anzuzeigen und bedränge ihn durch dichtes Auffahren. Bis zur nächsten Ausfahrt stecken wir in einer Kolonne fest. Auf beiden Spuren fahren die Autos wie auf Schienen. Als ich an der nächsten Ausfahrt abbiege und er auf der B49 bleibt, versuche ich den Fahrer noch einmal in Augenschein zu nehmen. Er bleibt gesichtslos, ein Schatten am Lenkrad. Sein Golf weist eine großflächige Blechwunde auf, die die gesamte Beifahrerseite überzieht. Entweder kann er keine Risiken abschätzen oder seine Wut ist immer größer als seine Angst vor dem Crash.

Leider habe ich mitgespielt. Es ist so einfach geworden, sich im Recht zu fühlen und sich zum Rächer der eigenen Bedeutungslosigkeit zu erheben. Ob im Internet, im Straßenverkehr, in den Städten, bei Veranstaltungen, der Sog des konturenlosen Schattens, der sich immer beklagt und beschwert, der andere beschimpft und diffamiert, Gewalt androht und ausübt, das Recht auf seiner Seite sieht, wenn er Regeln bricht, ist stärker geworden. Befindet man sich einmal  im Strudel der Unmenschlichkeit und betrachtet den anderen nur als Störfaktor, der aus dem Weg geräumt werden muss, kann man sich ihm nur schwer entziehen.

 Gestern habe ich einen kurzen Videoclip auf Spiegel-Online gesehen. Es zeigt einen großen schwarz gekleideten Kerl, der ein Wahlplakat von einem Mast herunterreißt. Er war nicht alleine. Zwei weitere Personen, auch in schwarz gekleidet, haben arglose Menschen angegriffen, bedroht, beschimpft, Angst und Schrecken verbreitet. Die drei Angreifer fühlten sich im Recht, fanden es unbegreiflich, dass Menschen eine andere Meinung plakatierten und wollten ihr Revier verteidigen. Beim Betrachten des Videos habe ich mich an meine Gefahrensituation auf der Straße erinnert. Wenn Menschen im öffentlichen Raum attackiert werden, weil sie sich politisch engagieren, ist es weitaus dramatischer und in seiner Wirkung folgenreicher als ein Gerangel auf der Bundesstraße. Allerdings geht es um das gleiche Prinzip des Regelbruches und ist verbunden mit einem ähnlichen Empfinden. Die gesellschaftliche Übereinkunft, die Regeln des Straßenverkehrs, die Regeln der politischen Teilhabe, Geschwindigkeitsbegrenzungen, das Recht sich politisch zu engagieren, seine Meinung zu äußern, sich zur Wahl zu stellen, werden durch den Angriff außer Kraft gesetzt, insbesondere wenn der Provokateur ungestraft enteilen kann. Früher waren es nur die Vollidioten, die mit ihren PS unter dem Hintern, die Regeln des Straßenverkehrs ausgehebelt haben. In den letzten Jahren sind viele neue Regelbrüche hinzugekommen und so wie ich mich habe hineinziehen lassen, sind viele Menschen bereit, sich in den Strudel der Unmenschlichkeit zu begeben, ohne zu erahnen, worauf sie sich einlassen.

 Irgendwann haben Brandstifter das Feuer gelegt und anstatt das wir das Feuer gelöscht haben, haben wir es unbeabsichtigt angefacht. So wie ich die Contenance im Straßenverkehr verloren habe, haben weite Teile der Gesellschaft ihre Contenance verloren. In einer kopflosen Gesellschaft werde die Brandstifter ihre Ziele zu erreichen. Sie zündeln an den Grundfesten der Gesellschaft, um Konfusion zu verursachen. Sie wollen die Unsicherheit und Unordnung während des Feuers ausnutzen, um Macht zu erlangen. Der Golffahrer und die Angreifer sind für die Brandstifter das Mittel zum Zweck, sie sind Brandverstärker, die für Konfusion und Unsicherheit sorgen. Wir fühlen uns nicht mehr sicher und reagieren nur noch. Man hat uns in einen Hinterhalt gelockt und wir stehen nun mit dem Rücken zur Wand, verzweifelt, wütend und unfähig, den Ausweg zu erkennen.

 Wir brauchen ein Gegenmittel. Wir müssen uns dem Feuer entziehen und endlich mit den Löscharbeiten beginnen. Kehren wir zurück zur Vernunft, machen wir uns wieder klar, dass eine Gesellschaft nur funktionieren kann, wenn jeder die Regeln einhält und der der sie nicht einhalten will, sanktioniert wird. Dazu braucht es Gelassenheit und den ruhigen Blick. Fahren wir auf die andere Spur, lassen wir die Vollidioten uns ruhig überholen. Irgendwann werden sie in die Leitplanken rasen und sich selbst ad absurdum führen.

Eintreten/ Austreten

Am Freitag bekam ich Post von Ver.di . Ich bin jetzt Gewerkschaftsmitglied. Unboxing Ver.di: in einem silbernen Umschlag, aufwändig gestylt, so wie es heute üblich ist. Auch Gewerkschaften haben heutzutage anscheinend Marketingabteilungen:

Die katholische Kirche hat sich auch bei mir gemeldet. Ein Kaplan der Domgemeinde in Wetzlar hat mich nett angeschrieben und meinen Austritt bedauert. Er wünscht sich ein Gespräch mit mir, um meine Beweggründe zu erfahren. Der Brief liegt sein drei Monaten auf meinem Schreibtisch und ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Einerseits finde ich es gut, wenn eine Person sich die Zeit nimmt und einen Brief losschickt (den er wahrscheinlich als Formbrief bei jedem Austritt benutzt), andererseits fühle ich eine noch größere Entfremdung, wenn ich diesen Brief lese, weil mir diese Gemeinde nichts bedeutet und ich vor meinem Austritt auch dieser Gemeinde nichts bedeutet habe. Ein großes Missverständnis, die katholische Kirche und ich!

Nie wieder ist jetzt

Seit ich mich mit Politik beschäftige, als seit fast vierzig Jahren, wird dieses Land regelmäßig von rechtsextremen und völkischen Populisten und Antidemokraten in die Zange genommen.

 Die rechtsextremen Hetzer und Demagogen führten ohne Unterlass ihr schäbiges Drama aus Empörung und ätzendem Hass auf. Zu schrill, zu offensiv und mit offensichtlichen Reminiszenzen an den Faschismus des dritten Reiches erreichten sie in der Vergangenheit nur die Altgestrigen und ein paar Protestwähler. Nach ein paar Erfolgen bei Kommunal- oder Landtagswahlen verschwanden sie bald wieder in der Versenkung,

 Seit dem letzten Aufflammen rechter Umtriebe in den Neunzigern schien rechtsextremes Gedankengut nur noch für durchgeknallte Springerstiefel- und Glatzenträger attraktiv zu sein. Auch wenn drei NSU-Terroristen fast zwanzig Jahre unbehelligt mordend durch die Lande ziehen konnten, gab es den einen breiten Konsens darüber, dass völkisches Gedankengut weder gesellschafts- noch mehrheitsfähig war.

