Von Wetzlar nach Poggibonsi

Im Val d`Elsa hoch über Poggibonsi, an der Straße nach Castelina in Chianti, Inmitten eines Waldes, umgeben von Weinreben und Olivenbäumen liegt die kleine Siedlung il Granaio. Mehrere alte Bruchsteinhäuser, die man zu kleinen Appartments und Ferienwohnungen mit einem Pool und einem Tennisplatz umgebaut hat. Ein schmaler Waldweg uneben, übersät mit unzähligen Schlaglöchern führt ca. anderthalb Kilometer von der Landstraße hinauf zu unserem Sehnsuchtsort, den wir im August zum dritten Mal besucht haben. Wenn wir dort auf unserer Terasse sitzen, haben wir eine perfekte Aussicht auf das Weingut Melini, die Landstraße, das alte Kloster San Agnese und auf die Türme der mittelalterlichen Stadt San Gimignano. Alleine schon der Anblick der Landschaft ist es wert, dorthin zu fahren.  

Die letzten beiden Male haben wir die Strapazen einer Autofahrt auf uns genommen, um die Strecke von ca. 1100 Kilometern von Wetzlar nach Poggibonsi zu überwinden. Unsere Reise begann dann tief in der Nacht und führte uns über die Autobahn an die Grenze. Wir überquerten die Alpen, um uns am nächsten Morgen in die Blechlawine einzuordnen, die sich im Schritttempo durch Südtirol, am Gardasee vorbei, über Milano und Bologna bis nach Florenz quälte, um dann völlig übermüdet am Nachmittag des nächsten Tages oben in unserem Dorf anzukommen.

 Diesmal wollten wir uns die Tortur ersparen und die Strecke mit dem Zug zurücklegen. Wir wollten uns den Stress nicht mehr zumuten. Wer mal am Morgen an einem Rastplatz inmitten des Nirgendwo angehalten hat und die ganzen todmüden Zombies beobachten konnte, wie sie ihren übermotorisierten Blechsärgen entsteigen, weiß wie gefährlich diese Art zu reisen ist

Weil wir uns vor längerer Zeit entschlossen haben, unsere persönliche Verkehrswende weg vom fossilen Verbrenner hin zu gar keinem Automobil durchzuführen, nutzen wir im Alltag die Bahn recht häufig. Wir haben uns angewöhnt bei Ausflügen mit unseren Kindern immer nach geeigneten Zugstrecken Ausschau zu halten und wenn die Nutzung von Bus und Bahnen nicht möglich ist, suchen wir uns andere Ausflugsziele.

 Meine Frau hat sich im Laufe der Jahre zu einer Expertin bei der Nutzung der Bahnapp entwickelt. Auch diesmal hat sie für uns die Zugverbindungen herausgesucht. Im Laufe ihrer Reiserecherchen entstand die Idee, mit dem Nachtzug zu fahren. Die deutsche Bundesbahn hat vor längerer Zeit ihre eigenen Nachtzüge von den Gleisen genommen. Es gibt allerdings ein Angebot der ÖBB (Österreichische Bundesbahn) in der Nacht von München nach Rom zu fahren. Anfang des Jahres stand die Nummer. Meine Frau hatte alle Tickets gebucht. Einen Wermutstropfen gab es: ab Florenz und für Ausflugsfahrten in der Toskana brauchten wir unbedingt ein Auto. Ein richtiges E-Auto im Ausland mieten? Fehlanzeige! Es gibt einfach kein Angebot. Mal abgesehen von der unbekannten Ladeinfrastruktur. Ein Renault Clio hat für fünf Personen und unser Gepäck ausgereicht. Das Gepäck musste in drei Wanderrücksäcke reinpassen. Mit einem zehn Kilo schweren Rucksack auf dem Rücken kann man einen fulminanten Hundermeterlauf hinlegen, um den Zug noch zu erreichen. Mit Koffern ist man beim Rennen klar im Nachtteil. Sommerklamotten, Zahnbürste und Bücher, mehr brauchen wir nicht. Da es im August in Mittelitalien immer heiß ist, braucht man keine Regenjacken oder Pullis mitzunehmen.

 Im Laufe des Frühlings wuchs die Vorfreude. Nach fünf Jahren (davon zwei Coronajahren) wieder nach Italien. Juchuuuuu!!!! Sie sehen gerade das letzte U, begleitet von einem archaischen Echo, in der tiefen Schlucht meiner Urängste verschwinden. Ein paar Tage vor meinem Urlaub habe ich natürlich stolz jedem erzählt, der mich nicht danach gefragt hat, dass wir mit dem Zug nach Italien fahren. Zwei Kolleginnen haben mich regelrecht ausgelacht…„Das wird doch nie was….mit der Bahn nach Italien…“ Der alte Affe Angst kroch mir auf die Schultern. Was wenn die Kollegen recht haben und wir uns zu viel zumuten.. Zwei Erwachsene, drei Kinder, drei Rücksäcke, das klappt niemals!

 Meine Frau konnte ich mit meinen Bedenken nicht infizieren. Sie blieb stoisch bei ihrer Einschätzung, dass dies eine wunderbare Reise wird und so sind wir dann an einem Samstagmorgen in Wetzlar in den Zug gestiegen.

 Der Zug in Wetzlar fuhr pünktlich um halb zehn los. In Giessen ging es weiter mit dem RE 30. Leider steht auf allen Anzeigetafeln, dass der Zug in Frankfurt Hauptbahnhof endet. Die Züge aus Mittelhessen halten baustellenbedingt nicht mehr am Frankfurter Hauptbahnhof, sondern an Bahnhof Süd in Frankfurt. Wer in Süd aussteigt, kann mit der Straßenbahn ohne Probleme an den Hauptbahnhof kommen. Wer allerdings glaubt, er erreicht direkt den Frankfurter Bahnhof und hat die Umsteigezeit in einen anderen Zug zu knapp bemessen, wird wohl seinen Anschlusszug verpassen. Gerade Fahrgäste, die von außerhalb kommen, werden hier unter Umständen ein Reisefiasko erleben. Zum Teil verlängert sich die Fahrzeit um eine Stunde.

 Panisch hatte ich meine Frau schon vor Wochen bekniet, in Wetzlar einen Zug früher zu nehmen. Das war die richtige Entscheidung. Zu der verlängerten Fahrzeit gesellte sich noch das Chaos auf dem viel zu engen Bahnsteig in Frankfurt Süd. Der Bahnsteig und die Abgänge vom Bahnsteig sind natürlich nicht für die Fahrgastmassen gut gefüllter Regionalexpresszüge gedacht. An den Abgängen leitete Sicherheitspersonal die Ströme der Fahrgäste und trotzdem dauerte es eine halbe Stunde bis wir an der Straßenbahnhaltestelle standen.

 Durch unsere verfrühte Abreise erreichten wir den ICE nach München ohne Verzögerung. Im ICE begann der Urlaub, denn wir hatten Sitzplätze reserviert und konnten die nächsten vier Stunden entspannt aus dem Fenster schauen und die Landschaft an uns vorbei ziehen lassen.

In München kamen wir auf die Minute pünktlich an und hatten ca. 3 Stunden Aufenthalt. Für schmale 6 EUR haben wir unsere 3 Rücksäcke in ein Schließfach am Bahnhof bugsiert, sind gemächlich  mit dem Bus in den Englischen Garten gefahren, um im Biergarten ein Schlummerbier zu trinken und etwas zu essen. Ich spürte den Alkohol in meinen Adern, verfiel in eine bierselige Euphorie (das ist meines Erachtens der einzige Grund, warum Menschen in München einen Biergarten besuchen) und schrieb hämische und triumphierende Nachrichten an die Pessimistinnen in der Heimat. Meine Frau checkte derweilen ihre Mails am Handy und erstarrte. Die ÖBB schrieb, ein Wagen könne aus technischen Gründen nicht mitfahren. Meine Frau kramte in ihrer Handtasche, zog die Fahrkarte heraus und war erleichtert. Es betraf zum Glück nicht unseren Wagen.

 Rechtzeitig zur Abfahrt unseres Nachtzuges waren wir wieder am Hauptbahnhof. Unser Zug stand schon am Gleis. Es gibt in den Nachtzügen drei Kategorien. Sitzplätze, Liegewagen (sechs einfache Pritschen in einem normalen Abteil und Schlafwagen (drei oder weniger Schlafplätze, in der Luxusausführung sogar mit eigenem Badezimmer). Wir hatten einen Liegewagen gebucht

 Als wir ankamen, gab es schon die ersten dramatischen Szenen am Zug. Familien mit kleinen Kindern, die am Zug erfuhren, dass ihre gebuchten Plätze sich in dem Wagen befanden, der aus technischen Gründen nicht mitfahren konnte. Wir schlichen uns mit einem schlechten Gewissen in unseren Liegewagen, der zu einer älteren Wagongeneration gehörte. Alles in dem Abteil war sehr einfach gehalten und leicht angeranzt. Die Sitzplätze kann man innerhalb einer Minute in Schlafplätze umwandeln. Dazu gab es schmale und dünne Kopfkissen, Matratzenbezüge und Wolldecken. Wir mussten uns in der Enge erst einmal orientieren und Platz schaffen, in dem wir das Gepäck in das große Ablagefach über der Abteiltür verstauten.  Es war im Abteil sehr warm und als der Zug mit einer halben Stunde Verspätung losfuhr, war wir erst Mal froh, dass die Klimananlage sofort kalte Luft in den Raum blies. Es gibt für jeden Wagen Servicepersonal, freundliche Personen in Uniform, die nicht bei der ÖBB arbeiten, sondern von einem Dienstleister zur Verfügung gestellt werden. Die Dame, die uns betreute, war sehr freundlich, hatte aber wenig Zeit und erklärte wenig.

