
Sein wir doch ehrlich: niemand gibt gerne seine liebgewonnenen Annehmlichkeiten her. Auch wenn wir wissen, dass unsere Annehmlichkeiten für andere Menschen eine Zumutung darstellen. Wir gleiten gerne mit unseren Monsterkarren über breite Trassen, lassen Orte hinter uns und bewegen uns mit viel zu hoher Geschwindigkeit auf unser Ziel zu. Was rechts und links neben den Straßen passiert, ist uns ziemlich egal, solange wir schnell von einem Ort zu anderen kommen.
In Wetzlar gibt es eine monumentale Hochstraße, die die Stadt in das Wetzlar mit seiner pittoresken Altstadt und das Wetzlar mit seinen Industrieanlagen teilt. Die Hochstraße wurde vor ca. 50 Jahren als Teil der B49 gebaut, die von Limburg über Wetzlar nach Gießen führt. Für die Einwohner dieser Stadt gibt es seitdem keine Vorstellung von einem Leben ohne Hochstraße. Schließlich wird die Stadt nicht nur von seinen Industrieanlagen, sondern auch von seinen Straßen dominiert. Die Hochstraße dient als pulsierende Verkehrsader, die Menschen in die Stadt hinein- und hinausbringt. Der Wetzlarer ist es gewohnt, von Stahlbeton, Asphalt und Blechlawinen umgeben zu sein und plötzlich will man die Hochstraße abreißen. Die Hochstraße, dieses Denkmal der Moderne, in Beton gegossener technischer Fortschritt, stahlarmiert und angeblich unverwüstlich, ist marode und muss abgerissen werden.
In Wetzlar verhält es sich mit dem gesellschaftlichen Diskurs genauso wie überall im Land. Nach der Verkündung des Abrisses, erhob sich sofort ein Sturm der Meinungen. Und wie immer haben alle nur ihre eigenen Belange im Blick. Die Diskussion schwankt wie ein Schiff im Sturm um die Grundpositionen, ich will das alles so bleibt wie es ist, auch wenn ich weiß, dass es scheiße ist und na endlich verändert sich mal was. Es werden irgendwelche Scheinargumente in den leeren Raum hineingeworfen und als sachlicher Diskussionsbeitrag getarnt. Letztendlich reden alle mit sich selbst, anstatt miteinander.
Die Straße wird abgerissen und in der Stadt entstehen neue Freiräume für Wohnungen, Grünanlagen, Fahrradwege und ähnliches. Allerdings gibt es auch einen Ersatz für die Hochstraße. Denn die vielen Autos werden ja nicht weniger, obwohl das besser für uns alle wäre. Man führt nun den Verkehr vor Wetzlar durch einen neu gebauten Tunnel um Wetzlar herum. Dadurch wird eine Menge Fläche mit Beton und Asphalt versiegelt. Denn kein Politiker, der im Moment etwas zu sagen hat, möchte gerne davon ausgehen, dass weniger Autos in Zukunft auf der Straße fahren. Sobald die Geburtenrate bei uns um 0,1% sinkt, will man Schulen und Kitas schließen, keine Lehrer und Erzieher mehr einstellen. Aber wenn es vielleicht sein könnte, dass man nur den Hauch einer Verkehrswende hinbekommt und doch der ÖPNV ein wenig Verkehr von der Straße nimmt, baut man noch breitere Trassen, neue Brücken und Straßen, die man in vierzig oder fünfzig Jahren entweder erneuern muss oder abreißt, weil der Individual- und Güterverkehr deutlich abgenommen hat.
Nachdem mehrere Bürgerinitiativen und die üblichen Verdächtigen, sich vollkommen für ihre Sache aufgerieben hatten, hat man auf Landes- und Bundesebene Fakten geschaffen: die Hochstraße wird spätestens 2035 nicht mehr sein. Zuerst sprach man von einem Abriss in 2027, aber um den Abschiedsschmerz zu mildern und den Bewahrern des Wohlstandes und der Freiheit, die nun einmal durch Beton, Stahl und Monsterkarren repräsentiert werden, die Möglichkeit zu geben, sich würdig und ausdauernd zu verabschieden, hat man den Abrisstermin um ein paar Jahre verschoben. Aber ehrlich, zehn Jahre sind notwendig, um alle Maßnahmen zu treffen, die den vernünftigen Übergang für die Bewohner und die Verwaltung dieser Stadt ermöglichen. Nach dieser Entscheidung im Jahre 2023 erlahmte der Empörungswille vieler Beteiligter und das Thema geriet etwas aus dem öffentlichen Fokus.