 Allerdings gor im Gedärm der Republik die Sehnsucht nach einer Vergangenheit, in der das Patriachat noch die Oberhand hatte und mit einer gottgegebenen Arroganz den Rest der Menschheit mies behandeln durfte. Nach einem langen Zersetzungsprozess im Dünndarm konnte der Schließmuskel unserer Nation den gewaltigen Dünnpfiff nicht mehr halten. Und so ergoss sich die braune Soße über das Land und nannte sich die Alternative für Deutschland.

 Und nach zehn Jahren, in denen diese Partei keine Gelegenheit ausgelassen hat, um den öffentlichen Diskurs an sich zu reißen und mit ihrem einen Thema zu bestimmen, schienen sie fast am Ziel angelangt zu sein.

  Wie alle Populisten haben die seriös auftretenden Funktionäre  ängstliche und überforderte Menschen angesprochen und hinter sich versammelt. Man hat sie plappern, keifen, schimpfen und diffamieren lassen und nicht nur ihre Fans, sondern auch ihre Gegner haben sich von Ihnen beeindrucken lassen. Dabei hat man einfach vergessen, dass die Angelegenheiten der Menschen schon immer komplex und widersprüchlich und einem stetigen Wandel unterworfen waren. Weil sich die Welt tagtäglich weiterdreht, müssen alte Vereinbarungen wieder neu verhandelt werden. Kriege, Pandemien, Inflation, Transformationsprozesse und Rezessionen hat es schon immer gegeben.  Ein bestimmter Anteil der Menschen reagiert mit Angst und Schrecken auf historische Brüche. Verunsicherte Menschen stellen die perfekten Opfer für Populisten dar. Um ihren persönlichen Schmerz zu lindern, sind sie bereit, irrational zu handeln. Für das Gefühl der Sicherheit lassen sie sich gerne belügen und betrügen. Sie wollen einfach glauben, dass es jemand gibt, der die Welt wieder heile machen kann.

 Auffällig ist für mich, dass die Erzählungen der Populisten bei vielen Menschen verfangen, die sich vorher nie mit Politik auseinander gesetzt haben. Viele Bürger haben eine verzerrte Vorstellung von der Leistungsfähigkeit staatlicher Institutionen. Mir sind viele Menschen begegnet, die sich niemals eingebracht haben, die nie die Tagesschau geschaut haben, niemals eine Tageszeitung gelesen haben, die nie wählen gegangen sind, mir aber genau erklären können, was in diesem Land falsch läuft. Beim Zuhören spürt man schnell, dass es nur um sie und ihre eigenen Ansprüche geht. Viele Menschen denken nicht an das Gemeinwohl und was der kleinste gemeinsame Nenner für alle sein sollte. Errungenschaften der Sozialpolitik wie Mindestlohn und Bürgergeld schrecken Sie ab. Solche Wohltaten der Gesellschaft sind nur ihrer Ansicht da, um missbraucht zu werden. Sie selbst sehen sich als Opfer staatlicher Willkür, weil der Staat ihnen etwas wegnimmt und es anderen gibt. Es ist die gleichen Sorte Mensch, die keine Steuern zahlen will, aber über die Schlaglöcher motzt. Gingen frühere Gesellschaftstheorien nicht davon aus, dass der Bürger seinem Willen den Allgemeinwillen unterordnet, um von der Allgemeinheit Schutz zu bekommen und in Freiheit leben zu können? Man könnte fast annehmen, dass für viele Menschen der Gesellschaftsvertrag nie existiert hat.

 Wenn alte Gewohnheiten und Besitzstände in Frage gestellt werden, sei es die Macht, die Bequemlichkeit, den qualmenden Verbrenner oder das Schnitzel, werfen die Populisten ihre Netze aus. Die beharrliche Leugnung der Wirklichkeit, die vom einer Umwelt- und Klimakatastrophe, ungerecht verteiltem Wohlstand und daraus resultierenden Fluchtbewegungen dominiert wird, kann man nur mit einem gemeinsamen Feindbild aufrechterhalten. Viele Menschen, die sich selbst höchstens als konservativ aber nicht als rechts- rechtsextrem bezeichnen, teilen mit der AFD und dem rechten Milieu die Feindbilder: selbstbewusste Frauen, queere Menschen, Migranten, junge Menschen, die sich für den Schutz der Umwelt einsetzen usw. Ob sie jetzt oder später die AFD wählen ist egal, aber sie stellen Wählerpotential für Populisten dar. Solange die Diskurse am Brodeln sind, trifft man alle in den sozialen Medien an und lässt sie munter zu einer einzigen Bubble verschmelzen. Schon kann eine Partei alle, die ihre Überzeugungen teilen, in dem Glauben bestärken, entweder in der Mehrheit zu sein oder Opfer der gegenwärtigen Mehrheitsgesellschaft zu sein, die von den Mächtigen gegen sie aufgehetzt wird. Man kann sich gegenseitig in diesem Status bestätigen und sich bestärken. Plötzlich ist man ein Held, ein Märtyrer, der nichts anderes macht, als von der heimischen Couch aus als Soldat im Meinungskrieg für die gerechte Sache zu kämpfen.

 Die blaue Pest hat mittlerweile eine Relevanz erreicht, die viele Bürger hat glauben lassen, dass sie uns spätestens nach den Landtagswahlen im Sommer hinraffen wird.

 Die wirkliche Mehrheitsgesellschaft ist endlich aufgewacht. Vielleicht zu spät! Das konspirative Treffen einiger Rechtsideologen, die sich in gediegener Kulisse über die Ausweisung deutscher Staatsbürger unterhalten hat, hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Anders kann ich es mir nicht vorstellen, denn wir haben in den letzten Jahren so viele Angriffe auf unsere Demokratie erlebt und nicht sonderlich gezuckt. Aber jetzt sind wir endlich wieder alle Antifaschisten und vereinen uns hinter dem Artikel eins des Grundgesetzes.

 Meine Familie und ich haben in den letzten zwei Wochen an zwei Demonstrationen gegen die AFD teilgenommen. Wir sind nicht zum ersten Mal auf Demonstrationen gegen rechte Umtriebe gewesen und im Privatleben sind wir es gewohnt, Stellung gegen rechtes Gedankengut zu beziehen. Leider mussten wir in den letzten Jahren immer wieder feststellen, dass die AFD-Thesen auch bei manchen Menschen in unserem weiteren Umfeld salonfähig geworden sind. Ich habe diese Leute immer reden lassen, sie höchstens gemieden oder ignoriert.

