
Es ist der Tag vor Heiligabend. Man packt Geschenke ein, stellt den Baum auf, kocht die ersten Gerichte für das Essen am nächsten Tag, macht die letzten Einkäufe und wartet auf die Verwandtschaft und das Christkind. Wir mussten am Abend noch der Reihe 3 im Stadttheater Gießen einen Besuch abstatten. „Dumme Jahre“ wurde geboten, das erste Stück unseres Theaterabonnement in unserer neunzehnten Spielzeit. Am Tag vorher hatte ein psychisch kranker Mann mit seinem Fahrzeug ganz in der Nähe des Theaters mehrere Menschen verletzt. Auf dem Weg zum Theater sprechen meine Frau und ich über den Vorfall. Kurz darauf verliere ich einen Gedanken an die Menschen, die in irgendeiner Art und Weise durch den Täter zufälligerweise in die Sache mit hineingezogen wurden und für die Weihnachten ab sofort mit Schmerz und Leid verbunden ist. Es mag sich wie Empathie anfühlen, ist aber nur ein Reflex ohne wirkliches Empfinden. Zu oft lässt es diese Gesellschaft zu, dass Kraftfahrzeuge sich in Waffen verwandeln und Menschen Ihnen schutzlos ausgeliefert sind. Es wird in Kauf genommen. Man empört sich über angebliche Zusammenhänge, wie die Herkunft des Fahrers und schnell hat man eine laute Masse an geistigen Brandstifter am Bein, die etwas von Massenvergewaltigungen, Umvolkung und Asylwahnsinn brabbeln. Ich bin erschöpft. Nichts daran berührt meine Erkenntniskraft. Die Tatsachen liegen vor mir, aber sie erreichen mich nicht, ich kann keine Schlüsse daraus ziehen. Meine Frau fragt mich, was ich von dem Theaterabend erwarte. Ich hoffe, dass es irgendeine Szene gibt, die mich zum Heulen bringt. Sie reagiert verwundert. Was soll ich sonst sagen? Ich bin leer. Ein anstrengendes Jahr liegt hinter mir. Viel Stress, wenig Ruhe, die Welt wird immer verrückter, mein Vater ist gestorben, ohne sich mit mir versöhnen zu wollen, kleine gesundheitliche Probleme, es fehlt das Gleichgewicht. Irgendetwas muss mich mal affizieren, aufwecken, anregen, in Unruhe versetzen.
„Dumme Jahre“ dreht sich um die Liebes- und Lebensgeschichte eines ostdeutschen Paares. Wir begleiten Regine und Wolfgang durch den Wandel der Zeiten. Ihre Geschichte beginnt 1968 und endet in der Gegenwart mit Wolfgangs Tod. Regine pflegt ihren demenzkranken Mann und versucht sich zu erinnern. Weil Wolfang sich nicht mehr erinnern kann, lastet die Erinnerung alleine auf ihren Schultern. In Erinnerungsfetzen, kurzen nicht chronologischen Szenen, entsteht ein subjektiver Panoramablick auf ihr Ehe und ihr gemeinsames Familienleben, dass durch die politische Verhältnisse und gesellschaftliche Umbrüche geprägt ist. Das bruchstückhafte Erinnern lässt die Zeitebenen überlappen und die meiste Zeit stehen drei Regines auf der Bühne: die jugendliche Regine, verspielt, etwas naiv, die erwachsene Regine, Mutter, Ehefrau und Arbeiterin, die nach der Wende arbeitslos wird und die alte Frau Regine, die ihre Zeit mit Erinnerungen und der Pflege ihres Mannes verbringt.
Wolfgang will sich von Partei und Staat nicht vereinnahmen lassen. Mit seinem kritischen Geist fällt es ihm schwer, sich anzupassen. Nur aus Liebe zu seiner Frau und seinen Kindern spielt er mit, wird Busfahrer anstatt Orgelbauer und ab uns zu blitzt sein Rebellengeist durch. Regine ist durchdrungen von dem Gedanken, in Ostdeutschland eine bessere Gesellschaft mit aufzubauen und opfert sich als Arbeiterin für die Partei und Sozialismus auf. Nach der Wende verändern sich die Rollen. Wolfgang macht Karriere als Geschäftsführer der Verkehrsbetriebe, sieht Chancen in den neuen Zeiten und Regine, die lange arbeitslos bleibt, sieht sich als Opfer der Verhältnisse. Man spürt die Liebe und Zuneigung der Beiden zueinander, aber auch die Gegensätze und Brüche. Wolfgang scheint der aktive, weitsichtige und empathische Teil im Beziehungsgeflecht zu sein, während Regine im Laufe der Zeit abstumpft und den Blick für größere Zusammenhänge verliert. In einem spartanischen Bühnenbild, auf einer leeren Bühne baumeln zwei Plattenbauwände mit kahler Fensteröffnung, entsteht die anekdotenhaften Erinnerung an das Leben einer Familie, eingebettet in der deutschen Historie, die es irgendwie schafft, eine Familie zu bleiben. Das Alltagsdrama wird von engagierten, erfahrenen Schauspielern, die wir immer wieder gerne sehen, glaubhaft vermittelt und gerade Roman Kurtz zeigt seine eigene Klasse, die wir schon seit Jahren sehr schätzen, wenn er in einer Szene einen gestanden lebensfrohen Mann spielt und nach einem kurzen Szenenwechsel sich innerhalb von Sekunden in einen alten gebrechlichen Mann mit zitternden Händen und leeren Blick verwandelt. Das Stück nimmt mich mit und spätestens als Regine ihren demenzkranken Mann im ersten Teil des Stückes ihn in den Arm nimmt, ist es um mich geschehen und ich muss schlucken. Jetzt hat also dieses Stück meine Ansprüche erfüllt? Nur weil man mal einen Kloß im Hals hat, wird man nicht zum Helden des Mitgefühl. Wir sind hier nicht im Kino. Beim Theater geht die Suche nach Antworten tiefer über eine andere Form der Identifikation. Die mittlere Regine, die erschöpfte Arbeiterin, die nichts mehr erkennt und später aus ihrem gewohnten Leben herausfällt, ermöglicht mir eine angemessene Reflektion. Sie hat die Transformation gemeistert, die uns noch bevor steht. Mir fehlt der Blick für das große Ganze. Wie Regine, nimm ich mir nicht mehr die Zeit, hinzuschauen. Ich komme abends erschöpft nach Hause und sehe das Unheil nicht mehr, dass auf uns zukommt. Und das ist vielleicht der Grund, warum wir Menschen, die im Westen groß geworden sind, nicht hochmütig über die Lebensgeschichten von Ostdeutschen hinwegschauen sollten. Vielmehr kann man von ihnen und an ihnen lernen, wie es aussehen könnte, wenn wir aus unserem liebgewonnenen Leben herausfallen müssen, weil die Geschichte sich weiter dreht und es nicht gut mit uns meint. Insofern hat das Theater wieder einmal seine Aufgabe erfüllt.