Und dann vor ein paar Wochen erschienen diese zwei Artikel in der Lokalpresse:


Der eine Artikel erzählt von einer Vision, die zu schön klingt, um wahr zu sein. Eine Studentengruppe hat sich im Rahmen eines Projektes den Chancen gewidmet, die sich für die Wohnquartiere in der Innenstadt ergeben könnten: Neue günstige Wohnungen für Familien, ein neues Quartier eingebettet in das alte Viertel rund um den Bahnhof, mit einem Fahrradschnellweg, Carsharing-Angeboten, weniger Autos, viel Grün, viel Nachhaltigkeit. Wenn man weiß, wie in den letzten Jahren Wetzlar städtebaulich entwickelt wurde, erwartet man nichts von alledem.
Nachdem vor ca. 20 Jahren eine viel zu große Shoppingmall auf der anderen Seite der Hochstraße errichtet wurde, ist der Einzelhandel im Bahnhofsviertel völlig zu erliegen gekommen. Die alte Einkaufspassage aus den Achtzigern verlor ihre Mieter und das Kaufhaus machte dicht. Erst einmal hat man jahrelang den Leerstand hingenommen und dann plötzlich wollte man ein neues Quartier entwickeln: Nachhaltiges Leben am Fluss, für Familien mit einer eigenen Kita usw.
Nichts hat man entwickelt. Es wurden zwei Altersheime, drei Wohnklötze und ein absurd großes Parkhaus gebaut. Die Bauten hat ein großes und regional sehr bekanntes Bauunternehmen aus dem Boden gestampft, das darüber Pleite gegangen ist. Seltsamerweise hat das Projekt ein anderes Bauunternehmen übernommen, das alle größeren von Stadt angeschobenen Projekte in den letzten Jahren hat bauen dürfen. Die Wohnungen wurden an wohlhabende Menschen verkauft, die entweder die Wohnungen selbst nutzen oder hochpreisig vermieten wollten. Gleichzeitig hat man an der Stellplatzsatzung und Bebauungsplänen nichts geändert. Das hat man erst gemacht, als schon alle Gebäude standen. Das neue Quartier besteht aus sogenannten Kranhäusern. Kranhäuser verheißen ein Großstadtflair, das als Rechtfertigung für die Großstadtpreise für die Wohnungen dienen kann. Im Moment schafft die Stadt an der Lahn sogenannte Aufenthaltsqualität. Wenn man über den Bauzaun linst, sieht man schon wieder versiegelte Fläche und muss davon ausgehen, dass hier und da ein Alibi-Bäumchen oder Strauch gepflanzt wird. Man hat keine neue Kita eröffnet, aber wenigstens die Stadtbibliothek und der Volkshochschule in der Nachbarschaft angesiedelt und ein wenig Raum für sozialen Austausch geschaffen. An das Gebäude der Volkshochschule hat man noch ein Parkhaus drangeklatscht. Immerhin hat die Stadt im Zuge der Maßnahmen an der Lahn auch den Ausbau des Lahnradweges versprochen, der bisher vielfach durch Autoverkehr unterbrochen wird. Die Parkhäuser werden nicht genutzt. Niemand ist bereit, für Parkraum Geld zu bezahlen. Es gibt ja genug kostenlose Parkmöglichkeiten in der Fußgängerzone. Dort zu parken ist zwar verboten, aber wenn das Ordnungsamt nicht hinschaut, hat man eine super günstige Alternative zu den Parkhäusern. Nachdem die Anwohner sich über Krach und die vielen Falschparkern beschwert haben, will die Stadt nach Jahren das Gewohnheitsrecht der Falschparker brechen und die Fußgängerzone mit Poller absperren.
Jetzt ergibt sich eine neue Chance durch den Wegfall der Hochstraßen und junge Studenten geben sich viel Mühe mit ihren Plänen die möglichen Chancen aufzuzeigen und gleichzeitig steht in dem Artikel, dass die Studenten Baurecht und Eigentumsverhältnisse nicht berücksichtigt haben. Als Einwohner dieser Stadt, der die Entwicklung jetzt zwanzig Jahre beobachtet hat, glaube ich nicht, dass die Entscheidungsträger auf diese Studenten hören werden. Es wird wieder ein Investor sich die Hände reiben, das freiwerdenden Gelände wird verschachert und möglichst gewinnbringend ausgeschlachtet. Von einer städtebaulich den zukünftigen Anforderungen gerechten Entwicklung wird man nicht sprechen können.