 Und ich gebe zu, hinter jungen Menschen herzulaufen, die eine Fahne schwenken und Alerta, Alerta, Antifaschista rufen, gibt mir ein gutes Gefühl. Ich wähne mich auf der richtigen Seite. Es ist ein trügerisches Gefühl. Vor drei Wochen haben sich in Gießen 13000 Menschen versammelt und letzte Woche in Wetzlar 5500 Menschen. Die sehr emotionalen Redebeiträge in Wetzlar auf der Bühne haben viele Demonstranten nachdenklich gestimmt. Aber solche Demonstrationen können die Situation nicht retten. Sie dienen höchstens der Selbstbeschwichtigung. Man vergewissert sich gegenseitig, dass eine große Mehrheit der Menschen nicht in einer antidemokratischen Gesellschaft leben möchte, die nur auf Angst und Ausgrenzung beruht. Und trotzdem müssen wir uns fragen, wie wir die Demokratie wieder für Menschen attraktiv machen können, die schon fast verloren sind, weil sie zwar im gleichen Land aber in einer ganz anderen Welt leben. Die oben beschriebenen Typen oder Gruppen werden sich nicht von Demonstrationen beeindrucken lassen. Im schlimmsten Fall sehen sich bestätigt und bestärkt und drehen erst recht auf. Der positive Effekt, die die Demonstrationen zweifellos hatten, wird schnell verpuffen, wenn nicht alle gesellschaftlichen Kräfte, sich hinter dem Grundgesetz, den Menschenrechten und der Demokratie versammeln und endlich ein positives Gegenbild zu der schlechtlaunigen und bräsigen völkischen Ideologie zeichnen. Wenn wir das nicht schaffen, wird bald nie wieder jetzt sein. 

Austreten – Eintreten / Teil drei

 Nachdem ich bei der Musterung als wehrtauglich eingestuft wurde, hätte ich nach der Ausbildung meinen Wehrdienst antreten müssen. Schon vor der Ausbildung hatte ich den Entschluss gefasst, zu verweigern. Anfang der Neunziger Jahre hat man schon mit wenig Aufwand den Kriegsdienst verweigern können. Man musste einen Aufsatz einreichen, in welchem man seine Gründe für die Verweigerung darlegte. Es gab ausreichend Vorlagen, die die geforderten Formulierungen enthielten und die in der Szene der angehenden Kriegsdienstverweigerer zirkulierten.  Man berief sich auf sein Gewissen, das einem untersagte, eine Waffe gegen andere Menschen zu richten. In diesem Falle war das Gewissen eine eigene Persönlichkeit, die den jungen potentiellen Rekruten quasi paralysierte, wenn er mit einer Waffe auf einen anderen Soldaten zielen wollte. Eine Verweigerung aus anderen Gründen war möglich, aber nicht gewünscht. In der stockkonservativen Welt der atomaren Abschreckung kam es nicht gut, wenn man aus weltanschaulichen Gründen verweigerte. Das war den Gremien zu kompliziert. Einmal im Leben hatte man die Chance in einem nonkonformistischen Akt der Gesellschaft den Stinkefinger zu zeigen und dann musste man doch wieder opportun sein und schön brav den Anforderungen der Gesellschaft gerecht werden.

 Anstatt meinem Gewissen etwas abzuverlangen, was es gar nicht leisten konnte, hätte ich mich viel lieber offiziell dem Soldatentum verweigert. Ich wollte keine Uniform überstreifen, irgendwelche stumpfen Befehle ausführen und den letzten Rest meines menschlichen Verstandes bei jeder Gelegenheit in billigen Flaschenbier ertränken. Das war nicht meine Welt: Kameradschaft, Herumbrüllen, Korpsgeist, im Schlamm kriechen. Ich war ja eher ein Feingeist, sensibel und schüchtern.

 Ich wollte der Bundeswehr mich nicht zumuten. Da gab es genug Altersgenossen, die viel besser dort aufgehoben waren, weil sie sich mit nackten Oberkörper grunzend im Schlamm und Testosteron wälzen und dabei den Helden spielen wollten.

 Aber ich schrieb brav den Aufsatz und schickte ihn weg.

 Meine Anerkennung kam und bald darauf der „Einberufungsbefehl“ zum Zivildienst und ich musste mir eine Stelle suchen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Plätze für Zivildienstleistende rar. Da mein Bruder zwei Jahre vorher schon eine Stelle als Gemeindezivi in der katholischen Kirche ergattert hatte, habe ich mich beim Bistum Limburg beworben. Man hat mir die Stelle gegeben und im Sommer 1993 konnte ich in der katholischen Gemeinde St. Walburgis in Niedergirmes meinen Zivildienst antreten.

 Niedergirmes hat sich in den letzten hundertfünfzig Jahren vom kleinen Dorf in der Nähe von Wetzlar zum klassischen Arbeitervorort entwickelt. Viele Gastarbeiter hatten sich dort angesiedelt und sich neben der Ursprungsbevölkerung etabliert. Der Stadtteil hatte damals einen sehr schlechten Ruf, der z.T. auf  rassistischen Vorurteile gegenüber Gastarbeiter beruhte. Neben diesen zwei Bevölkerungsgruppen gab es noch eine starke Gruppe der Flüchtlinge, die nach dem zweiten Weltkrieg nach Wetzlar kamen, zumeist aus Schlesien, Spätaussiedler aus Polen inbegriffen. Dazu kamen in den Neunziger Jahren neue Flüchtlinge aus der Türkei, Jugoslawien, Afrika und Asien. Die Flüchtlinge lebten im wahrsten Sinne am Rande der Gesellschaft. Ihre Unterkünfte befanden sich zwischen verkehrsreichen Ausfallstraßen und dem Buderuswerken. Niemand nahm Notiz von den Flüchtlingen. Sie lebten in abbruchreifen Häusern, in denen ansonsten niemand mehr wohnen wollte.

 Meine Aufgaben als Gemeindezivi waren sehr vielfältig. Ich sollte mich um ältere Gemeindemitglieder kümmern, sie zu Hause besuchte, ihnen Gesellschaft leisten oder mit ihnen einkaufen gehen.

 Die Arbeit mit Flüchtlingen war relativ neu hinzugekommen und umfasste Besuche der Flüchtlingsunterkünfte, Unterstützung der Flüchtlinge im Alltag, bei Behördengängen und ähnlichem. Die Flüchtlingsarbeit war in der Gemeinde umstritten. Bischof Kamphaus, der mich ein paar Jahre zuvor gefirmt hatte, war mittlerweile zu einer der wenigen kritischen Stimmen innerhalb der katholischen Amtskirche herangewachsen. Zu diesem Zeitpunkt waren deutsche Bischöfe konservative Erfüllungsgehilfen des Stellvertreter Gottes auf Erden. Bischof Kampfhaus war eine Ausnahme. Kamphaus war z.B. der einzige Bischof in Deutschland, der die Beratung von abtreibungswilligen Schwangeren entgegen der Anweisung vom Papst weiter durchführen ließ.