 So langsam ging es an die Bettruhe. Wir waren gegen halb neun losgefahren. Gegen zehn Uhr hatten wir uns eingerichtet. In jedem Wagen gibt es unbequeme Waschräume. Wie immer bei der Bahn hat das alles den Charme einer Absteige. Wir waren den ganzen Tag in der Hitze unterwegs und wollten uns wenigstens etwas abwaschen, Zähne putzen und uns umziehen. Schmallippig, mit Luft anhalten und spitzen Fingern in einer engen Schmuddelkammer braucht man dafür natürlich Ewigkeiten und irgendwann gegen halb elf hatten wir es geschafft und lagen alle auf unseren Pritschen.

 Nur gleichmütige Gemüter können in einem Zug tief und fest schlafen. Man hört und spürt alles. Der Zug rattert über die Gleise. Wenn der Zug beschleunigt, beschleunigt der eigene Körper mit und wird an den Rand der Pritsche gezogen. Wenn der Zug bremst, rollt der Körper zur Wand. Vor den Abteilen im Gang ist immer etwas los. Auf dem Gang vor unserem Abteil hatten sich zwei jungen Frauen eingerichtet. Jedes Mal, wenn jemand von uns raus musste, mussten wir über sie steigen. Zu guter Letzt stellte sich heraus, dass die Klimaanlage sich nicht regeln ließ. Sie blies die ganze Nacht in der Lautstärke eines Staubsaugers kalte Luft in den Raum.

 Ich war höllisch müde und hatte es wirklich geschafft, einzuschlafen. Gegen halb eins in der Nacht klopfte jemand an unsere Abteiltür. Bis ich reagieren konnte, hatte derjenige die Tür, die nur mit einer einfachen Kette abgeschlossen werden konnte, aufgerissen und uns auf Englisch aufgefordert, sein Abteil zu verlassen. Wir hatten irgendwo in Österreich gehalten und es waren neue Fahrgäste zugestiegen. Ohne die Augen richtig zu öffnen, brüllte ich den Eindringling an, dass er sich im Wagen geirrt habe und verschwinden solle. Ich hatte zwar erreicht, dass der Eindringling uns sofort in Ruhe ließ, aber ich selbst konnte nicht mehr einschlafen. So schunkelte ich die halbe Nacht auf meiner Pritsche hin- und her, lauschte dem Staubsauger und wartete auf das Ende der Nacht.

 Außer meinem siebenjährigen Sohn, der in der oberste Pritsche tief und fest schlummern konnte, hatte niemand von uns richtig geschlafen. Um halb sieben brachte die nette Frau, die für unseren Wagen zuständig war uns unser Frühstück. Wir sortierten uns neu, zogen den Verdunklungsrollo hoch, klappten die Pritschen hoch und betrachteten die italienische Landschaft, die an uns vorbeizog. Es gab heißen Kaffee, zwei Brötchen, Butter und Marmelade. Vollkommen ausreichend, um den ersten Tag in Italien zu beginnen. Mit zwanzig Minuten Verspätung kamen wir gegen halb acht in Florenz an.

 Unsere Autovermietung machte erst um neun Uhr auf. Es war Sonntag und wir waren froh, dass die Autovermietung in der Innenstadt überhaupt geöffnet hatte. Ansonsten hätten wir in Florenz an den Flughafen fahren müssen. Wir nutzten die Zeit und schlenderten zum Dom und der Ponte Vecchio. Was für ein schöner Urlaubsbeginn: Im Morgenlicht auf der menschenleeren Ponte Vecchio stehen und den Arno hinaufschauen.  Um halb neun schlugen wir unser Lager vor der Autovermietung auf. Wir wollten die ersten sein. Um neun machte die Autovermietung auf und hinter uns hatte sich eine Schlange von Touristen gebildet, die sich alle ein Auto mieten wollten. Eine halbe Stunde später saßen wir im Auto auf dem Weg nach Poggibonsi. In Poggibonsi haben wir erst einmal im Coop eingekauft und sind dann zu unserer Wohnung gefahren. Mittags saßen wir zum ersten Mal auf unserer schattigen Terrasse und haben den Ausblick auf die einmalige Landschaft genossen. Wir waren an unserem Sehnsuchtsort angekommen.

Ihr Anliegen mit der Nr. 94790879 vom 14.08.2021

Meine persönliche Verkehrswende sollte nicht beim Kauf eines Elektroautos enden. Mein langfristiges Ziel ist es, ganz auf den Besitz eines eigenen Autos zu verzichten. Alleine die Herstellung von Autos, egal ob Elektro- oder Verbrenner, ist eine riesige Umweltsauerei. Ich setze also auf den öffentlichen Nahverkehr, gehe kurze Strecken zu Fuß oder fahre mit dem Fahrrad und nutze für den letzten Kilometer ein E-Scooter.

 Ich wohne, wie ich schon öfter erwähnt habe, inmitten der Stadt.  Die meisten Wegstrecken, die ich zurücklege, betreffen meinen Weg zur Arbeitsstelle. Ich arbeite in Aßlar, einem Nachbarort von Wetzlar, der ca. fünf Kilometer von meinem Zuhause entfernt liegt. Aßlar ist eine Kleinstadt und durch die Vororte der Stadt mit Wetzlar direkt verbunden. Man fährt auf geradem Wege durch die zwei Stadtteile Niedergirmes und Hermannstein und ist schon am Zielort. Alle halbe Stunde fährt ein Bus oder Zug von Wetzlar nach Aßlar. Die Buslinie 200, fährt pünktlich um acht am zentralen Busbahnhof ab, der neben den Bahnhof zentral in der Innenstadt liegt. Der Bahnhof ist anderthalb Kilometer von meinem Haus entfernt. Zufälligerweise passt das genau zu meinem Arbeitsbeginn. Um 8.08 Uhr bin ich in Aßlar, 8.12 Uhr bin ich auf der Arbeit. Der Heimweg ist ähnlich komfortabel. Stündlich fährt der Bus zurück nach Wetzlar. Wenn das mal nicht passt, kann ich auf den Zug ausweichen. Na da sollte die persönliche Verkehrswende sich doch flugs umsetzen lassen, oder?

Ich habe ein paar Tage gebraucht, um zu realisieren, was der Verzicht aufs Auto nun für mich bedeutet. Es fühlt sich ein wenig an, als entwöhne man sich von Süßigkeiten. Nie wieder Schokolade! Eine Welt bricht zusammen und der Schmerz ist groß. Aber ich bleibe tapfer, denn mit meiner persönlichen Verkehrswende kann ich dazu beitragen, dass die Welt ein besserer Ort wird. Dazu bedarf es nun einmal erhebliche persönliche Opfer. Ich habe von Leuten gehört, die schon immer mit dem Bus zur Arbeit fahren. Das liegt jenseits meiner Vorstellungskraft. Was sind das bloß für tapfere Zeitgenossen. Um mich von meinem Schmerz abzulenken, habe ich mich der neuen Herausforderung angenommen und sie Generalstabsmäßig geplant. In meinem Kopf habe ich eine Liste geschrieben, um die Operation Busfahren erfolgreich gestalten zu können. Ich habe nichts dem Zufall überlassen.

 Ein paar Tage später war es dann soweit: Ich stehe im Jackett, Hemd und Chinohose (meiner Arbeitskleidung) vor unserem Haus auf der Straße, setze meinen Fahrradhelm auf, kontrolliere, ob er gut sitzt, ziehe mir meinen Rucksack über die Schulter, in die ich eine Mahlzeit, ein Getränk und Lektüre für die Mittagspause gepackt habe, stellte mich auf meinen E-Scooter, mache einen Schulterblick und düse über die Straße in Richtung Bahnhof.

Ich bin Kartoffel durch und durch. Ich gehe immer auf Nummer sicher, habe  immer einen Plan B und ich bin so was von pünktlich. Mir unterlaufen niemals Fehler und wenn, dann sind die anderen Schuld.

