Völker, hört ihr die Spechte klopfen!

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Vor acht Jahren haben wir unser Haus gekauft und für viel Geld modernisiert. Wir haben uns lange überlegt, welche Energiesparmaßnahmen sich bei einem 120 Jahre alten Haus sich lohnen. Wir wollten Energie sparen und gleichzeitig die Umwelt schonen, weniger Co2 produzieren und weniger fossile Ressourcen verbrauchen. Den größten Effekt versprachen die Dämmung der Außenwände und die Dämmung des Dachbodens. Wir klebten an die Außenwände 17 cm Styroporplatten und verlegten auf dem Dachboden Glaswolle. Meine Frau, die Bauingenieurin ist, sprach von Schießscharten-Optik. Die Dämmung war so stark, dass die Fenster ungewöhnlich tief in den vermeintlich aufgeplusterten Wänden saßen. Aber diese starken Eingriffe in das Erscheinungsbild des Hauses haben wir gerne in Kauf genommen. Auf den ersten Blick hat es sich auch gelohnt. Die Heizkosten haben sich um einem Schlag um zwei Drittel verringert und damit der Verbrauch von Gas und unser persönlicher Co2 Ausstoß. Weitere Maßnahmen wie Nutzung der Solarenergie für die Erzeugung von Strom hätten sich nicht gelohnt, da die Dachfläche des Hauses nicht ausreichte. Fast zeitgleich ging in der Presse eine Diskussion um das in den Dämmplatten verbaute Plastik los. Horrorstorys von Häusern, die einfach niederbrennen, ohne dass die Feuerwehr sie löschen kann, weil der Kunststoff in der Dämmung quasi das Feuer immer wieder entfacht, gingen reihum. Auch geriet die Dämmungspraktik in Kritik, weil sich in den eingepackten Häusern die Feuchtigkeit stauen soll und sich überall Schimmel bildet. Dann war da auch noch die Unsicherheit über den Kunststoff, der vielleicht über Jahre hinweg irgendwelche Giftstoffe absondern hätte können. Seither sind acht Jahre vergangen und wir fühlen uns sehr wohl in diesem eingepackten Haus. Die Bude ist noch nicht abgefackelt, das Wasser fließt nicht die Wände herunter und wir und unsere Kinder erfreuen sich bester Gesundheit. Mittlerweile hat sich die Investition fast amortisiert, denn wir haben eine Menge Gas eingespart. Die erwarteten Risiken sind niemals eingetreten, obwohl man uns am Anfang das Gefühl gegeben hat, dass diese unvermeidlich sind.

Letzten Herbst ist ein Risiko in Erscheinung getreten, vor dem uns niemand gewarnt hat. Ein Specht flog tagelang um das Haus herum und pickte ein kreisrundes Loch in die Dämmung. Nach intensiver Recherche im Internet haben wir herausgefunden, dass Jungspechte um ihr Revier zu markieren, in alle möglichen Gehölzer und auch in Wänden Löcher klopfen und dass man sie nur schwer davon abhalten könne. Wenn der Specht viele Löcher in Wand schlägt, verliert die Dämmung vielleicht ihre Wirkung. Unser Darlehen für die Modernisierung ist noch nicht abbezahlt. Zusätzliche finanzielle Belastungen können wir uns nicht leisten. Der Specht bedrohte also unsere finanzielle Existenz. Das erste Klopfloch des Spechtes haben wir noch zugemacht. Zwei Tage später hat er an einer anderen Stelle wieder geklopft. Diesmal soweit oben, dass wir an die Stelle nicht mehr herankamen. Die Situation schien zu eskalieren. Unsere Nachbarin streunte unruhig um unser Haus herum. Jeder Anflug des Spechtes fühlte sich an wie der Angriff von Außerirdischen, die unsere Welt in Schutt und Asche legen wollten. Wenn der Specht wieder davonflog, weil wir oder die Nachbarin ihn verscheucht hatten, lagen die Opfer in Form von unzähligen Styroporkügelchen auf dem Boden. Unsere Nachbarin holte dann einen Industriestaubsauger und saugte jeden einzelnen Fetzen weißen Plastiks von ihren sorgsam gehegten Rosensträuchern weg. Als ich am gleichen Tag abends von der Arbeit nach Hause kam blickte mich das martialisch wirkende Plastikdouble einer Krähe von der Spitze einer drei Meter langen Holzstange an, den unsere Nachbarin vor lauter Verzweiflung an der Grundstücksgrenze in den Boden gerammt hatte.

Die Aufrüstung half und der Specht schien genug von der Verteidigung der Außengrenzen seines Reviers zu haben. Wir waren wieder mal davon gekommen und als im Frühjahr ein Spatzenpaar in das Loch einzog haben wir es mit einem Schmunzeln hinnehmen können, während unsere Nachbarin wieder ihren Industriestaubsauger hervorholte, um ihre Rosensträucher zu schützen.

Bei der Betrachtung einer Berechnung der Eintrittswahrscheinlichkeit verschiedener Szenarien, fiel mir die Specht-Anekdote wieder ein. Finanzexperten hatten mit absoluter Überzeugung die Wahrscheinlichkeit eines Wirtschaftsaufschwungs nach dem Abflauten der Corona-Krise kalkuliert. Zu 65 % wird sich die Wirtschaft innerhalb eines Jahres erholen, zu 30 % innerhalb 18 Monaten und zu 5 % innerhalb zweier Jahre. Die gleichen Experten hätten vor einem halben Jahr niemals das Auftreten einer Pandemie in Betracht gezogen. Genauso wenig hatten wir den Specht an unserer Hauswand erwartet. Und doch hat die Natur in beiden Fällen zugeschlagen. Die Kalkulation von Risiken gibt uns Sicherheit. Wenn wir schon einmal rational nachvollziehen können, was uns bevorsteht, können wir in Ruhe weiter unser Leben führen. Wir kennen ja meistens schon den Worst-Case, der in solchen Berechnungen mit lächerlichen Eintrittswahrscheinlichkeiten bedacht wird. Der Asteroid wird zu sehr großer Wahrscheinlichkeit an der Erde vorbeirasen. Schön, aber die nächste Katastrophe könnte schon unsichtbar vor unserer Tür auf ihre Erscheinung warten. Es gehört zum Wesen des modernen Menschen, jede mögliche Situation des Lebens beherrschen zu wollen. Fatalismus ist verpönt. Leider bauen wir oft unnötige Krisenpotentiale auf, die niemals zum Tragen kommen. Die Beschäftigung mit Möglichkeiten bindet viel Zeit und Ressourcen und treibt den einen oder anderen Zeitgenossen in den Wahnsinn und in die Arme von Verschwörungstheoretikern. Meistens kommt es anders als man denkt. Dummer Phrase. Denkt man. Aber das ist die einzige Wahrheit, auf die wir uns verlassen können. Wie schön wäre es, wir hörten auf zu rechnen, zu kalkulieren und erwarten einfach gelassen das Unmögliche. Der Specht wird um die Ecke geflogen kommen und seine Löcher in die Wände klopfen. Das werden wir nicht verhindern können.

2 Gedanken zu “Völker, hört ihr die Spechte klopfen!

    • Freut mich, wenn der Beitrag dir gefällt. Kennt man eine Katastrophe, kennt man alle!! Es ist doch immer der gleiche Mechanismus, mit dem wir uns verunsichern lassen, ob es nun mal der Specht oder Asteroid ist….

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