 Zu dieser Zeit war die Stimmung gegenüber Flüchtlingen sehr aufgeheizt. Für viele Menschen und auch Politiker war Flüchtlinge keine Menschen die Schutz brauchten, sondern Asylanten, die in die Sozialsysteme einwanderten und ihren Status als Flüchtlinge missbrauchten, um die Deutschen und ihren tollen Sozialstaat auszunutzen. Damals brauchte es keine AFD, um die Stimmung anzuheizen. Rassismus war Staatsräson. In Hessen gab es CDU-Politiker wie Manfred Kanther (der zu der Zeit Bundesinnenminister war), die Positionen einnahmen, die heute von der AFD vertreten werden. Sogar die SPD hat sich damals nicht mit Ruhm bekleckert, denn als es darum ging, den Asylanten endlich in Schranken zu weisen, in denen man sie schlechter stellte als einen „deutschen“ Sozialhilfeempfänger, stimmte die SPD im Bundestag für das Asylbewerberleistungsgesetz.

 Diese Stimmung gegen Flüchtlinge beherrschte auch den Diskurs innerhalb der katholischen Gemeinde in Niedergirmes. Es gab viele Gemeindemitglieder, die diese Arbeit mit Nichtchristen als unnötig betrachteten und das obwohl viele dieser Menschen selbst die Ausgrenzung als Flüchtling eine Generation früher erlebt hatten. Von dieser Seite bekam ich immer wieder Druck. Dazu kam, dass mein Vorgesetzter, der Priester der Gemeinde, ein ehemaliger Militärpfarrer war.

 Das erste Gespräch mit ihm begann mit der Frage, ob ich wisse, dass er Militärpfarrer gewesen sei. Nach einer kurzen Pause fügte er noch hinzu, dass ich mir ja dann vorstellen könne, was er von mir und meiner Tätigkeit hielte.

 Also hatte ich den Bischof auf meiner Seite und seinen Angestellten und seine Gemeinde gegen mich. Ich war jung, naiv und nahm diese Ablehnung sehr persönlich. Später habe ich begriffen, dass Engagement heißt, im Sturm gegen den Wind anzurennen. Wenn man etwas bewegen will, muss man sich sein Freunde und Feinde erst einmal verdienen.

 Ich habe in der Gemeinde sehr liebe Menschen gefunden, die mich unterstützt haben und die dafür gesorgt haben, dass ich mich auch über weite Strecken sehr wohl fühlen durfte. Ich bin vielen interessanten Menschen begegnet. Ich habe durch diese Arbeit viel über mich und den Menschen an sich gelernt. Die Betreuung durch das Bistum Limburg war einmalig. Es gab jeden Monat ein Treffen der Gemeindezivis, wir hatten zwei wunderbare Seminarwochen und dort habe ich echte Freunde gefunden. Ein Freund aus dieser Zeit ist mir bis heute geblieben. Christian war damals Zivi in Dillenburg und hat nach dem Zivildienst Philosophie, Mathematik und ich glaube Theologie in Siegen studiert und in Philosophie promoviert. Wir sehen uns heute noch mindestens einmal im Jahr und wir haben neben der Philosophie die Leidenschaft für Literatur, das Rauchen von Pfeifen und Zigarren miteinander gepflegt und alleine schon wegen dieser Freundschaft möchte ich die Zeit als Zivildienstleistender nicht missen.

   Durch diese Erfahrung hat sich meine Haltung zur katholischen Kirche zum Positiven geändert. Auch wenn es viel Gegenwind gab, habe ich doch viele Menschen kennengelernt, die weniger die Kirche als Ort gesehen haben, an welchem sie ihren Glauben ausleben können, sondern als gesellschaftliche Institution, die Schwächeren, ungeachtet ihrer Herkunft und ihrer Religion, Unterstützung und Hilfe anbietet. Diese Menschen rückten für mich in den Vordergrund und ließen mich fast dreißig Jahre lang an einen gesellschaftlichen Nutzen der Kirche glauben.

 Die Zeit verging schnell. Ich heiratete eine Katholikin, bekam mit ihr zwei Kinder, die wir taufen ließen. Die Ehe scheiterte und es kam zur Scheidung. Dann lernte ich meine jetzige Frau kennen, die ungetauft ist und noch nie einer Kirche angehört hat. Ich selbst bezeichnete mich mittlerweile als Agnostiker, der die Existenz Gottes nicht als Maßstab für sittliches Handeln sieht, sondern versucht, ein richtiges Leben im falschen zu führen. Obwohl meine Frau und ich in solchen Dingen ähnlich ticken, gibt es zwischen uns beiden einen großen Unterschied. Ich bin nun einmal in der katholischen Kirche groß geworden und hänge mehr an ihren Ritualen, als ich mir eingestehen will. Eine gesetzliche Scheidung hat in der Kirche keine Wirkung und sie straft mich mit Ausschluss von den Sakramenten. Ich hätte nicht gedacht, dass ich diesen armseligen und lächerlichen Anachronismus ernst nehme. Die Kirche schließt Menschen aus, die einen Spagat zwischen Religion und weltlichem Leben hinbekommen wollen. Ich habe mich dem widersetzt, indem ich trotzdem zur Kommunion gegangen bin. Seltsamerweise habe ich mich danach unendlich schlecht gefühlt. Ich habe dann darüber Witze gemacht. Wenn ich die Hostie in den Mund nähme, träfe mich vielleicht der Zorn Gottes in Form eines Blitzes, der mich dann niederstreckt. Die frühe Begegnung mit den Riten der Kirche hat mich mehr beeinflusst als mir lieb war. Dieses miese Gefühl habe ich viele Jahre mit mir herumgeschleppt und jeder, der mich gefragt hat, warum gerade ich noch in der katholischen Kirche bin, bekam zur Antwort, dass ich nun einmal katholisch erzogen sei und ich im Zivildienst eine lebensnahe Kirche erlebt habe. Ich habe auch immer von Bischof Kamphaus und seinem Engagement geschwärmt. Meine Hoffnung war, dass dieser Typus Mensch irgendwann in der katholische zu Macht gelangt, um sie zu reformieren.

 In den letzten Jahren ist viel passiert, aber die Katholische Kirche trotzt allen Reformen. Wir haben einen deutschen Papst bekommen, der noch konservativer war als sein konservativer Vorgänger. Bischof Kamphaus hat man durch einen geltungssüchtigen und scheinfrommen Bischof ersetzt, der viel Geld für Dienstwagen und eine Residenz ausgegeben hat und dann auch schnell wieder gehen musste. Der fürchterliche Missbrauch vieler Kinder und Jugendlichen durch Priester kam ans Tageslicht und damit die Erkenntnis, dass die katholische Kirche ein eigener Staat im Staat ist, der aber gerne die weltlichen Kirchensteuern und Subventionen vom säkularen Staat kassiert.

