Franfurter Buchmesse 2024

Es gibt Ereignisse, die sich jährlich wiederholen und deren Anziehungskraft man sich nicht entziehen kann. Auch wenn man sich vornimmt, sie zu ignorieren wird man von ihnen regelrecht angesaugt: Samstag, 19.10.2024, gegen acht Uhr morgens stehen wir pünktlich in Wetzlar am Gleis 5, obwohl die letzten beiden Wochen voller Termine und Stress war und wir eigentlich mal eine Pause brauchen. Aber die Aussicht auf eine reibungslose Fahrt nach Frankfurt, mit Sitzplatz, ohne Geschubse, weil wir einen Zug früher nehmen, die Eintracht heute kein Heimspiel und die Buchmesse die Anzahl der Besucher begrenzt hat, ist Motivation genug und lässt uns die Mühen der letzten Wochen vergessen. Weil diesmal die Rahmenbedingungen fast perfekt sind, erreichen wir pünktlich zur Öffnung der Messe, den Eingang und flutschen durch Sicherheitskontrolle und Einlass.

Wir gleiten weiter auf den Rollbändern für Fußgänger durch die hellen Gänge, die die Messehallen miteinander verbinden.

 Eine Neuerung, neben der Begrenzung der Eintrittskarten für Besucher, ist die Auslagerung der New-Adult-Literatur und alles was dazu gehört in die Halle 1.2..Die Halle 3.0, das Forum und viele Veranstaltungen waren in den letzten Jahren hoffnungslos überlaufen. Zum Glück haben die Organisatoren der Buchmesse einige Maßnahmen ergriffen, um den Druck auf den Kessel etwas rauszunehmen. Meine Tochter Polly mit ihren dreizehn Jahren wollte unbedingt zuerst in die New-Adult-Halle. Ich wollte wegen dem kostenlosen Popcorn, dass an einem Stand angeboten werden sollte, in die Halle und wir standen eine Weile dort vor einem Absperrband und beobachteten langmütig die jungen Menschen, die mit der Popcornmaschine kämpften. Irgendwann kam jemand und erklärte uns, dass es kein Popcorn gäbe. Es gab schon Popcorn, aber man wollte es nicht verteilen, warum auch immer. Dieser Stand war typisch für den New-Adult-Bereich: man fühlte sich ein wenig wie auf einer Verkaufsveranstaltung. Man versprach uns kostenlose Darbietungen und wollte uns eigentlich nur anlocken, um uns überteuerte Heizdecke anzudrehen. Überall Hinweise auf Angebote, Wühltische mit Büchern wie beim Sommerschlussverkauf und überall kleine Mädchengrüppchen, die quengelnd und quietschend Bücher an sich rissen, als seien es wertvolle Einzelexemplare.

 New-Adult-Literatur hätte ich früher als Kitsch bezeichnet. Mache ich aber nicht mehr, weil ich ansonsten den Hass dieser merkwürdigen quietschenden und quengelnden Teenzombies auf mich ziehen würde, die ansonsten nur auf bunte Bucheinbände und spicy Lovestories reagieren. Und somit bleiben die jungen Studenten, die in kleinen Nischen Ihre Unis und die Studiengänge rund um Literatur und Medien bewerben, ziemlich einsam an ihren Stehtischen zurück, ähnlich wie die Selfpublisher-Verlage, die die Aufmerksamkeit der Teeniezombies nur erreichen, wenn einer ihrer Stars sanft flötend und mit großer Gestik, ein Buch vorstellt.

 Wir haben bald genug vom Gewühle in Bücherstapeln und Teeniezombies und flüchten in die Halle 4.0. Wir wollen uns die Vorstellung des Jugendwortes des Jahres anschauen und geraten in eine Vorstellung der diesjährigen Preisträgerinnen des deutschen Jugendliteraturpreises. Gerade wird Eva Rottmann interviewt, die das Buch „Kurz vor dem Rand“ geschrieben hat. Ich kenne weder das Buch noch die Autorin, aber meine Frau steht neben mir und glüht vor Freude. Sie hat das Buch gelesen und war begeistert und kann die Lektüre nur empfehlen.

