Reihe 3, Platz 58 und 59: die Brücke von Mostar von Igor Memic

Der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien hatte sich Anfang der Neunziger Jahre allmählich in unser Bewusstsein geschlichen. Da das ehemalige Jugoslawien ein beliebtes Reiseland der Deutschen war, ging es anfangs nur um die Frage, ob man noch dort hinfahren könne. Als dann die ersten Urlauber aus dem Urlaub evakuiert werden mussten, weil im ehemaligen Jugoslawien kriegsähnliche Zustände herrschten, war klar, dass sich der schwelende Konflikt zu einem handfesten Bürgerkrieg entwickelte.

 Erst dann lernten wir, das Jugoslawien nur existiert hatte, weil der kalte Krieg, der Sozialismus und Tito es zusammengehalten haben und wir lernten, dass es keine Jugoslawen, sondern nur Kroaten, Slowenen, Bosnier, Kosovo-Albaner, Montenegriner und Mazedonier gab. Der langgehegte Hass auf die jeweils andere ethnische Gruppe ging auf die Schlacht ums Amselfeld im Jahre 1389 zurück. Bis dato kannten wir das Amselfeld nur als Bezeichnung für einen billigen und süffigen Rotwein und hätten uns nie vorstellen können, dass dort auf dem Amselfeld die Rechtfertigung für einen Bürgerkrieg in der Gegenwart begründet wurde.

 Als sich die Flamme des Hasses entzündete und zu einem Feuerinferno entwickelte, schienen die Protagonisten des Stückes „Die Brücke von Mostar“ wie wir ahnungslosen Mitteleuropäer ähnlich überrascht und ahnungslos zu sein, obwohl sie inmitten des Brandgebietes aufwuchsen.

 Emina betritt in einem mit roten Stoffrosen bestickten schwarzen Mantel die Bühne. Sie zieht einen riesigen Sack hinter sich her, rollt einen Teppich aus und beginnt ihre und die Geschichte ihrer Freunde zu erzählen.

 Das Stück beginnt Ende der Achtziger in Mostar. Mina, Leila und Sasha, lebensfrohe Jugendliche, denen amerikanische Popmusik und ausgelassenes Feiern wichtiger als alles andere ist, beobachten den alljährlichen Sprungwettbewerb von der alten Brücke, die die Namensgeberin und das Herz der Stadt Mostar ist. Sie lernen Mili kennen, der aus Dubrovnik in die Geburtsstadt seiner Mutter zurückgekehrt ist und der genauso wie die drei anderen von seiner jugendlichen Lebensfreude beseelt ist. Beim Sprung von der Brücke blamiert er sich zwar, gewinnt aber das Herz von Mina.

 Dann schleicht sich langsam aber unaufhörlich die Zwietracht in ihr Leben. Erst sind es nur Diskussionen um die Nachbarn und ihre Religion, später beginnt ein Kampf um alltägliche Dinge, die man nicht mehr in Geschäften kaufen kann, dann wird die Stadt geteilt in einen muslimischen und christlichen Teil, man muss sich entscheiden, ob jenseits oder diesseits der Brücke wohnen will, später marodieren Soldaten und Milizen durch die Stadt, bringen Zivilisten um, legen die Stadt in Schutt und Asche. Die vier Freunde versuchen sich gegen ihr Umfeld zu stemmen, handeln solidarisch und leben das Gegenmodell zum blinden Hass, der ihre Stadt in ein Kriegsgebiet verwandelt hat.

 Und trotz aller Bemühungen die Freundschaft und Zuneigung zu erhalten, können sie sich dem Konflikt um sich herum nicht entziehen. Als Leilas Mutter nach einem Hausbrand verschwindet und später wieder auftaucht, versucht Sasha, der als Soldat seinen Dienst verrichtet, sie zu ihrer Mutter zu bringen, dabei wird Leila getötet. Dann dringen Soldaten in Minas und Milis Wohnung ein. Mina entkommt nur knapp, weiß aber nicht, was mit Mili geschehen ist. Sie erreicht die Brücke, die zum gleichen Zeitpunkt in die Luft gesprengt wird.

 Die schwangere Mina kann sich retten, findet später Mili in einem Lazarett, der aber bald darauf stirbt. Sie zieht ihr Kind alleine groß, trifft später Sasha, der an dem Krieg, dem Tod von Leila und seinem verpfuschten Leben verzweifelt und sich kurz darauf umbringt.

 Es bleibt nur noch Mina übrig, die als Emina, ihre älteres Ich, die Geschichte erzählt.

 Außer einem Gerüst, das im vorderen Teil der Bühne in die Höhe schießt, gibt es kein Bühnenbild. Die Inszenierung lebt alleine von der gefühlsstarken und lebendigen Darstellung der Schauspieler. Emina ist Teil ihrer Erzählung, Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen miteinander und wenn die Emina mit Mina vor dem Gerüst am Ende tanzt, weiß man das nicht alles vergebens war und ihr die Erinnerung an ihre Freunde und ihr lebensfrohe Jugend hilft, ihr eigene Geschichte zu verstehen und zu ertragen.

 Selten hat mich eine Inszenierung in Gießen so emotional berührt. Nach der Pause gelang es mir kaum, die Tränen zurückzuhalten. Wir haben quasi mit den Protagonisten auf der Bühne mitgeheult. Aber wir sind in einer komfortablen Lage und mitheulen bei Filmen oder Theaterstücken sollte nicht nur dazu dienen, seine Emotionen, die man im Alltag ja oft eher kontrollieren muss, freien Lauf zu lassen. Empathie für Schauspieler aufzubringen, die eine tragische Situation simulieren, ist für friedensverwöhnte Mitteleuropäer eine leichte Übung. Man muss aufpassen, dass man den Hass, der direkt an der nächsten Ecke auf einen wartet, nicht in sein Herz und Gehirn hineinlässt. Dazu reicht es nicht, in Theatern zu heulen. Dazu braucht es Wachsamkeit, Mut und eine Lebensfreude, die die vier jungen Menschen in Mostar Ende der Achtziger zusammengeschweißt hat. Falls man aus diesem Stück so etwas wie eine Moral oder Lehre ziehen möchte, dann vielleicht: lass dir deine Lebensfreude und deine Freunde nicht von dem Hass der anderen nehmen.

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