 Aber auch das habe ich jahrelang beobachtet und daraus keine Konsequenzen gezogen. Im Gegenteil: ich habe die Gemeinschaft der katholischen Christen noch verteidigt, weil ich mich an die Hoffnung auf Reformen klammerte. Als ich zum ersten Mal vom synodalen Weg gehört hatte und dem Ansinnen einiger deutscher Bischöfe bedeutsame Reformen in der Kirche anzustoßen, habe ich gedacht, dass jetzt eine Veränderung kommt, die mein Beharrlichkeit rechtfertigt. Man hat lange und viel miteinander diskutiert und in Rom hat man die Bemühungen einfach abgetan. Man will keine zweite evangelische Kirche sein. Die katholische Amtskirche möchte der exklusive Club alter Männer im Rock bleiben, die ihre unverständlichen Riten bis zum Ende aller Zeiten pflegen wollen, entgegen den Menschen und ihre Belange.

 Dann war ich dieses Jahr auf einer Gewerkschaftsveranstaltung zum 1. Mai und musste erleben, wie Rechte von AFD, NPD und Querdenkern die Redner niedergebrüllt haben. Man konnte sich nur schwer dem Hass und der Hetze entziehen. Wir haben uns machtlos gefühlt.

 Das hat in mir einen Denkprozess angestoßen. Warum unterstützte ich einen menschenverachtenden, undemokratischen Club wie die katholische Kirche, wenn auf der anderen Seite unsere Demokratie und ihre Vertreter von undemokratischen Schreihälsen in Frage gestellt werden. Dann stand der Entschluss fest: nach zweiundfünfzig Jahren verlasse ich die katholische Kirche und trete in die Verdi ein…wahrscheinlich viel zu spät…aber hoffentlich noch rechtzeitig.

Austreten – Eintreten / Teil zwei

Während der nächsten Jahre hielt ich mich von katholischen Messen fern und während der Pubertät weitete sich mein Horizont. Es gab bei uns im Ort eine große evangelische Gemeinde. Die evangelische Kirche vermittelte eine zeitgemäße und lockere Haltung zum christlichen Glauben. Es gab Pfarrer und Pfarrerinnen, die auch noch eine Familie hatten, coole Jugendbetreuter und Konfirmationsfreizeiten, die eher Klassenfahrten glichen. Viele meiner Altersgenossen hatten ein entspanntes Verhältnis zur Religion. Die Konfirmation war eher der Tag des ersten Vollsuffs als der Tag der religiösen Erweckung.

  Zwischen dem dreizehnten und siebzehnten Lebensjahr gab es für uns Jungs nur drei Themen: Fußball, Alkohol und Mädchen. Man traf sich mit Freunden auf den Spielplatz, um sich bei Flaschenbier gegenseitig die Säcke vollzumachen. Mitte der Achtziger schien auch das Leben der Erwachsenen nur aus Arbeit und Konsum zu bestehen. In dieser Welt war wenig Platz für die großen Fragen. Über Politik und Religion sprach man selten. Es waren wilde Zeiten: Aids, Tschernobyl, Startbahn West, Nato-Doppelbeschluss, Kalter Krieg, Hunger in Äthiopien. Alle das schien auf einem anderen Planeten stattzufinden. Falls unsere Eltern mit anderen Erwachsenen über das Weltgeschehen sprachen, dann in kleinen konspirativen von Zigarettenrauchnebel umwobenen Zirkeln, bei einem frisch gezapften Bier, beim Sport und in der Kneipe.

 Meine Eltern sind misstrauische und unsichere Persönlichkeiten, deren Gläser eher halb  leer als halb voll sind. Ihnen ein ausgeprägtes politisches Bewusstsein zuzuschreiben, wäre zu weit gegriffen. Aber sie hatten eine konkrete Vorstellung vom mündigen Bürger, der sich gefälligst mit Politik auseinander zu setzen hatte. Aufgrund ihrer Bildungshistorie war es auch nicht zu erwarten, dass es Ihnen einfach fiel, sich komplexes Hintergrundwissen über das Weltgeschehen anzueignen. Mein Vater ging nach acht Jahren Volksschule in die Lehre und meine Mutter hatte nach der mittleren Reife eine kaufmännische Ausbildung gemacht. Sie waren nicht in der Lage als zur Verfügung stehenden Informationsquellen anzuzapfen, aber sie vermittelten mir, dass man mit wachen Blick die Geschehnisse in der Welt wahrnehmen muss. Meine Eltern schauten abends die Nachrichten im Fernsehen, lasen morgens beim Frühstück die Tageszeitung, im Hintergrund liefen im Radio die Nachrichten. Meine Eltern lasen zudem den Stern und später auch den Spiegel.  

 Zum Erwachsenwerden gehörte bei uns in der Familie die politische Diskussion am Küchentisch. Je älter ich wurde, je mehr ich meine eigene politische Meinung entwickelte und artikulieren konnte, desto hitziger wurden die Debatten am Küchentisch. Mein Vater hätte sich nie einer politischen Richtung zugeordnet. Er wusste, was er nicht sein wollte: Rechts. Meine Eltern sind Demokraten durch und durch und sie hätten es nie geduldet, wenn ich rechte Tendenzen gezeigt hätte. Meine linken Tendenzen konnte sie aushalten, aber nur unter Schmerzen. Die Sozis waren nur geduldet. Sie nahmen es der SPD übel, dass sie gerne ihnen, die hart für ihren Wohlstand arbeiten mussten, Geld durch Steuererhöhungen wegnahmen, um es für soziale Wohltaten zu verwenden. Dort beim Mittagessen, am Frühstückstisch in der Diskussion mit meinem Vater, habe ich gelernt zu diskutieren, andere Perspektiven anzuerkennen oder meine Meinung mit Argumenten zu untermauern. Ab dem neunten Schuljahr entwickelte ich mich zum Klugscheißer. Ich wollte jede Debatte gewinnen. Also eignete ich mir Wissen an, versuchte historische Kontexte zu erfassen, sie einzuordnen und zu vergleichen. Ich habe bei meinen Eltern gesehen, dass sie zwar intuitiv sich eine Meinung bilden konnten, aber sehr leicht zu manipulieren waren. Für meine Generation war der Erwerb von Wissen kein Luxus mehr. Politische Bildung war ab der achten Klasse Teil des Schulunterrichtes. Leider haben nicht alle meine Altersgenossen ihren Vorteil erkannt. Das Ideal der Aufklärung hatte sich in den siebziger und achtziger Jahren vollkommen entfaltet, wurde aber gleichzeitig vom Ideal des Kapitalismus überstrahlt. Für viele meiner Altersgenossen stand der zügellose Konsum im Vordergrund und Wissen war nur etwas für picklige und hässliche Spinner. Man kokettierte gerne mit seiner Unwissenheit und stempelte Menschen, die freiwillig in ihrer Freizeit Bücher lasen, als Langweiler ab.

