Marathon-Vorbereitung 6. Woche – 63,09 km

Ich hätte am Anfang der Woche nicht geglaubt, dass ich mich am Ende der Woche nicht nur gut fühle, sondern auch optimistisch in die Zukunft blicken kann.

Okay auf dem Bild von heute, dass ich in der Pause meines Longruns gemacht habe, schaue ich eher kritisch in die Kameralinse. Das mag vielleicht daran liegen, dass ich meinen Pausenplatz ziemlich hässlich fand, weil man dort eine Fläche wieder mal unnötig versiegelt hat und schon bei den eher frühherbstlichen Temperaturen zu spüren war, wie sich der Platz aufheizt, weil es dort keinerlei Schatten gibt.

Letzten Sonntag habe ich mich noch an den unzähligen Instagrampostings vieler Läufer, die am Berlin Marathon am letzten Sonntag teilgenommen haben, geweidet und manchmal ein emotionales Tränchen verdrückt. Da war es Berlin sommerlich warm und hier hat es schon aus Eimern geschüttet. Die Woche über hat es viel geregnet und ich bin am Dienstag und Donnerstag in der Dämmerung im Regen gelaufen. Ich laufe nicht gerne im Regen (wer macht das schon), aber ich habe es mir schön geredet, in dem ich es als eine besondere Form der Vorbereitung auf den Frankfurt Marathon betrachtet habe. Schließlich gab es Jahre, in denen es in Frankfurt Ende Oktober so heftig und ausdauernd geregnet hatte, dass man den Marathon bei niedrigen Temperaturen im Dauerregen absolvieren musste. Ich glaube, junge Leute nennen so etwas positive Affirmation. Hat bei mir geklappt. Ich war am Ende sogar froh 12 Kilometer im Regen gelaufen zu sein.

Mein Marathonplan sah vor, dass ich eigentlich gestern meinen Longrun ableiste und heute einen 10 Kilometerlauf. Aus terminlichen Gründen musste ich die Reihenfolge ändern. Gestern hatte meine jüngste Tochter und mein jüngster Sohn ihren Handballspieltag und ich war mit meiner Familie den ganzen Tag in der Halle. Die Zeit reichte nur, um gegen kurz vor sechs die 10 Kilometer zu laufen und anschließend Krafttraining zu machen. Wettermäßig eine kluge Entscheidung, denn heute hat den ganzen Tag die Sonne geschienen und bei angenehmen Temperaturen, habe ich heute mal die Dillstrecke ausprobiert. Dort hat man in den letzten Jahren tolle Radwege gebaut und so eine Strecke geschaffen, die von Wetzlar ohne Unterbrechung nach Dillenburg führt. Größtenteils liegt die Strecke entweder an der Dill oder an der Bahnstrecke. Man kann den Blick über die grüne Flussebene schweifen lassen und hört neben sich die Dill plätschern.

Bei so langen Strecken reicht das allerdings nicht aus, um eine mentale Abwechslung zum monotonen Bewegungsablauf zu schaffen. Der gleichbleibenden Rhythmus von Arm- und Beinbewegung und dem synchronen Atmen kann einen nach zwei Stunden echt fertig machen. Man fühlt sich entweder wie eine Maschine oder läuft sich in eine meditative Ekstase. Beides finde ich seltsam und manchmal schrecke ich beim Laufen hoch und denke, dass ich mich in einer Simulation befinde. Also hatte ich mich entschlossen, mich beim Laufen mit einem Podcast abzulenken. Musik mit seinem eigenen Metrum hätte mich vielleicht negativ beeinflusst und meinen Laufrhythmus gestört. Manche Läufer basteln sich ja Playlisten mit Musik, die sich an ihrem Rhythmus orientieren und hören dann immer die gleiche Playlist. Also unterstreichen sie die Monotonie noch einmal mit Musik. Es gibt allerdings kaum Podcasts, die drei Stunden dauern. Ich hatte mir „Alles gesagt“ von der Zeit ausgesucht. Ein sieben Stunden langes Interview mit Wim Wenders sollte wohl ausreichen, um mich beim Laufen zu begleiten. Das Konzept des Podcasts finde ich herausragend. Zwei Journalisten der Zeit reden mit Prominenten über ihr Leben und es gibt keine Zeitvorgabe. Das Gespräch endet, wenn die Gäste ein vorher besprochenes Signalwort benutzen. Daher gibt es Sendungen, die nur zwei Stunden dauern, aber auch welche, die acht Stunden dauern. Und wer jetzt Herr Wenders kennt, weiß dass er ein besonnener und langsamer Redner ist, der mit seinen achtzig Jahren viel zu erzählen hat. Er ist nicht nur einer der besten Filmregisseure, sondern auch ein leidenschaftlicher und humorvoller Erzähler und ich höre ihm gerne zu. So gingen dann die drei Stunden und dreißig Kilometer schnell vorüber. In dieser Woche habe ich gespürt, dass das Training seine Wirkung nach und nach entfaltet. Ich komme mit den Belastungen besser klar und auch nach dem Longrun fühle ich mich körperlich gut und nicht ausgelaugt.