Um 7.40 Uhr verlasse ich das Haus und um 7.48 stehe ich an der Bushaltestelle. Der Bus fährt laut Fahrplan um acht Uhr ab. Meinen E-Scooter habe ich zusammengeklappt und trage ihn mit der einen Hand und  in der anderen Hand halte ich das abgezählte Geld für die Tageskarte bereit. Den Fahrradhelm kann ich nicht abziehen. Im Bus kann man sich nicht anschnallen. Da kann der Helm bei Unfällen wenigstens ein wenig Schutz bieten. Um 8.03 Uhr fährt der Bus an die Haltestelle. Ich bin jetzt schon klatschnass geschwitzt und genervt. Wenn 8.00 Uhr auf dem Fahrplan steht, dann hat der verdammte Bus um acht Uhr zu erscheinen.

 Der Busfahrer erschrickt, als ich den Bus betrete. Er hat mich nicht erwartet. Ich bin der einzige Fahrgast an diesem Morgen. Er zählt mein Kleingeld nach, gibt mir das Ticket und ich gehe auf meinen Platz. Der Busfahrer brüllt  mir hinterher, dass ich ihm nur ein zwei-Cent anstatt einem fünf-Cent Stück gegeben habe. Das kann nicht sein. Ich habe mein Kleingeld fünfmal nachgezählt. Es lag schon gestern abgezählt auf meinem Nachtisch. Sonst hätte ich nicht schlafen können. Ich bin frustriert und sauer. Dieser Busfahrer hat echt Nerven. Drei Minuten später kommen und dann mir auch noch unterstellen, drei Cent zu wenig bezahlt zu haben. Ich rücke meinen Fahrradhelm zurecht und gehe widerwillig zum Busfahrer. Leider hat er Recht. Ich suche verzweifelt nach einem fünf-Cent-Stück in meinem Geldbeutel und als ich sie finde, gebe ich sie widerwillig her. Es ist 8.05 Uhr, wir fahren endlich los.

Während wir auf der breiten Straße durch die Vororte von Wetzlar rasen, rege ich mich darüber auf, dass ich der einzige Fahrgast bin. Bin ich wirklich der einzige Trottel, der morgens mit dem Bus zur Arbeit fährt? Ich kann mich nicht entspannen, sitze mit aufgezogenem Rucksack auf der Kante meines Sitzes und halte mit den Füßen den E-Scooter fest, der, wenn der Busfahrer die Kurven scharf anfährt, ins Rutschen gerät. Ich bin so froh als der Bus ohne weitere Pannen endlich die Bushaltestelle in Asslar erreicht. Ich vermisse jetzt schon mein klimatisiertes Auto.

 Am nächsten Tag fahre ich wieder mit dem Bus zur Arbeit. Die Aufregung nimmt langsam ab. Routine stellt sich ein und weil ich besonders mutig bin, nehme ich mir am dritten Tag vor, zu Fuß zum Bahnhof zu laufen. Ein wenig Bewegung kann nicht schaden. Allerdings ist der E-Scooter auch die Absicherung für den Fall der Fälle, wen ein Bus mal nicht kommt. Dann kann ich zumindest schnell wieder nach Hause fahren.

Entgegen meiner Kartoffelmentalität habe ich in kurzer Zeit ein gewisses Vertrauen in die Zuverlässigkeit des ÖPNV entwickelt. Mein Vertrauensvorschuss entpuppt sich als absolute Dummheit, denn ich werde auf ganzer Linie von der Linie 200 enttäuscht.

Um 8.02 Uhr ist der Bus immer noch nicht da. Das bin ich ja schon gewohnt. Um 8.03 Uhr beginnt meine Halsader anzuschwellen, denn die Linie 200  fährt die Straße runter, anstatt im Kreisel einzubiegen und die Bushaltestelle anzufahren.

 Der Bus fährt ohne mich! Ich kann es zuerst nicht glauben und erst als ich sehe, dass der Bus die Brücke nach Niedergirmes überquert, lasse ich die fürchterliche Wahrheit an mich heran. Man hat mich verarscht.  Wütend über Tatsache, dass ich meine Absicherung aufgegeben habe und nun nach Hause laufen muss, entschließe ich mich sofort, eine Beschwerde per E-Mail an die Rhein-Main-Verkehrsverbund zu schreiben. Auf dem langen Marsch nach Hause, verbringe ich die Zeit damit die Beschwerde in meinem Kopf zu formulieren.

Am Abend schreibe ich die E-Mail und bekomme, wie es sich gehört in Kartoffelland, eine Nummer zugewiesen: 94790879 Ich lerne sie auswendig.

Ich warte auf die Antwort und drücke fast jede Minute ich auf den Aktualisierungsbutton meines E-Mail Accounts. Ich male mir schon aus, welche Entschuldigungen und Entschädigungen ich für dieses mir angetane Unrecht erhalte.

Am übernächsten Tag, ich wollte gerade die nächste Beschwerdemail schreiben, um mich darüber zu beschweren, dass meine Beschwerde nicht rechtzeitig beantwortet wurde, landet die Antwort in meinem Mail-Postfach:

Wir haben die betreffende Fahrt der Linie 200 in unserem Leit- und Informationssystem (LIAS) geprüft. Die Anfahrt der Haltestelle Bahnhof/ZOB erfolgte ordnungsgemäß.

Das betreffende Verkehrsunternehmen teilt in seiner Stellungnahme zum Sachverhalt ebenfalls mit, dass der Fahrer ordnungsgemäß nach der Pause an die Haltestelle gefahren ist und seine Fahrt begonnen hat.

Wir würden uns freuen, wenn wir Sie trotz des unangenehmen Vorfalls auch zukünftig zu unseren Fahrgästen zählen dürften. Hierbei wünschen wir Ihnen gute und problemlose Fahrt.

Mit freundlichen Grüßen

Frechheit! Unverschämtheit! Ich als opferbereiter Bürger werde als Lügner verhöhnt. Natürlich werde ich nie wieder mit Eurem Sauladen irgendwo hin fahren…aber die Verkehrswende…Mein Ärger und Frust über diese fadenscheinige Antwort verhakt sich mit meinem Ansinnen, die Welt durch die Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln zu verbessern und führt zu einem widerlichen Disput mit mir selbst.  Was soll ich tun?  Krone zurechtrücken und wieder aufstehen. So einfach gebe ich nicht auf. Wenn ich nicht mehr mit dem Bus fahre, habt ihr Euer Ziel erreicht.

 Gestern Morgen stand ich an der Bushaltestelle und habe erst einmal den Fahrradhelm abgezogen. Die Linie 200 kam pünktlich.

Die Verkehrswende findet hier nicht statt

Wetzlar, die Stadt in der ich und meine Familie leben, ist eine typische deutsche Kleinstadt mit 50000 Einwohnern, eingebettet in der schönen Landschaft zwischen Westerwald und Taunus, mit einer pittoresken Altstadt, grünen Parkoasen am Fluss, einem stattlichen Dom und einer breiten vierspurigen hässlichen Straße, die durch die ganze Stadt führt.

Auch hier wurde nach dem Krieg alles dem Wiederaufbau untergeordnet. Man modernisierte Wetzlar mit viel Beton und Asphalt. Für die Menschen hat es damals Sinn gemacht. Plötzlich waren die engen muffigen Gassen weg, die alten Straßenzüge sanierungsbedürftige kleiner Häuser verschwanden und an deren Stelle traten breite Straßen und moderne Zweckbauten. Man schuf Platz für den Fortschritt und die Verheißungen des Wirtschaftswachstumes.

Wir wissen heute, was daraus geworden ist und man kann der Nachkriegsgeneration keinen Vorwurf machen. Was viel schlimmer wiegt und heute einfach nur noch nervt ist diese Beharrlichkeit und das Unverständnis vieler Menschen und Politiker, die nicht sehen wollen, dass wir unsere Lebensweise auf kommunaler Ebene verändern müssen.

Dazu gehört für mich ganz klar auch die Veränderung unserer Verkehrsinfrastruktur. In Wetzlar gibt es ein städtisches Radwegekonzept, dass jetzt nach und nach umgesetzt wird. Leider ist es ein halbherziges Konzept. Man weiß um die Notwendigkeit einer Verkehrswende,  erkennt aber nicht die Notwendigkeit radikaler Veränderungen. Den Autofahrern sollen Zumutungen erspart bleiben. Also macht man hier und dort einen Radstreifen und glaubt, das beruhigt diejenigen, die die Veränderung nicht als Zumutung, sondern als zwingend betrachten.

Das grundsätzliche Problem in Wetzlar besteht darin, dass wir eine vierspurige Ortsdurchfahrt mit Anschluss an eine Bundesstraße haben, aber viele Zubringerstraßen wie Nadelöhre die historischen Pfade in die Stadt nachbilden. Die Verkehrswende könnte da beginnen, wo man an solchen Straßen dem Rad und ÖPNV den Vorrang gibt. Leider verzichtet man darauf. Es geht nicht darum, Autofahrer zu bestrafen oder auszugrenzen, sondern die Attraktivität der ressourcenschonenden Verkehrsmittel zu erhöhen und so möglichst viele Menschen die Nutzung dieser Verkehrsmittel zu erleichtern.