 In unserer Schule gab es doch einige Lehrer, die in den späten Sechzigern, frühen Siebzigern studiert hatten und an denen die Studentenbewegung nicht spurlos vorbeigegangen war. Mein Deutschlehrer war so ein Mensch: ein Hüne, der stets schwarze Rollkragenpullis, lange fettige Haare und einen Rauschebart trug. Er war streng, zynisch und elitär. Aber immer darauf bedacht in großen Zusammenhängen zu denken. Ich hatte keine guten Noten in Deutsch, blühte trotzdem völlig bei ihm auf. Dieser Lehrer wurde zu meinem großen Vorbild, da er anscheinend alle existierenden Bücher gelesen und verstanden hatte und ein Charisma besaß, das nicht nur mich inspirierte

 Spätestens beim Übergang zur Oberstufe hatte ich Blut geleckt. Ab der elften Klasse war ich Stammgast in der Schulbibliothek und begann philosophische Texte zu lesen. In vielen Dingen war ich Autodidakt. Ich war verdammt schüchtern und unfähig, mir jemanden zu suchen, der mir etwas beibringen konnte. Ich weiß nicht mehr, wie ich an Camus geraten war und ich weiß auch nicht mehr, warum ich glaubte, „Das Sein und das Nichts“ von Sartre lesen zu müssen. In der elften Klasse habe ich mich anfangs noch mit Descartes und Rosseau auseinander gesetzt. Es kann aber auch sein, dass ich damals schon Karl Jaspers gelesen hatte, der mir mit der „Philosophie der Weltanschauungen“ den Weg gewiesen hat und das ich über ihn an die Existenzialisten geraten war.

 Während der ganzen Schulzeit besuchte ich den katholischen Religionsunterricht. Ich hatte dort immer gute Noten und viele Themen haben mich auch interessiert. Schon damals hat man sich im Unterricht mit den anderen Weltreligionen auseinander gesetzt. Das fand ich äußerst spannend, hatte ich doch während meiner Kindheit in der Kirche vermittelt bekommen, dass der Katholizismus den einzig wahren Glauben darstellte. Schließlich hat Gott ja den Christen seine Botschaft verkündet und nicht den anderen. Im säkularen Religionsunterricht lernte ich genau das Gegenteil. Alle Religionen waren gleichwertig. Die Wahrheit an sich gab es nicht. Die Existenz Gottes war wissenschaftlich nicht beweisbar. Glauben war relativ und Religion versuchte nur einen Rahmen für den Glauben an einen oder mehrere Götter zu geben.

 In der zwölften Klasse übernahm ein Lehrer den Religionsunterricht, der mich die nächsten Jahre sehr stark beeinflusste. Wie ich später erfuhr, wollte er in seinen jungen Jahren Priester werden, hatte aber Schwierigkeiten mit dem Zölibat, lernte seine Frau kennen, zog mir ihr drei Kinder auf und wurde Religionslehrer. Er war der erste Mensch mit dem ich leidenschaftlich über Religion und Philosophie diskutieren konnte. Er empfahl mir Hans Küngs „Existiert Gott?“ zu lesen. Das Buch hatte ich verschlungen. Zu der Zeit gehörten auch die verschiedenen Philosophierichtungen zum Lehrplan in Religion. Ich hielt mich für einen Experten auf dem Gebiet. Obwohl mein Wissen aus heutiger Sicht eher als laienhaft zu bezeichnen war, hatte ich mir mit meinen vorlauten Wortbeiträgen die Aufmerksamkeit meines Lehrers bekommen. Ich kam auch nachdem Unterricht mit ihm ins Gespräch. Bis zum Abitur und darüber hinaus gab es mehrere private Treffen, die nur dazu dienten, sich über Religion, Kirche und Philosophie auszutauschen. Ich fühlte mich in dieser Zeit phantastisch. Ich blühte sozial wie intellektuell auf und hatte meine Bestimmung gefunden. Ich war der nervende Klugscheißer, der stundenlang über ein Thema referieren konnte, dabei eine Zigarre rauchte, seine Nase in eine Menge edlen Whiskey tunkte und aufgeputscht von seinen eigenen Thesen die Welt durchdrang.

 Mein mündliches Abitur legte ich im Fach Religion ab. Ich sollte den Freiheitsbegriff im Christentum und im Existenzialismus vergleichen. Ich hatte mich einigermaßen tapfer geschlagen und bekam zwölf Punkte. Damals merkte ich schon, dass mein Autodidaktentum mich schnell an meine Grenzen brachte und da ich finanziell unabhängig von meinen Eltern sein wollte, begann ich nach dem Abitur anstatt eines geisteswissenschaftlichen Studiums eine Ausbildung bei der ortsansässigen Sparkasse.

 Ich hätte gewarnt sein sollen, als mein Vater mich dafür lobte, dass ich doch jetzt so eine tolle Ausbildungsstelle bekommen hätte.

Austreten – Eintreten / Teil eins

Ich habe es getan: Ich bin aus der katholischen Kirche ausgetreten. Mit einer einfachen Unterschrift auf einem Tablet habe ich meine Mitgliedschaft bei diesem Verein beendet. Ich hätte nicht erwartet, dass es mir letztendlich doch so einfach fällt.

 In meinem Umfeld gibt es einige Menschen, die keinerlei Beziehung zu einer Religionsgemeinschaft haben, andere sind einer Religionsgemeinschaft angehörig, ohne die Religion auszuüben und wiederum andere haben einen engen Bezug zu ihrer Religion.

 Ich gehöre zu keiner dieser Gruppen. Mein Verhältnis zur Religion war seit meiner Kindheit nie eindeutig, eher verschwommen, schwer zu umschreiben, voller Ambivalenzen.