 Die Veranstaltung ist schnell vorbei und meine Tochter taucht neben mir auf und hält mir feixend ihr Handy unter die Nase. Ich sehe das Selfie meines neunjährigen Sohnes, das ihn mit einem jungen Mann zeigt, der mit ihm um die Wette in die Linse grinst. „Noel Dederichs ist das!“ Ich zucke mit den Achseln und als wir einen Platz gefunden haben, tauchen neben der Bühne einige Leute auf und darunter dieser Noel. Mittlerweile habe ich gelernt, dass er sich als Influencer eine gewisse Prominenz erarbeitet hat und sogar neunjährige Jungs ihn kennen und bewundern.

 Dann geht die Show los. Zwei jüngere Frauen stellen die diesjährige Kampagne vor, die eine etwas zu sehr aufgeregt, die andere beantwortet ihre Fragen und es klingt alles sehr nach Marketing. Dann kommt der große Auftritt von Marvin TSP, noch so ein Influencerwesen, der für die Verkündigung des Jugendwortes ein Video gedreht hat. Er verkörpert in dem Filmchen die 10 Jugendwörter, die die meisten Stimmen erhalten haben und am Ende des Films gibt er bekannt, das Aura das Jugendwort des Jahres geworden ist. (Wenn einem die Entscheidung nicht gefällt, muss man übrigens sagen, das sei 500 Minusaura). Nun ist es raus und wir alten Menschen können uns wieder schlafen legen. Allerdings entsteht im Nachgang zur Verkündung des Jugendwortes des Jahres eine launige Podiumsdiskussion um Jugendsprache. Man hat noch eine Frankfurterin Professorin eingeladen, die zum Thema forscht und sie ist ein wahrer Gewinn für die Runde. Im Wechsel mit Marvin TSP ergibt sich ein generationenübergreifender kleiner Diskurs über die Veränderung der deutschen Sprache. Das Wort Cringe zum Beispiel hat es geschafft zu bleiben. Auch ältere Menschen nutzen es, weil es bisher dafür kein passendes Wort in der deutschen Sprache gab. Andere Worte tauchen kurz auf und verschwinden schnell wieder. Aber leider saßen wieder mal im Publikum die Leute, denen das klar ist, dass sich Sprache verändert und sich den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anpasst. Die anderen, die Gendergaga brüllen sobald man ein Innen an ein Nomen hängt, bleiben wie jedes Jahr leider zu Hause. Sie hätten an der Stelle viel lernen können.

 Wir haben ein wenig Zeit und streifen durch die Halle 4. Ich bekomme einen halben Herzinfarkt, weil unser Sohn sich immer wieder unserer Aufmerksamkeit entzieht und auf eigene Faust die Stände erkundet. Entnervt finde ich ihn am Stand der Bundeszentrale für politische Bildung. Man hat ihm eine Aufgabe gegeben. Er muss an sechs Ständen Fragen beantworten. Bei der richtigen Antwort bekommt er einen Stempel und wenn er alle Stempel zusammen hat, bekommt er eine Belohnung. Na endlich ist er sinnvoll beschäftigt. Ich gehe mit ihm los und suche die ersten Stände. Zwischendurch springen mich bei Pons ein paar Italienisch-Lernbücher an. Anfang November besuche ich einen Italienischkurs in der Volkshochschule und es ist vielleicht gar nicht schlecht, wenn ich mein Urlaubsitalienisch noch ein wenig vor dem Kursbeginn vertiefe.