Das Traurige daran ist, das wir eigentlich in Wetzlar sehr stark vom Fahrradtourismus profitieren. Viele Menschen kommen über regionalen Radwege nach Wetzlar, um die Stadt zu besuchen. In der Stadt selbst sind sie als Radfahrer nicht willkommen. Es gibt viele gefährliche Stellen, unklare Regelungen, Radwege die ins Nichts führen, Umwege, die man mit dem Fahrrad in Kauf nehmen muss. Daher wundert es mich, dass die städtische Politik keine weitergehenden Maßnahmen ergreift. Denn wenn einem die wenigen Fahrradverrückten nicht wichtig sind, so hat man doch immer den Tourismus als wachsenden Wirtschaftszweig im Blick.

Aber die wenigen Fahrradverrückten in dieser Stadt machen immer mal gerne auf sich aufmerksam. Am letzten Samstag haben verschiedene Gruppen eine Fahrraddemo veranstaltet,  die die Probleme rund um die verfehlte Verkehrspolitik sichtbar machen sollte. Die Dominanz des motorisierten Individualverkehrs sollte wenigstens für ein paar Stunden in den Hintergrund treten.

Eine illustre Kolonne mit ca. 170 Radfahrern fuhr auf den breiten Chausseen der Innenstadt, die für die Demo von der Polizei gesperrt wurden. Meine Frau, unsere drei Kinder und ich gehörten dieser Kolonne an.

 Es war ein wunderschönes Gefühl die breite Straße am Karl-Kellner-Ring lang fahren zu können und ein Gespür dafür zu bekommen, wie Ruhe in eine Stadt einkehrt, die ansonsten vom Lärm des motorisierten Individualverkehrs geprägt ist. Eine Stadt ohne Auto ermöglicht eine neue Lebensqualität für alle. Wenn wir kreativ mit der Stadt umgehen, die uns nun einmal so gegeben ist, wie sie momentan ist, können wir gemeinsam viel erreichen. Dabei ist es wichtig, niemanden auszugrenzen, sondern allen Bürgern und Besucher dieser Stadt an den neuen Möglichkeiten teilhaben zu lassen.

Es ist ein langer Prozess, weil in vielen Köpfen ein Umdenken beginnen muss. Wenn wir als Bürger und Radfahrer dieses Stadt auf uns aufmerksam machen, in dem wir Samstagsnachmittags friedlich und gewaltfrei Präsenz zeigen, machen wir Werbung für unser Anliegen, dass eigentlich das Anliegen aller Menschen ist: Einen Lebensraum zu haben, der einem die Möglichkeit zur persönlichen Entfaltung bietet.

Wir konnten wir bloß werden, was wir heute sind?

 

 Neunzehnhundertneunzig habe ich mein Abitur in Wetzlar an der Goetheschule gemacht.   Das Gebäude der Goetheschule wurde Ende der Sechziger Jahre gebaut und nach zweiundfünfzig Jahren hat man ein Einsehen mit dem sanierungsbedürftigen und z.T. baufälligen Gebäude und reißt es ab, um es an gleicher Stelle wieder aufzubauen.  Am Donnerstagabend war die große Abschiedsfeier. Die aktuelle Schüler- und Lehrerschaft und die ehemaligen Schüler und Lehrer konnten sich bei Bier und Würstchen von ihrer Schule verabschieden. Ein Treffen der Generationen, dachte man und lt. Sonntagsausgabe der WNZ waren dort an diesem windigen und saukalten Sommerabend ca. 5000 Menschen versammelt. Kaum zu glauben, dass sich so viele Menschen für ein altes marodes Gebäude interessieren, insbesondere da die Goetheschule immer die Reifestätte einer zahlenmäßig begrenzten Elite war. Dies ist die einzige Schule im Altkreis Wetzlar, an der man das allgemeinbildende Abitur erwerben kann. Nur mit diesem Schulabschluss steht einem die gesamte Welt offen und nicht nur die  Nischenstudiengänge wie BWL und Maschinenbau.   Mit dem Abitur kann man Zahnarzt, Apotheker, Politiker, Schönheitschirurg, Schauspieler, Vorstandsvorsitzender und im Zweifelsfall Gymnasiallehrer werden. Also alle diese Berufe mit denen man die Welt und die Wertschöpfungskette der globalen Wirtschaft voranbringen kann. Ich habe übrigens nach meinem Abitur eine Lehre als Bankkaufmann bei der örtlichen Sparkasse gemacht und arbeite verflixt nochmal immer noch in diesem Beruf. Ich bin also vollkommen unter meinen Möglichkeiten geblieben. Ich hatte eigentlich auch andere Pläne. Aber wie das Leben nun einmal so ist, bleibt man sehr oft unter seinen Möglichkeiten. Verzeihen Sie meinen negativen Fatalismus. Aber wenn man in der zwölften Klasse auf einmal merkt, dass man doch kein Dummerchen ist, möchte man doch eher nach den Sternen greifen und nicht nach dem Bleistift, mit dessen stumpfer Spitze man Spar- oder Darlehenszinsen nachrechnet.

 Daher wurde mein Abschied von meiner alten Schule zu einer mittleren Seelenpein. Ich habe die drei Jahre auf dieser Schule genossen. In erster Linie bestand der Genuss im Erkennen meiner intellektuellen Fähigkeiten. Ich war meine eigene kleine geistige Elite und vollkommen alleine auf der Welt.  Durch die leergeräumten Klassenräume zu latschen, die größtenteils immer noch im Originalzustand waren, hat alte Wunden aufgerissen. Ich fühlte mich  nach ca. achtundzwanzig Jahren genauso leer und angeranzt wie diese Räume. Die alten Hörsäle, die alten Tafeln, die grauen wuchtigen Betonwände, die kalten marmorierten Gänge, die genauso wie früher im Halbdunkel lagen, das glänzende schwarze Vinyl in der Pausenhalle  erinnerte mich an verpasste Gelegenheiten, an das Gefühl der Einsamkeit und Isolation, das mich in diesen und in den darauf folgenden Jahren verfolgt hat. Ich leide unter der Wahnvorstellung, viel verpasst zu haben und früh die falschen Entscheidungen getroffen zu haben.

Ich habe einige dieser Entscheidungen korrigieren können und mein Leben ist bei weitem nicht negativ verlaufen. Ich lebe in einer wunderbaren Beziehung mit meiner zweiten Ehefrau, habe fünf liebenswerte einzigartige Kinder, habe ein paar sehr gute Freunde und Kollegen und habe in meinem Beruf viel Anerkennung erfahren. Trotzdem brachte der Besuch meiner alten abbruchreifen Schule alte Zweifel zum Vorschein, die in früheren Zeiten den Glauben an meine Fähigkeiten regelmäßig und nachhaltig erschütterten.

Für ein paar Stunden war ich wieder im alten Alarmmodus. Ich gehöre zu den Menschen, die sich über die Zukunft definieren. Ich lebe niemals in den Tag hinein. Es mag zum eigenartigen Instinkt eines Menschen zu gehören, das Leben vom Ende her zu denken. Wir sind uns ja immer unseres eigenen Ablebens bewusst. Ohne diese Erkenntnis, ein sterbliches Wesen zu sein, ist Fortschritt nicht möglich. Allerdings ist die Sorge um mein Dasein mit Angst besetzt und hat in den schlimmsten Momenten zu panischen Reaktionen geführt. Meine Herkunft hat mich geprägt und bestärkt mich tagtäglich in der Annahme, dass nur das Schlimmste möglich ist. Ich habe  Jahrzehnte gebraucht, um zu verstehen, das meine Handlungen durchaus einen positiven Effekt auf mich und mein Umfeld haben, man es an vielen Stellen gut mit mir meint, die Katastrophe eher die Ausnahme ist und Ihr Eintreten nur eine verzögernde Wirkung auf den Reiseablauf hat, so wie der Stau auf der Autobahn.

 Ich stieg abends um halb acht aus dem Bus, rief meine Tochter auf dem Handy an, um sie zu fragen, wo sie denn sei und erhielt von ihr die Antwort, das sie schon die Abschiedsfeier verlassen habe. Dazu sollte man wissen, dass meine älteste Tochter die elfte Klasse an der Goetheschule gerade absolviert hat und nun die Chance bestand mit ihr den Abschied gemeinsam zu feiern. Die Vergangenheit hätte sich mit der Zukunft versöhnt und alles wäre gut gewesen. Dann sah ich dieses Gebäude und die vielen Menschen, lief zwischen den Menschenmengen hindurch und fand kein mir bekanntes Gesicht. Prompt ereilte mich das Gefühl meiner Jugend, alleine sein zu müssen, keinen Anschluss finden zu können und damit keine Anerkennung erfahren zu können. Nach einer Weile treffe ich einige Kollegen, die auch das Abitur an der gleichen Schule gemacht haben und unterhalte mich mit ihnen, gehe mit ihnen durch die Räume und tausche mich mit ihnen aus. Sie schwelgten in Erinnerungen. Ich stand daneben und berichtete ihnen lakonisch, dass ich damals aus der Bibliothek nach und nach einige Philosophiebücher entwendet hatte. Ich war in meinem Jahrgang der einzige Mensch, der Freistunden dort verbracht hat, um verschämt über Existenzialistenlektüre zu brüten.