 Obwohl meine Eltern wenig Bezug zur katholischen Kirche haben, bin ich katholisch erzogen worden. In der Generation meiner Eltern hatte die Zugehörigkeit zu einer christlichen Religion noch eine andere Bedeutung. Sie war Zeichen von Zugehörigkeit und diente viel stärker der sozialen Kontrolle. Meine Mutter ist Protestantin. Hier in Mittelhessen ist die evangelische Kirche seit Jahrhunderten die mitgliederstärkste Religionsgemeinschaft. Erst nach dem Krieg mit der Ankunft vieler Flüchtlinge aus dem Osten (Schlesier und Sudetendeutsche) bekamen die kleinen katholischen Gemeinden starken Zuwachs. In Wetzlar gibt es alleine vier katholische Kirchen, die nach dem zweiten Weltkrieg gebaut wurden (St. Markus, St. Walburgis, St. Bonifatius, St. Elisabeth). Mein Vater ist Sudetendeutscher und katholisch. Meine Eltern haben in den späten sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts geheiratet und laut der Familienlegende war die Heirat aufgrund der Herkunft meines Vaters nicht unumstritten. In der Regel stimmen Priester einer Eheschließung nur zu, wenn man verspricht, die Kinder aus der Ehe im katholischen Glauben zu erziehen. Meine Eltern hätten sich an das Versprechen nicht halten müssen. Aus irgendeinem Grunde haben sie sich verpflichtet gefühlt und so wurde ich katholisch getauft, ging ich mit acht Jahren in den Kommunionsunterricht und musste 1981 am weißen Sonntag zum ersten Mal vom Leib Christi naschen. Ich habe noch sehr deutliche Erinnerungen an diese Zeit. Erst einmal war der Kommunionsunterricht wider Erwarten sehr lehrreich. Ich hatte zum ersten Mal Kontakt mit der christlichen Lehre und den Geschichten aus dem neuen Testament. Wir hatten einmal in der Woche Unterricht bei einem Ehepaar, das bei uns in der Straße wohnte, liebevoll mit uns umging und darauf achtete, uns die Inhalte kindgerecht näher zu bringen. Ende der Siebziger Jahr war das nicht selbstverständlich, schließlich galt die katholische Kirche schon immer als konservative und rückwärtsgewandte Institution. Die Widersprüche zwischen Außenwirkung und innere Haltung erkannte ich schon früh. Die Gemeinde St. Markus war relativ jung und man hatte gerade ein neues modernes Gotteshaus errichtet. Ein schicker niedriger Bau, ohne Kirchturm und mit viel Sichtbeton. Der Priester dagegen war ein eigensinniger, distanzierter und emotionsloser Hirte, der bei der Messe mit dem Zeigefinger seine Schäfchen abzählte. Ihm war es sehr wichtig, dass ihm keines seiner Schäfchen abhandenkam. Schließlich waren die Verlockungen der Moderne zu groß. Die Schäfchen waren nicht frei von Sünde und konnten jederzeit den Versuchungen erliegen.

 Im Kommunionsunterricht lernte ich früh, dass in der christlichen Lehre der Begriff der Nächstenliebe eine zentrale Bedeutung hatte. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Jesus war ein Vorbild, selbstlos, ohne Allüren, ein einfacher Mensch, der sich um die sozial Schwachen kümmerte und selbst nur der Sohn eines Zimmermanns war. Dagegen stand der Prunk und die Hierarchie in der Amtskirche, alte Männer im Rock, die mit alten Ritualen und Dogmen die Gläubigen an die Kirche zu fesseln versuchten. Die Messe am Sonntag dauerte bis zu zweieinhalb Stunden, davon verbrachte man fast die Hälfte auf Knien und in Büßerhaltung. Die Predigt, die ganzen Sprüche und Formeln klagen hohl und unverständlich. Ich hatte die Messe als eine Veranstaltung des schlechten Gewissens erlebt. Als armer, schwacher Mensch, musste man jede Sekunde seines Lebens auf der Hut vor sich selbst sein. Daher hatte ich auch unheimlich Angst vor der ersten Beichte. Wer ein Sakrament erhält, muss vorher beichten. Ein zehnjähriger, der erklären muss, dass er unkeusche Gedanken hat, seine Eltern nicht ehrt und lügt und betrügt, wenn er die Hausaufgaben nicht macht, kann sich nicht frei fühlen und ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln.

 Die Feier meiner Erstkommunion war für mich die Hölle, ich war unsicher, fühlte mich verloren und sie endete damit, dass ich Windpocken bekam. Während meine Familie und meine Verwandten feierten, lag ich im Bett und wurde von Fieberträumen geplagt.

 Mit zwölf Jahren habe ich das nächste Sakrament erhalten: die Firmung. Wieder gab es Unterricht und in Vorbereitung zum Sakrament die obligatorische Beichte. Seit Jahren erduldete ich nun die langweiligen Messen, das falsche Pathos, die gesalbten und heiligen Bewegungsabläufe, einstudiert und einzementiert in die Ordnung einer Amtskirche, die wenig Spielraum für Abweichung zulässt. Ich hoffte mit der Firmung von der Verpflichtung, Sonntagsmessen besuchen zu müssen, befreit zu werden. Ich konnte die Messdiener, Ihr Gebimmel, ihre gewichtigen Schritte, ihre Verbeugungen, ihr stundenlanges Verharren auf den Knien und das arrogante, ausdruckslose Gesicht des Priesters, das Erheben der Hostie, das Nippen am Kelch, das unheimlich affektierte Abtupfen seiner Lippen nach dem Genuss des Blutes Christi, das Weihrauchgedöns und seine unheimlich tristen und von Phrasen durchseuchten Predigten nicht mehr länger ertragen. Ich sehnte mich nach dem Tag der Firmung, weil es meine letzte Messe sein sollte und ich bald jeden Sonntagmorgen ausschlafen konnte.

 Die Firmung war bei weitem nicht so feierlich wie die Erstkommunion. Es wurden nicht alle Verwandten vorgeladen, keine großen Geschenke verteilt und man erwartete nicht, dass wir uns in dunkle Samtanzüge oder weiße Spitzenkleidchen zwängten.

 Die Firmung wird vom Bischof vorgenommen. In unserem Falle war das Bischof Franz Kamphaus. Wetzlar gehört zum Bistum Limburg. Der Dom in Limburg an der Lahn ist vielen Menschen außerhalb Hessens bekannt, weil er bis 1992 auf der Rückseite des 1000 DM-Scheines zu sehen war. Franz Kamphaus hatte sein Amt noch nicht lange inne und viele haben ihn damals in der der Messe als sehr zugewandt und freundlich erlebt. Er schien frischen Wind in das Bistum zu bringen und die Gemeindemitglieder schienen erleichtert zu sein, dass er menschlich und nahbar wirkte. Der frische Hauch der durch den Kirchraum wehte und den Weihrauchmief vertrieb, nahmen sogar wir Firmlinge wahr.

 Trotzdem war für mich mit der Firmung die Angelegenheit erledigt. Ich wollte nichts mehr mit dieser Zwangsgemeinschaft der Christen zu tun haben.

Du bist so dünn! Hast du Krebs?

Es gibt manchmal Begegnungen mit Menschen, die mich fassungslos und irritiert zurücklassen. Leider ist mir das in letzter Zeit mehrfach passiert.