Wir können nicht alle Stempel einholen, weil ich ins Forum will und dort auf der Literaturbühne von ARD,ZDF, 3Sat das Gespräch von Cemile Sahin mit Ariane Binder verfolgen möchte. Vor ein paar Wochen wurde im Spiegel ihr neues Buch „Kommando Ajax“ ausgiebig vorgestellt und ich wollte mehr erfahren. Cemile Sahin hat kurdische Wurzeln, hat in London Abitur gemacht und dort Bildende Kunst studiert und ist weit mehr als eine Autorin. Ihr neuer Roman ist wie ein Action-Film geschrieben, aber durchaus vielschichtiger und tiefsinniger als ein Action-Film. Später habe ich mir das Buch am Stand des Aufbau-Verlages gekauft und bin gespannt, ob das was sie auf der Bühne über ihr Buch erzählt hat auch im Text nachvollziehbar ist.

  Danach bekam ich noch ein paar Minuten des Gespräches mit der neuen Friedenspreisträgerin Anne Applebaum mit. Allerdings wollten wir rechtzeitig weiterziehen, um im Frankfurt-Pavillon noch freie Plätze für „Das andere Italien – Schreiben in illiberalen Zeiten“ mit Roberto Saviano aus Neapel und Deniz Yücel aus Flörsheim zu ergattern. Wann gibt es schon mal die Möglichkeit, zwei solch meinungsstarke Nestbeschmutzer live erleben zu können. Die Schlange am Pavillon war sehr lang. Wir hatten Glück und kamen gerade noch in  vollen Bude unter, die bis auf den letzten Stehplatz besetzt war.

 Ich habe vor Jahren das Buch von Roberto Saviano über die Camorra gelesen und aus der Ferne seinen Weg ein wenig verfolgen können. Die meisten Menschen kennen Deniz Yücel aus den Nachrichten, weil er fast ein Jahr als Geisel der türkischen Regierung in der Türkei inhaftiert war. Mittlerweile ist er Sprecher des PEN Berlin.

 Roberto Saviano gehört nicht zur offiziellen Delegation des Gastlandes Italien. Mit seiner Kritik an der Regierung hat er es sich wohl wieder einmal mit den Mächtigen verscherzt. Meloni reiste nach Neapel und erzählte auf öffentlichen Veranstaltungen, das Saviano sich mit seinen kritischen Werken über die Mafia nur persönlich bereichern wollte. Darüber kann sich Herr Saviano natürlich wort- und gestenreich aufregen (auch zu Recht). Man hat Kopfhörer verteilt, mit der Zuschauer sich eine Simultanübersetzung aus dem Italienischen anhören kann. Die Übersetzerin kommt kaum hinterher und kommt immer wieder mal ins Stocken. Die italienische Regierung versuche sich nach außen liberal und offen zu geben, allerdings versucht die Regierung immer inneren den Staat auf autoritär umzukrempeln. Wie man beim Italienischen Pavillon sehen könne, versucht die Regierung mit einem Rückgriffe auf eine angeblich glorreiche Vergangenheit, die wirklichen Probleme im Land zu überdecken.

 Herr Yücel bringt irgendwann das Wort Nestbeschmutzer ins Spiel. Herr Saviano und seine Übersetzerin finden keine Analogie dazu im Italienischen und sind irritiert. Aber das dauert bei ihm nicht lange und sein Redefluss wird nur noch von Herrn Yücel unterbrochen, der Herrn Saviano als jemand anpreist, der sein Land nicht verlässt, sondern vor Ort sich Gefahren und Risiken aussetzt und immer der Pfahl im Fleische der Mächtigen bleibt.

 Bald schmerzen mir die Füße und die vielen Worte der Beiden Protagonisten fließen an mir vorbei, wie das rauschende Wasser eines Flusses. Ich höre das Rauschen, aber da ich am Ufer stehe, werde ich davon nicht nass.

 Am Ende einer zähen dreiviertel Stunde schielen alle auf den Ausgang und hoffen, dass die Moderatorin die Veranstaltung beendet. Die letzten Minuten dehnen sich zu gefühlten Stunden und dann ging alles ganz schnell. Der Strom des Publikums spült uns an die frische Luft und wir machen uns auf dem Weg zum italienischen Pavillon im Forum, um Herr Savianos Eindrücke zu überprüfen.