Ich trank ungerührt ein Bier nach dem anderen und nach dem dritten Gang zur Biertränke hatte ich meine Kollegen aus den Augen verloren. Ich war während meiner Abiturzeit ein echter Miesepeter. Generell war ich dagegen und  verhöhnte alles, was hohes Ansehen in der Schulgemeinschaft genoss. Wer etwas aus sich hielt, ging in die ach so berühmte Musical-AG. Es war hip, Andrew-Llyod-Weber-Arien zu schmettern und sich dabei wie eine Lokomotive oder eine Katze zu bewegen. Ich dagegen habe jeden Tag ca. sechs bis acht Stunden die Gitarrenriffs und –solis von Metallica geübt. Ich war ein Metallica-Snob und stieg sehr tief in die Materie hinab. Insbesondere das „Justice for all“-Album diente mir als Referenz. Ich lernte jede Note auswendig, analysierte Musik und Texte bis zur totalen Erschöpfung. Im Zusammenhang mit Schule und Musicalmenschen ging es mir nur um Befindlichkeiten und Eitelkeiten. Die wurden für ihr süßliches und melodiöses Geträller bewundert und gefeiert, während niemand meine Anstrengungen auch nur wahrnahm.  Ich hatte also noch eine emotionale Rechnung offen und stapfte in den Musiktrakt.  Im Musiksaal angekommen sah ich den Flügel auf einem kleinen Podest stehen und erinnerte mich an meinen damaligen Helden unter den Lehrern. Den Musikunterricht in der elften Klasse habe ich geliebt. Herr Marschall, mein Musiklehrer, ein ewiger Junggeselle, der altmodische verknitterte Anzüge trug, war ein Klavierfreak und eine echte Inselbegabung. Er setzte sich zu Beginn des Unterrichts an den Flügel im Musiksaal und  forderte die Schüler auf, irgendwelche Komponistennamen zu nennen. Es fielen so Namen wie Bach, Mozart. Beethoven. Wurde ein Name gerufen, grinste er feist und fing an im Stile des  genannten Komponisten zu improvisieren. Dabei lächelte er versonnen und glücklich als sei es die einzige Erfüllung in seinem Leben, am Klavier zu sitzen und zu spielen. Eines Tages hatte ich ein AC/DC Songbook bei mir. Ich hatte es als Provokation auf meinen Platz gelegt. Natürlich ging es meinen Mitschülern gewaltig am Arsch vorbei. Herr Marschall griff sich das Songbook, klappte das Buch auf und spielte „Highway to hell“ auf dem Flügel nach. Es klang wie ein Ragtime. Dann sang er noch dazu. Ein alte Männerstimme, die „Mama look at me, I`m on the way tot he promised Land“ wie das Mitglied eines Männergesangvereins schmetterte, hatte wirklich etwas wunderbar Schräges an sich. Er hatte noch nie etwas von AC/DC gehört und fand die Musik unheimlich interessant. „Was die jungen Leute heute alles hören!“ Voller Stolz nahm ich mein Songbook wieder entgegen und er saß am Flügel und spielt eine halbe Stunde völlig unbekannte Jazznummern. Er stand unheimlich auf Oscar Peterson, der mir damals gar nichts sagte und zog eine Querverbindung zwischen AC/DC und ihm, der anscheinend ein absolut beeindruckender Jazzpianist gewesen sein musste. Eigentlich rührte es mich damals so, weil ich mein ganzes Leben lang Klavier spielen wollte und die Gitarre für mich eigentlich nur eine Ersatzdroge war. Eine Gitarre und einen Verstärker konnte ich mir leisten und anscheinend hatte ich doch ein wenig Talent, so dass ich die ganze Sache ohne Unterricht lernen konnte. Klavierunterricht dagegen hätte ich mir nicht leisten können und meine Eltern hätten nie Geld für so etwas ausgegeben. Und dann gab es diesen Musiklehrer, der über allem stand und vollkommen losgelöst von seiner beruflichen Pflicht sein Ding durchzog und dabei einen wahnsinnigen Spaß hatte.  Im Grunde war er mein Held, weil er sich nicht darum kümmerte, ob es irgendwen interessierte, was er machte. Viele Schüler hielten ihn für einen alten Spinner. Insgeheim bewunderte ich ihn, weil ich es niemals geschafft hatte, es einfach gut sein zu lassen. Ich brauchte Bewunderung und Anerkennung und verstand nicht, dass es darum gar nicht in dieser Schule ging. Die drei Jahre waren dazu da, den letzten Schritt ins Erwachsenenleben zu nehmen und noch einmal zu reifen, bevor man auf irgendeine Art auf das seriöse Leben losgelassen wurde. Anerkennung bekommt man nicht durch verbissenes Beharren auf seiner elitären Abscheu vor allem Gewöhnlichen und den Massengeschmack. Metallica übrigens haben sich kurz nach meinem Abitur an den Mainstream verkauft und haben mit solchem Moll-Gedöns wie „Nothing Else Matters“ und „the Unforgiven“ die Hitparaden gestürmt. Niemand mochte später die Solis der alten Platten hören. Anerkennung erhielt ich als Gitarrist erst, als ich mit meiner Band „Enter Sandman“  vortrug. Der Höhepunkt eines jeden Konzertes war „Nothing else Matter“.  Aber das ist noch ein anderes Kapitel. In Bands spiele ich schon lange nicht mehr. Mit vierzig habe ich meinen eigentlichen Traum verwirklicht und Klavierunterricht genommen und mir ein Digitalpiano gekauft.

 Zurück zum Musiksaal und dem Abschied von der Goetheschule.  Ich habe mich an den Flügel gesetzt, mein Bier auf dem Klavier abgestellt und in Gedenken an Herrn Marshall eine Ballade improvisiert. Ich brauchte keine Zuhörer. Ich habe nur für mich gespielt und es hat mir fast das Herz zerrissen. Bevor ich heulen musste, habe ich mitten in der Improvisation zu Spielen aufgehört, mein Bier genommen und bin wieder gegangen. Auf dem Schulhof habe ich wieder meine Kollegin getroffen und wir haben ein Gespräch über die Arbeit begonnen. Ich war froh, nicht mehr über die Schule reden zu müssen. Ich sah mich dabei auf dem Schulhof um und sah eine Mitschülerin aus meinem Jahrgang, die erst nach drei Versuchen meine Grußgeste erwiderte. Das machte den Abend endgültig zum Abschied von meiner Abiturzeit. Halbbetrunken habe ich mich vor Einbruch der Dunkelheit zu Fuß auf den Weg gemacht. Die Strecke führte bergab und teilweise bin ich den Weg gerannt. Ich wollte so schnell wie möglich nach Hause und beim Laufen genoss ich die Dämmerung, die nur langsam über die Stadt hereinbrach. Es war schließlich der längste Tag des Jahres und mit jedem Meter den ich näher an mein Zuhause kam, fühlte ich mich besser. Es war als laufe ich von der Vergangenheit, die ich hinter mir ließ, in die Gegenwart, die mir doch so viel mehr bedeutet als die drei Jahre in der Goetheschule. Obwohl  ich dort angefangen habe, das zu sein, was ich heute bin.

 

Die Charakterisierung der Hauptpersonen und ihre Vorgeschichte letzter Teil

Der Sprachverlust wird zum Symbol und zum roten Faden der Geschichte. Nacheinander verliert, verlernt oder vergisst jeder in der Familie die Fähigkeit zur Kommunikation. Erst die Mutter durch ihre Depression, dann der Vater durch die soziale Isolation, dann Luisa durch Krankheit oder psychischem Verfall. Letztendlich ist Johanna die Einzige, die ihre Kommunikationsfähigkeit behält. Sie ist das Sprachrohr der Familie und hält somit den Kontakt zur Außenwelt.

Die Vorgeschichte der Eltern wird im Text nach und nach beschrieben. Kerstins Großeltern und Olafs Eltern tauchen sporadisch auf. Ihre Charaktere und Geschichte auszuformen erachte als nicht wichtig, da sie nur Randfiguren sind. Der Großteil der Geschichte spielt in den Jahren beginnend ab dem Einzug in das Haus des Onkels. Deswegen finde ich es wichtiger die Figuren aus dem direkten Umfeld zu modellieren, wie zum Beispiel die Nachbarn usw.