Gerade der zweite Artikel gibt mir wenig Anlass, auf die Vernunft der Beteiligten zu hoffen. An diesem Artikel kann man erkennen, dass das es sehr viele Sachzwänge gibt und die Planer der Stadt Wetzlar mit einem hochkomplexen und daher fehleranfälligen Sachverhalt auseinandersetzen müssen. Die sehr ambitionierte Aufgabe, verschiedene Verkehrsteilnehmern gerecht zu werden, nicht zu wissen, welche Verkehrsströme in Zukunft fließen und dabei noch die Belange der Anwohner im Blick zu halten, wird zu Enttäuschung bei den Anwohnern und Verkehrsteilnehmern führen.
Ich bin als Anwohner direkt betroffen. Die neue Verkehrstrasse, die die Hochstraße als Zubringer ersetzen soll, wird ungefähr zweihundert Meter von unserem Grundstück entfernt enden. Die Altenberger Straße und der Weg über die Dillbrücke sind fester Bestandteil unserer alltäglichen Wege. Die Straße ist seit Jahrzehnten zu Stoßzeiten brechend voll. Der Bahnübergang stört jeden Verkehrsfluss und der schmale Übergang über die enge Brücke stellt für Fußgänger und Radfahrer eine große Gefahrenquelle dar.
Jetzt ergeben sich neue Möglichkeiten, um die unangenehme Situation positiv zu ändern. Da ja man davon ausgeht, dass auch in Zukunft das Auto Vorrang haben muss, baut man eine vierspurige Strecke durch eine Kleingartenkolonie, die an einem Platz endet, der schon vor langer Zeit durch eine vierspurige Verkehrsführung verschandelt wurde. Der alte Charme des Neustadter Platzes und des Viertels rund um den Platz wurde vor Jahrzehnten wegbetoniert und man hat die Wohnviertel durch eine Stadtautobahn von der Innenstadt und Altstadt getrennt. Und mit der neuen Planung führt man diese Unart fort. Man hat zwar, wie in dem Artikel erklärt wird, erkannt, dass dieser Weg auch als Abkürzung genommen werden könnte, um die lange Umfahrung der Stadt zu umgehen. Das heißt man sieht die Gefahr, macht aber dagegen nichts, während man den Fußgänger- und Radfahrer mit irgendwelche seltsamen Zufahrten und Rampen abspeisen will, anstatt aus der jetzigen Altenberger Straße eine verkehrsberuhigte Zone zu schaffen, in der Fußgänger und Radfahrer Vorrang haben, weil es dort nur noch Anliegerverkehr geben wird. Die alte Dillbrücke muss weichen, weil man für die neue vierspurige Brücke Platz an der Ecke braucht. In einer erste Vision hatte man auch erwogen aus dieser Brücke eine Brücke für Radfahrer und Fußgänger zu machen. Und wo soll da der Schnellradweg hin, den die Studenten aus dem ersten Artikel als Verbindung zwischen Dill und Lahn als Idee in den Raum geworfen haben?
Als Anwohner beobachte ich die Entwicklung misstrauisch, allerdings nicht ohne Wohlwollen. Ich kann kein vollständiges objektives Bild zeigen, weil ich ein Anwohner ohne Sachverstand bin und ich bin weit davon entfernt, den besserwisserischen Wutbürger aus mir herauszuholen, der mit seinem gefährlichen Halbwissen Planern und der Stadtverwaltung erklären muss, wie es besser geht. Allerdings stehen wir am Anfang einer Entwicklung, die weitreichende Konsequenzen für uns alle haben können. Denn was in Wetzlar geschieht, wird ähnlich an vergleichbaren Orten in der Bundesrepublik geschehen. Es ist eine Zeit der Chancen und sie werden nicht genutzt werden. Denn überall hat sich die Infrastruktur überlebt, weil ihre Nutzungsdauer dem Ende entgegenstrebt. Man muss bestehende Infrastruktur hinterfragen und eine Entscheidung treffen: Modernisieren, abreißen und in alter Weise wieder aufbauen oder vollkommen neu gestalten. Werden die Entscheidungsträgen dabei den Anforderungen der Zukunft gerecht? Werden Klimawandel, Verkehrswende, demografischer Wandel usw. mitgedacht oder werden die kapitalistischen Denkformeln der Vergangenheit, die auf Verbrauch von Ressourcen zugunsten eines individuellen Wohlstandes und einem falschen Verständnis von individueller Freiheit beruhen, einfach in die Zukunft weiter fortgeschrieben. Das sind die großen Fragen, deren Konsequenzen man vor Ort des Geschehens beschreiben sollte. Als direkt Betroffener kann man durchaus mal zum Chronisten werden.