 Man betritt den großen Saal und wird sofort mit einer riesigen Schlange am Kaffeestand konfrontiert. Wir haben ein bisschen Zeit und beim Schlendern durch den Pavillon einen Kaffee herumzutragen, ergibt anscheinend Sinn. Als wir uns einreihen, denke ganz naiv, dass hinter der Theke ein Barrista aus Italien steht, der für die Gäste echten italienischen Espresso brüht. Weit gefehlt! Es ist nur der Gastro-Dienstleister, der auf der Buchmesse alle Stände und Restaurants in den Hallen betreibt. Die drei Leute hinter der Kaffeemaschine sind hoffnungslos mit dem Ansturm überfordert. Nach fünfundzwanzig Minuten habe ich einen lauwarmen Capuccino in der Hand. Das Schlendern ähnelt eher einem raschen Hetzen. Aber wir sehen auf dem ersten Blick, es ist wie Herr Saviano es beschrieben hat: der Pavillon besteht aus einem Nachbau eines antiken Tempels, Platzes oder Säulengang. Ein undefinierbares Etwas an italienischem Klischee und auch viele Ausstellungsstücke verweisen auf die Vergangenheit. Die Ahnentafel italienischer Autoren besteht aus schwarz-weiß-Portraits und ihre Gesichter stammen eher aus dem letzten Jahrhundert. Ich ertappe mich dabei, dass ich mich nicht zu sehr darin vertiefen will, nicht das dort noch irgendein Mussolini-Günstling an der Wand hängt. Zum Glück habe ich wenig Zeit und während im Hintergrund eine Sängerin irgendwelche internationalen Pop-Evergreens ins Publikum trällert, stürze ich meinen lauwarmen Capuccino hinunter.

 Als wir an der Lesebühne ankommen, nimmt Caroline Wahl gerade auf der Bühne Platz. Ihr Debütroman „22 Bahnen“ liegt immer noch bei mir auf der Bettablage. Meine Tochter hat den Roman gelesen und war sehr angetan von der Geschichte und jetzt ist Frau Wahl hier um den Nachfolgeroman „Windstärke 17“ zu bewerben. Im Gespräch mit Mona Ameziane berichtet sie über das neue Buch, ihre plötzliche Berühmtheit und ihr Art zu schreiben. Ein angenehmes Gespräch. Ich habe nicht den Eindruck, dass Frau Wahl hinterm Berg hält und sie wirkt mit ihrer leichten Exzentrik sehr authentisch und sympathisch.

 Gesättigt von den vielen Eindrücken verzichte ich freiwillig auf Saskia Fröhlich, der ich auf Insta folge und die mit ihrem Buch „Introvertriert“ auf der Buchmesse unterwegs ist und auf Mithu Sanyal die mit ihrem neuen Werk „Antichristie“ auf den Bühnen der Buchmesse allgegenwärtig war. Irgendwo war auch Jagoda Marinic unterwegs, deren neues Buch „sanfte Radikalität“ ich bei S.Fischer entdeckt hatte. Wir schweifen noch durch Halle 3.0 und 3.1, die  sich am späten Nachmittag langsam leerten und kaufen Bücher ein. Mein Sohn beendet die kleine Schnitzeljagd der Bundeszentrale für politische Bildung und bekommt als Lohn eine Tasse, die ich am nächsten Tag leider aus Unachtsamkeit zerdeppert habe.  

 Nach einem kleinen Ausflug ins benachbarte Skyline Plaza, um dort noch etwas zu essen, sind wir wieder in den Zug nach Wetzlar gestiegen. Da wir früh genug am Bahnsteig waren und der Zug dort schon auf die Fahrgäste wartete, haben wir ohne Probleme Sitzplätze für uns gefunden. Aber wie immer bestand die Gefahr in Gießen zu stranden. Die RB 40 war wegen irgendeinem Defekt ausgefallen und wir kamen etwas später mit einer anderen Linie zu Hause in Wetzlar an. Ein ereignisreicher und schöner Tag neigte sich dem Ende zu. Manchmal ist es gut, wenn man wiederkehrenden Ereignissen nicht aus dem Weg gehen kann.

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