Das Haus des Onkels befindet sich am Rande eines Industriegebietes, das wiederum am Stadtrand liegt. Das Areal wird auf der einen Seite durch die Hauptverkehrsader der Stadt begrenzt, auf der anderen Seite durch das Firmengelände einer Spedition. Ein gewisser Geräuschpegel begleitet den Alltag der Familie Tag und Nacht. Tagsüber kommt von der Straße der Lärm des stetigen Verkehrs und von der anderen Seite, in den Abend- und Morgenstunden der Lieferverkehr der großen LKW`s. Das graue Standrandmilieu zieht gesellschaftliche Randfiguren an. Die Verlierer, Außenseiter, Verrückten, Kranken und Armen der Stadtbevölkerung. Für mich ist es von großer Bedeutung diese Menschen möglichst authentisch zu zeigen. Der Text wird unglaubwürdig, wenn ich in sozialkitschigen Moritaten die Außenseiter als Heilige skizziere. Ich kann nicht sagen, dass ich viele Obdachlose, Alkoholiker, Prostituierte zu meinen Freunden zähle. Natürlich sind in meinem Leben mir problembeladene Zeitgenossen begegnet, die eher am Abgrund als in mitten der Gesellschaft leben. Trotzdem kann ich nicht behaupten, sie in ihrer Lebenssituation über längere Zeit beobachtet zu haben. Mir kann man also leicht vorwerfen, ich wüsste nicht, worüber ich schreibe und letztendlich benutze ich das Schicksal anderer Menschen, um mich als Autor zu profilieren. Es ist in diesem Falle eine verdammte Gratwanderung zwischen Fiktion und Realität und für mich stellt es eine Hürde dar. In anderen Texten habe ich nicht immer aus einer optimalen Perspektive heraus Dinge beschrieben, die ich nicht erfahren habe. Natürlich weiß ich, dass ich nicht wie ein Journalist schreiben muss, der reale Begegnungen und Begebenheiten wahrheitsgetreu darstellen will und die eigene Interpretation hinzufügt, aber auch kenntlich macht. Ich schreibe nicht dokumentarisch und kann mir das Recht herausnehmen, zum Stilmittel der Überhöhung oder Verkürzung zu greifen. Kein Schriftsteller dieser Welt ist gezwungen, das Bewusstsein einer Person in seinen unendlichen Facetten auszuleuchten. Dann gäbe es keine Geschichten mehr, sondern nur noch Psychogramme, die auch ein Psychologe hätte schreiben können. Es gibt diesen Grenzbereich zwischen Fiktion und Wirklichkeit, aus der sich die Verpflichtung des Autors ableitet, die Würde der Figuren und ihre Herkunft zu wahren. Jede Romanfigur hat seinen Urgrund in der Wirklichkeit, in einer oder mehrerer real existierende Personen. Wenn Autoren erzählen, sie haben eine Figur erfunden, lügen sie.

Ich skizziere die Figuren nur kurz, werde aber bei Ausgestaltung meines Textes meine Bedenken in Ehren halten.

Kira: Prostituierte aus Polen, die in einem abgewrackten Nebengebäude ihre Kunden empfängt. Jo und Lu begegnen ihr oft und wundern sich über ihr Erscheinungsbild. Kira steht oft rauchend und in aufreizender Bekleidung vor ihrer Wohnung. Es entsteht eine Art Freundschaft zwischen ihr und den Kindern, die Jahrelang anhält, bis Kira eines Tages einfach verschwindet.

Erhard der Penner, der in abgerissenen Klamotten in der Nachbarschaft abhängt und zumeist eine halbleere Bierflasche vor sich her trägt.

Friedrich, der Schrotthändler, der auf seinem Schrottplatz lebt.

Frau Kowalski, die alte Nachbarin, Rentnerin über achtzig, die schon leicht dement ist und in ihrer Messiewohnung lebt.

Der Hausmeister der Spedition, der die Kinder immer verscheucht und anbrüllt….

Die Frau vom Jugendamt, die nach dem Verschwinden der Mutter die Familie betreuen will und daran scheitert, weil sich Johannas Vater nicht helfen lassen will. Schließlich gibt sie auf.

Die Direktorin der Grundschule: Jo hat trotz aller Widrigkeiten gute Noten. Die Rektorin sorgt trotzdem dafür, dass Jo nur in die Hauptschule/ Realschule kommt, weil sie aufgrund des sozialen Umfelds Jo in eine Schublade steckt und ihr nicht zutraut, aus dem Übel heraus zu kommen.

Ihre einzige Schulfreundin, die sie seit der ersten Klasse begleitet und die sich immer wieder begegnen. Ihre Familie ist das Gegenbild zu Jos Umfeld. Die Eltern sind Akademiker, Aufsteiger, die mit großen Auto und Haus in der Innenstadt protzen und denen das aber nicht reicht. Ihre Tochter soll es einmal noch besser haben und die besten Chancen erhalten und dementsprechend treiben sie ihre Tochter vor sich her. Ihre Tochter wird sich gegen sie stellen.

Somit habe ich schon ein großes Portfolio an Personen. Aus dem Reservoir an Charakteren kann ich mich bei der Entwicklung der kompletten Handlung bedienen. Ich werde aus den Verhaltensweisen der beschriebenen Personen den Plot stricken. Sie sind der Wollfaden, mein Grips und die Tastatur sind die Stricknadeln und ab und zu wird mir eine Masche herunterfallen und ich muss mir etwas Neues einfallen lassen. Das heißt aber auch, dass die eine oder andere Nebenfigur wegfallen wird, andere Personen hinzukommen oder sich anders darstellen, wie oben beschrieben.

Nennen wir die Kinder doch beim Namen

Als nächstes beschäftige ich mich ausführlich mit den Personen. Zwei wichtige Personen habe ich schon genannt und ihnen Rollen zugewiesen. Es geht im Folgenden darum, den Personenkreis zu erweitern und diese Personen lebendig werden zu lassen. Dazu gehören Details wie Namen, Charakterbeschreibungen und die Historie jeder Person. Es ist überaus wichtig, ihnen Leben einzuhauchen und dazu gehören nun einmal auch die Herkunft und die Einflüsse, die einen Menschen prägen. Für mich hat es sich als praktisch erwiesen, eine Art Dossier zu jeder Person zu entwerfen. Dabei erstreckt sich diese Feinarbeit auf Hauptpersonen und wichtigen Nebenfiguren. Alles andere führt zu weit und ist wieder kontraproduktiv. Am Ende entsteht ein eigener Mikrokosmos, der die Grundlage für die Entwicklung der Handlung darstellt. Meine Arbeit beginne ich, indem ich mir einen Kreis an Hauptpersonen überlege. Anfangs sind das drei bis fünf Personen. Nach und nach kommen noch ein paar Hauptpersonen hinzu. In diesem Fall ist es einfach: Im Mittelpunkt steht eine Familie. Also: Mama, Papa, Kinder. Sollen es mehrere Kinder sein? Sohn und Tochter oder nur Töchter? Die Hauptperson soll am Anfang der Erzählung ca. 12 Jahre alt sein. Erfahrungsgemäß sind die ältesten Kinder einer Familie am meisten von Konflikten in der Familie betroffen. Sie fechten viele Konflikte für die jüngeren Kinder aus. Sie sind oft diejenigen, die den Streit der Eltern am ehesten zu spüren bekommen, weil niemand älteres da ist, der sie beschützt und ihnen Rat geben kann. Zumeist haben sie die Verantwortung für ihre jüngeren Geschwister. Also bekommt die Hauptperson ein jüngeres Geschwisterkind an die Seite gestellt. Wir nehmen ein Mädchen, das etwas jünger ist, so etwa sechs bis acht Jahre alt. Die Familie besteht aus einem Vater, Mutter und einer Tochter 12 Jahre alt und einer Tochter acht Jahre alt. Ich modelliere erst einmal diese vier zentralen Figuren und erarbeite mir den Familienkosmos. Die Verbindungen und Vernetzungen zwischen den vier Personen müssen vor dem Schreiben schon deutlich erkennbar sein. Z.B. welche Tochter ist ein Vater- oder Mutterkind? Wie fasst die Mutter ihre Rolle in der Erziehung auf? Ist der Vater mit seiner Position in der Familie glücklich? Wie sieht diese aus? Aber am Anfang steht erst eine ganz banale Angelegenheit: Die Menschen brauchen Namen. Ein heikles Thema. Es gibt durchaus Autoren, die die Namen ihrer Figuren mit einer Symbolik beschweren. Das bekannteste Beispiel: Die Ehre der Katharina Blum von Heinrich Böll. Dazu muss man sagen, dass ich nie ein großer Böll-Fan war. Die meisten deutschen Autoren aus der Nachkriegszeit, egal ob Gruppe 47 oder nicht, langweilen mich auf die eine oder andere Weise. Katharina Blum soll unschuldig und vielleicht sogar etwas naiv klingen, naturnah und rein. Wenn man Angelika Winkler in der Verfilmung sieht, denkt man, dass der Regisseur nicht viel von der Namensgebung gehalten hat. Sie wirkt verstört und gebrochen, anstatt naiv und verletzlich. Mit der Symbolik nehme ich es nicht sonderlich ernst. Es sollten in dem Fall der Familie bodenständige Namen sein. Namen, die typisch zu der Zeit der Geburt der Personen war, verbunden mit einem gewöhnlichen häufig vorkommenden Nachnamen. Dahinter steckt nicht die Überlegung die Namen mit Symbolen oder einer Konnotation aufzuladen. Diese Familie ist nicht aus der Zeit gefallen. Sie soll die Auseinanderentwicklung der sozialen Schichten repräsentieren und deswegen sind es Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die nun einmal nicht Baronin von und zu heißen. Das junge Mädchen wird als Erwachsene für die Ausübung ihres Berufes als Schriftstellerin einen Künstlernamen benutzen, der natürlich abgefahren und interessant klingen muss.