 Meine Geschichte fängt aber viel früher an:

 Von Natur aus bin ich ein langer dürrer Spargel. Das hat sich im Laufe der Jahre geändert. Stress, Frust und viel schlechte Laune ließen meinen Bauch heftig anwachsen. Fettes Fleisch, fettige Pommes, fettige Chips und Schokolade dominierten lange Jahre meinen Speiseplan und haben dafür gesorgt, dass ich mir meine Sorgen schönfressen konnte.  

 Dann kamen mit Mitte vierzig die ersten Anzeichen gesundheitlicher Beeinträchtigung. Mein Blutdruck war schon leicht erhöht. Bei körperlicher Anstrengung habe ich übermäßig geschwitzt und nach Luft geschnappt. Dazu kamen undefinierbare Verdauungsprobleme. Dann haben sie mir meine Gallenblase herausoperiert. Das viele Fett überforderte dieses kleine Organ und hatte es beinahe zum Platzen gebracht. Ich wusste, wenn ich jetzt nichts unternehme, schädige ich auch viel wichtigere Organe. Die Aussicht auf ein verkürztes Leben mit vielen Medikamenten und Krankenhausaufenthalten hat bei mir zu einem Sinneswandel geführt.

Ich habe das Joggen für mich entdeckt, meine Ernährung konsequent umgestellt und innerhalb von zwei Jahren 25 Kilo abgenommen. Jetzt bin ich wieder ein schlanker Spargel, fühle mich topfit und vor allem bin ich vollkommen gesund. Die dazugewonnene Lebensqualität hat mich selbst völlig überrascht.

 Menschen, die mich längere Zeit nicht gesehen haben, haben mich auf die Veränderung meines Erscheinungsbildes angesprochen. Durchaus neugierig hat man mich gefragt und sich mit mir gefreut, dass ich mich gut und gesund fühle. Da waren viele schöne Gespräche dabei, die Zustimmung hat mich motiviert und bestärkt, manche Bewunderung hat mir geschmeichelt.

 Dann gab es aber andere Menschen, die ich sehr lange kenne und die mich auch längere Zeit nicht gesehen hatten und die Gespräche mit dem Satz angefangen haben:

„Du bist so dünn, hast du Krebs?“

Ich war völlig perplex. Sie hatten mich aus der Ferne beobachtet und seltsame Schlüsse gezogen. Wenn ich Ihnen erklärt habe, dass ich völlig gesund sei und den Grund für meine Gewichtsabnahme dargelegt habe, schienen sie fast enttäuscht zu sein.

„Du bist wirklich nicht krank?“

Wie kommt aus solchen Gesprächen wieder heraus? Am besten man wechselt das Thema und redet über das Wetter.

Manchmal tummele ich mich im Internet und schreibe dort mit wildfremden Menschen. Ich bezeichne mich selbst als Menschenfreund, der gerne etwas über andere Menschen erfährt, andere Perspektiven kennenlernen möchte und es nicht verstehen kann, dass viele Menschen gerade im Internet Streit suchen, um ihre schlechte Laune an anderen auszulassen.

 Einmal habe ich mit einem Mann geschrieben, in meinem Alter, sehr nett und höflich und plötzlich ohne Anlass bewertete er ein Foto von mir.

„Bist ganz schön dünn. Siehst ungesund aus.“

Weil er nett zu sein schien, erzählte ich ihm alles über meinen Werdegang. Auch beim Lesen von Texten, kann man anscheinend nicht zuhören, denn er antwortete mit:

„Aber du siehst schlecht aus.“
Ich habe es noch einmal versucht, und ihm erzählt, wie gut ich mich fühle und das es keinen Grund gibt, sich Sorgen um mich zu machen. Ich bin beim Schreiben immer sehr bedacht, freundlich zu bleiben. Schließlich lauern anscheinend alle im Internet und warten nur auf den Moment, in dem sie Beef anfangen können. Wahrscheinlich hatte ich mir, ohne es zu ahnen, ein solches Exemplar eingefangen, denn er reagierte auf meine Ausführungen mit einer ziemlich zornigen und plumpen Antwort.

„Du kannst mir meine Meinung nicht nehmen. Wenn ich sage, dass du ungesund aussiehst, dann hast du das gefälligst zu akzeptieren.“

Ein Aspekt der modernen Kommunikation hatte ich natürlich schmählich vergessen: Das Pochen auf die Meinungsfreiheit. Es impliziert für viele das Recht, alles sagen zu dürfen, auch wenn es verletzend oder dumm oder sogar Beides ist. Wer Meinungen austauscht, verlässt schnell den Debattenpfad. Er begibt sich in eine Dynamik, die nur zum sogenannten Canceln führen kann. Weil unsere Meinungen diametral gegenüberstehen müssen wir uns hassen und nachdem wir uns angebrüllt und beschimpft haben, drücken wir auf Ignorieren und haben es uns richtig gezeigt.

 Man hat ja dann schnell Erklärungen, warum Kommunikation heutzutage manchmal so schwierig ist. Soziale Netzwerke, die allgemeine Verrohung der Gesellschaft, der schwierige politische Diskurs, die Spaltung der Gesellschaft…

 Solche Schlagwörter und Allgemeinplätze können nicht erklären, warum Kommunikation mit manchen Menschen einen merkwürdigen Verlauf nimmt. Vielleicht bedarf es auch keiner Erklärung. Der Andere ist die Hölle, hat ja mal Sarte gesagt und das wird ja oft in solchen Zusammenhängen zitiert, aber vielleicht hätte Sartre auch noch hinzufügen sollen, dass die Anderen immer auch wir selbst sind und wir selbst die Hölle für andere sind.

 Wir können manchmal nicht über unseren Schatten springen, weil nun einmal eigenständige und eigensinnige Einheiten sind. Die Schatten sind allerdings kürzer, die Räume in denen wir uns bewegen, sind enger geworden. Die Versprechungen des Internetzeitalters, dass die Welt zu uns nach Hause kommt, verknüpft mit der Möglichkeit des globalen Austausches von Waren und Dienstleistungen haben uns überfordert. Die meisten von uns waren vorher einfache Dorfmenschen. Übrigens leben auch viel Städter nur in ihrem Viertel und verlassen selten die ausgetretenen Pfade des Alltags. Unsere einzigen Bezugspunkte orientierten sich an der Kirchturmspitze in der Dorfmitte. Nun kommt die Welt zu uns und wir haben nicht nur unsere Bezugspunkte verloren. Man sieht einfach, wer wir wirklich sind. Nicht die netten Wilden aus dem Nirgendwo, die freundlichen Eingeborenen aus irgendeinem abgelegenen Kuhkaff, die hippen, legeren Metropolenhopper, Bergekletterer, Deichhocker, Waldschrate, Inselgemüse und Dialektmurmler, sondern bösartige und missgünstige Individuen, die nur darauf warten, anderen auf die Fresse zu hauen….