Name der Hauptperson:

Jo (hanna) Sommer Hauptperson Künstlername: Alethea Cumberland

Lu (isa) Sommer Schwester

Olaf Sommer Vater

Kerstin Sommer Mutter

Der Boden, der Dünger und die Saat

 Wie schlägt sich jetzt mein ambivalentes Empfinden für meine Heimat in meinem Text nieder?

Eine Schriftstellerin beschreibt ihre Kindheit in einer Kleinstadt, die in einer ähnlichen Situation wie meine Heimatstadt steckt. Die Stadt bildet den verkeimten Untergrund, auf dem die Probleme einer Familie ungehindert aufblühen können. Ich werde Wetzlar nicht nennen, sondern eine fiktive Stadt erschaffen, die sich in manchen Beschreibungen an Wetzlar anlehnt, aber an anderen Stellen abweicht. Warum dieser Kunstgriff? Ich habe in meinen ersten beiden Romanen genau dieselbe Konstellation gewählt. Ich schrieb über eine Stadt, die ich kenne, die es aber gar nicht gibt. Es gibt mir den Freiraum, manche Umstände auszumalen und zu konstruieren, ohne das zu vergessen, wofür meine Heimatstadt steht. Nehme ich meine Heimatstadt als Symbol, kann ich Akzente setzen und wichtige Elemente überhöhen. Wie ein Maler, der die Farben kräftiger setzt und Lichteinfall überbetont, um auf wichtige Bestandteile seines Gemäldes aufmerksam zu machen.

Die Stadt beeinflusst wesentlich das Drama um die Hauptperson. Ein scheinbarer Glücksfall für die Familie entpuppt sich als absoluter Alptraum. Der Vater der Hauptperson hat ein Haus in der Peripherie der Stadt geerbt. Vorher die Familie in einer der Vororte zur Miete im sozialen Wohnungsbau gelebt. Der Onkel des Vaters hatte keine eigenen Kinder und lebte alleine. Da die Eltern des Vaters auch schon verstorben waren, ist er der gesetzliche Erbe. Er hatte nicht viel Kontakt zu seinem Onkel, alleine schon, weil er als Einsiedler und Kauz verschrien war. Das Haus liegt an der verkehrsreichsten Stelle in der Stadt, inmitten eines Gewerbegebietes, in der Nähe der Bahnlinie. Es ist in keinem guten Zustand. Der Onkel hat jahrelang an dem Haus herum gewerkelt und es nur noch schlimmer gemacht, als es schon vorher war. Das Erbe erweist sich schnell als Last für die Familie. Die Kinder wachsen an einer vielbefahrene Straße in einem baufälligen Haus auf. Um das Haus auf Vordermann zu bringen, reichen die eigenen finanziellen Mittel nicht aus. Der Vater investiert seine gesamte Kraft in die Modernisierung des Hauses. Er scheitert und verliert nach und nach alles. Seinen Job, seine Ehefrau, sein Traum vom Eigenheim. Das Haus ist in dem Zustand und in der Lage nicht verkäuflich. Wie ein Fluch klebt es an der Familie.

Es gibt solche Ecken in meiner Heimatstadt. Straßenverkehr auf der einen Seite, Zugverkehr auf der anderen Seite und mittendrin noch Gewerbegebiet. Und trotzdem wohnen dort Menschen. Gerade an den Ein- und Ausfallsstraßen der Stadt, die Braunfelser und Altenberger Str. gibt es ausreichend solche Ecken. Wenn man die Stadt kennt, wird der eine oder andere behaupten, dass sei alles kein Problem. Irgendwo muss der Verkehr ja durch, irgendwo muss sich Gewerbe stadtnah ansiedeln können. Das gehört zu einer urbanen Umgebung dazu und in einer Großstadt gibt es viel schlimmere Ecken, wenn dann zum Beispiel noch ein Hafen, Industrie und ein Flughafen hinzukommt. Mag alles sein. Wenn man die besagten Gegenden besucht, ist es kein schöner Anblick, es ist für Kinder keine geeignete Umgebung, insbesondere, wenn es zwei Straßen weiter ruhig und schön ist und man auch die entsprechende Infrastruktur vorfindet, wie Spielplätze usw. Es geht auch eher darum, dass dieses Haus als Erbe einerseits eine Last ist und andererseits zur fixen Idee des Vaters wird, der damit die Familie in den Ruin treibt. Die Umgebung ist nur der Katalysator. Läge das Haus in einer ruhigen Ecke, hätte die Familie es einfach verkaufen können. Es ist aber unverkäuflich, weil niemand neben einer Durchgangsstraße und einer Eisenbahnlinie wohnen will und es außerdem in einem fürchterlichen Zustand ist. Grundsätzlich stellt sich die Frage, inwiefern der Mensch auch innerhalb einer urbanen Umgebung das Anrecht auf eine menschenwürdige Umgebung hat, wirtschaftliche Interessen über die Interessen des Einzelnen stehen und der ständige Verbrauch von Flächen und natürlichen Ressourcen überhaupt in einem Land notwendig sind, dessen Bevölkerung in den nächsten Jahren schrumpfen wird. Das sind Fragen, die mitschwingen und auch ihren Ausdruck im Text finden können, aber nicht unbedingt müssen. Diese Entscheidungen trifft ein Autor an anderer Stelle. Es besteht ständig die Gefahr, den Text damit zu überfrachten. Es soll eine Geschichte entstehen, die aktuelle Entwicklungen und gesellschaftliche Problemstellungen wiedergibt, weil diese direkte Auswirkungen auf die handelnden Personen haben.

Randgebiete meiner Heimatstadt Wetzlar – 3 Impressionen

    

Es tut so weh, man mag gar nicht hinschauen

Was hat nun meine Heimat mit der Geschichte zu tun, die ich schreiben will? Die Gegensätze zwischen moderne Industrie und kleinteiliger Architekturhistorie ziehen sich durch die Wohnviertel und machen sich auch zwischen den Menschen breit. In Wetzlar leben viele Leute, die Anteil am gutbürgerlichen Wohlstand in allen seinen Ausprägungen haben, aber es leben dort genauso viele Menschen, die am Rande der Gesellschaft in Armut und sozialer Ausgrenzung ihr Dasein fristen. Die Stadt ist nicht aufgeteilt in arme und reiche Viertel. Vielmehr ist alles vermischt miteinander und die Grenzen fließend. Dort wo die herunter gekommenen Häuser eine gewisse Armut ausstrahlen, kann es in der Nachbarstraße genau umgekehrt sein. Das heißt nicht, dass die Menschen koexistieren, sondern oft verbirgt sich die Armut der Einen hinter dem Wohlstand der Anderen. Die Armut in den Seitenstraßen fällt nicht auf und ist kaum sichtbar, während sich die Reichen hinter hohen Zäunen und Klingeln ohne Namenschilder verstecken. Manchmal erwarte ich ein offenes Gegeneinander.  Da sich aber alle verstecken, kann man den jeweils anderen auch nicht auf die Nerven gehen oder sich von ihm bedrängt oder ausgegrenzt fühlen.

Subtil und kaum spürbar für den oberflächlichen Beobachter herrscht in der Stadt ein eisiges Klima. Wer die städtische Politik verfolgt, erlebt eine einheimische Elite, die unter sich bleiben möchte. In ihrer Vetternwirtschaft begünstigen sie sich gegenseitig und sorgen dafür, dass nichts Neues in der Stadt blüht. Ein heimischer Politiker hat Wetzlar überregional in die Schlagzeilen gebracht, weil er als bildungspolitischer Sprecher seiner Fraktion im Landtag eine wichtige Funktion begleitet und auch gerade in dieser Funktion in vielen Dingen eine neutrale Position vertreten sollte, allerdings in seinem Wetzlarer Hassblättchen, dass alle vier Wochen in den Briefkästen liegt, gegen Moslems, Schwule, Linke und Ausländer hetzt. Über genau den gleichen Politiker ist überall in der Stadt zu hören, dass seine politische Meinung die eine Seite ist, aber die andere Seite ist, dass der Hans-Jürgen immer für einen da ist und auch mal in Wiesbaden Gelder für das persönliche Anliegen besorgt. Also Klientelpolitik ohne Vernunft, die nur der Sicherung der eigenen Machtbasis dient. Ein anderes Beispiel: Wir haben seit langer Zeit in Wetzlar ein Leerstandsproblem in der Innenstadt. Der Einzelhandel hat sich fast vollständig aus der ehemaligen Fußgängerzone am Bahnhof zurückgezogen. Ein Problem, dass viele kleinere Städte kennen. Jahrelang hat man nach einer Lösung gesucht, weil auch dieser Teil der Stadt zu versumpfen droht. Eine leere Fußgängerzone mit Säuferkneipen zieht nur fragwürdiges Publikum an. Irgendwann hatte man die kluge Idee, Bürger mit in den gewünschten Veränderungsprozess mit einzubeziehen. Man hat für viel Geld ein Stadtplanungsbüro engagiert, die die Stärken der Stadt herausarbeitete, dem städtischen Magistrat entsprechende Empfehlungen vorlegte und den Beteiligungsprozess mit den Bürgern begleitete. Grundsätzlich ein gute Idee und gut gemeinte Öffnung des Diskurses, da Ideen von externen Experten solch ein Prozess positiv beeinflussen können. Man ist mit den Bürgern durch die Stadt gegangen und hat Lösungen diskutiert. Einige Dinge wurden im Laufe der letzten Jahre umgesetzt, andere Dinge sind noch nicht umgesetzt und stellen sich teilweise als nicht umsetzbar heraus. Trotzdem hat man die Chance ergriffen, etwas grundsätzlich in der Stadt zu ändern. Klar ist, wenn die Stadtplanung auf die Bedürfnisse möglichst vieler Rücksicht nimmt, ist diese Stadt die Stadt aller Bürger und nicht nur die von wenigen. Auffällig war bei diesem Prozess, dass die größten Widerstände von den Hauseigentümern kamen. Also eigentlich den Menschen, denen es daran liegen muss, dass die Stadt für Außenstehende attraktiv ist. Die Vertreterin von Haus und Grund war bekannt dafür, mit ihren nervigen Einwürfen jede neue Idee zu torpedieren. Ich hatte den Eindruck, in den alten Vierteln darf sich nichts ändern, weil man sich ansonsten mit jungen Menschen oder Familien mit mittleren Einkommen auseinander setzen müsste, die durch die Veränderungen die Chance bekommen, in der Innenstadt sesshaft zu werden. Man hat immer nur gejammert, dass man dem Einzelhandel eine Chance geben muss und die alten Einkaufsstraßen Bahnhofstraße und Langgasse wieder für den Einzelhandel attraktiv gestalten sollte. Das sind fromme Wünsche von Menschen, die der Tatsache verschließen, dass der Einzelhandel als Mieter zwar eine kalkulierbare und interessante Einnahmequelle ist, aber der Einzelhandel sich nun einmal seit Jahren aus den Innenstädten zurückzieht, um in Shoppingmalls unabhängige Einkaufswelten zu schaffen, fern ab der Innenstädte. Der Einzelhandel schafft sich dort effiziente Räume, die genau auf die großen Filialketten zugeschnitten sind. Das kleinteilige wird in unserer Ökonomie nicht als gangbarer Weg betrachtet. Man schafft über Expansion und Größenklassen die größtmögliche Abschöpfung des Gewinns. Das ist nicht schön und jeder heult dem Tante Emmaladen nach und trotzdem gehen alle gerne bei Aldi und Rewe einkaufen. Bei den frommen Wünschen und den halbherzigen Willen zur Veränderung ist es leider geblieben. Sinnvolle Ansätze sind wieder für die alten Eliten umgedeutet worden. In der Folge hat man die Hauseigentümer begünstigt, in dem man an der Lahn Häuser mit teuren Eigentumswohnungen hochzieht, die natürlich nur sehr wohlhabende Menschen als Kapitalanlage kaufen, um sie vielleicht selbst zu bewohnen, aber am liebsten zu vermieten und zwar nur zu den entsprechend hohen Mietpreisen. Man schafft so keine Durchmischung in der Stadt, sondern nur die Aufwertung für das entsprechend wohlhabende Publikum, während die mittleren bis unteren Einkommen sich wieder in die teilweise unattraktiven aber preiswerten Randlagen in Niedergirmes oder Dalheim verziehen. Der Leerstand in der Bahnhofsstraße bleibt. Es gab Ideen, aus der Bahnhofstraße und Lahnhof ein Wohnviertel mit der dazugehörigen Infrastruktur zu schaffen. Mit Parks, Schulen und Kindergärten. Man hätte dafür einige Großkapitalisten quasi enteignen müssen, die den Leerstand verwalten, um sich Abschreibungsmöglichkeiten zu bewahren. Seltsamerweise gehören einige der besagten Objekten Immobiliengesellschaften, die an anderer Stelle mit attraktiven Einkaufszentren Gewinne abschöpfen. Die Bürger werden also mehrfach bestraft. Mittlerweile sind die Mietpreise in der Altstadt auf einem fast unbezahlbaren Niveau und der Plan in der Mitte der Stadt, erschwinglichen Wohnraum zu schaffen, um eine Durchmischung zu erreichen, stellt sich als Idee für Idealisten heraus.

Wir verorten uns jetzt mal

Wir sind aber nicht am Ende der Geschichte. Trotzdem ist es schön zu sehen, dass der Anfang ganz logisch zu einem sinnvollen Ende führt und nichts ist besser, als als Autor schon einmal den Gesamtrahmen der Handlung zu kennen. Bevor ich den Rahmen mit Leben fülle, gibt es noch viele Details zu klären. Wir haben die Zeit geklärt und nähern uns jetzt dem Raum, das heißt dem Ort der Handlung. Alle meine Romane haben meine Heimat als Bezugspunkt. Man möge mir daraus den Vorwurf stricken, dass ich nur das mir Bekannte beschreiben kann. Es steckt mehr dahinter. Natürlich fällt es mir leichter die Umgebung, in der ich lebe, zu erfassen und als Autor literarisch zu reproduzieren. Ich lebe in Mittelhessen und habe hier meine Wurzeln. Nur ein kleiner Teil meiner Familie stammt von hier und trotzdem zähle ich mich zu den Eingeborenen. An der Art wie ich Rede kann man meine Herkunft bestens erkennen. Ich spreche diese weiche labberige hessische Sprachtönung, die zwischen nasalen und nuscheligen Lauten über die hart klingenden Buchstaben hinweg huscht. Den örtlichen Dialekt imitiere ich, ohne ihn perfekt sprechen zu können.

Ich habe niemals an einem anderen Ort gelebt und natürlich, wenn ich Berlin, Frankfurt oder Köln bin, frage ich mich, ob ich dort besser leben könne. Sogar wenn ich an die Nordsee in den Urlaub fahre, frage ich mich, ob ich nicht lieber am Meer leben sollte, anstatt in diesem verwaschenen Klima zwischen Taunus und Westerwald. Und doch kehre ich jedes Mal in das Lahntal zurück und kann es kaum erwarten den Karlsmunt zu sehen oder unsere Straße, die auf einer Halbinsel zwischen Lahn und Dill liegt. Wenn ich aus meinem Wohnzimmer zwischen die Häuser schaue, kann ich den Wetzlarer Dom sehen und wenn ich die Straße herunter laufe, bin ich an der Lahn und sehe die alte Lahnbrücke. Das ist meine Welt und sie ist nicht immer hübsch anzusehen. Wetzlar ist vom Fluch oder Segen, je nachdem aus welche Perspektive man schaut, betroffen eine Altstadt zu haben, die von modernistischer Industriekultur umringt ist. Es ist bezeichnend, dass das höchste Gebäude in Wetzlar nicht der Dom, sondern einer der Türme von Heidelberg-Cement ist, die dieses Jahr fallen sollen. Vor ein paar Jahren hat man das Betonwerk stillgelegt. Es ist fraglich, ob das die mutwillige Zerstörung eines Denkmals ist oder die Befreiung einer Stadt, die seit mehr als einem Jahrhundert von der Industrie dominiert wird. Und genau dieser Zwiespalt macht für mich als Autor die Stadt und die Gegend interessant. Wunderschöne Ausblicke säumen die Höhen über der Stadt. Bei klarem Wetter habe ich das Gefühl, vor mir liegt ein unberührtes grünes Paradies. Ist man unten in der Stadt, zur besten Stoßzeit, drängeln sich die Autos mit aller Gewalt über den Karl-Kellner-Ring in die Braunfelser Straße hinein. Der Krach ist unerträglich und man wähnt sich in einer Großstadt. Fährt man nach Niedergirmes, liegt links das übermächtige Industriegelände der Firma Buderus und rechts der an vielen Stellen unansehnliche Ortsteil, der seinen negativen Ruf nicht wirklich verdient hat. Biegt man ab, fährt an den Rand des Stadtteils kann über eine steile Auffahrt einer der schönsten Aussichtspunkte der Gegend oben auf dem Simberg erreichen. Dann liegt das Lahntal vor einem und man kann sogar über die Industrietürme hinwegsehen.