Die Zukunft strahlt hell und freundlich in die Gegenwart

Sein wir doch ehrlich: niemand gibt gerne seine liebgewonnenen Annehmlichkeiten her. Auch wenn wir wissen, dass unsere Annehmlichkeiten für andere Menschen eine Zumutung darstellen. Wir gleiten gerne mit unseren Monsterkarren über breite Trassen, lassen Orte hinter uns und bewegen uns mit viel zu hoher Geschwindigkeit auf unser Ziel zu. Was rechts und links neben den Straßen passiert, ist uns ziemlich egal, solange wir schnell von einem Ort zu anderen kommen.

In Wetzlar gibt es eine monumentale Hochstraße, die die Stadt in das Wetzlar mit seiner pittoresken Altstadt und das Wetzlar mit seinen Industrieanlagen teilt. Die Hochstraße wurde vor ca. 50 Jahren als Teil der B49 gebaut, die von Limburg über Wetzlar nach Gießen führt. Für die Einwohner dieser Stadt gibt es seitdem keine Vorstellung von einem Leben ohne Hochstraße. Schließlich wird die Stadt nicht nur von seinen Industrieanlagen, sondern auch von seinen Straßen dominiert. Die Hochstraße dient als pulsierende Verkehrsader, die Menschen in die Stadt hinein- und hinausbringt. Der Wetzlarer ist es gewohnt, von Stahlbeton, Asphalt und Blechlawinen umgeben zu sein und plötzlich will man die Hochstraße abreißen. Die Hochstraße, dieses Denkmal der Moderne, in Beton gegossener technischer Fortschritt, stahlarmiert und angeblich unverwüstlich, ist marode und muss abgerissen werden.

In Wetzlar verhält es sich mit dem gesellschaftlichen Diskurs genauso wie überall im Land. Nach der Verkündung des Abrisses, erhob sich sofort ein Sturm der Meinungen. Und wie immer haben alle nur ihre eigenen Belange im Blick. Die Diskussion schwankt wie ein Schiff im Sturm um die Grundpositionen, ich will das alles so bleibt wie es ist, auch wenn ich weiß, dass es scheiße ist und na endlich verändert sich mal was. Es werden irgendwelche Scheinargumente in den leeren Raum hineingeworfen und als sachlicher Diskussionsbeitrag getarnt. Letztendlich reden alle mit sich selbst, anstatt miteinander.  

Die Straße wird abgerissen und in der Stadt entstehen neue Freiräume für Wohnungen, Grünanlagen, Fahrradwege und ähnliches. Allerdings gibt es auch einen Ersatz für die Hochstraße. Denn die vielen Autos werden ja nicht weniger, obwohl das besser für uns alle wäre. Man führt nun den Verkehr vor Wetzlar durch einen neu gebauten Tunnel um Wetzlar herum. Dadurch wird eine Menge Fläche mit Beton und Asphalt versiegelt. Denn kein Politiker, der im Moment etwas zu sagen hat, möchte gerne davon ausgehen, dass weniger Autos in Zukunft auf der Straße fahren. Sobald die Geburtenrate bei uns um 0,1% sinkt, will man Schulen und Kitas schließen, keine Lehrer und Erzieher mehr einstellen. Aber wenn es vielleicht sein könnte, dass man nur den Hauch einer Verkehrswende hinbekommt und doch der ÖPNV ein wenig Verkehr von der Straße nimmt, baut man noch breitere Trassen, neue Brücken und Straßen, die man in vierzig oder fünfzig Jahren entweder erneuern muss oder abreißt, weil der Individual- und Güterverkehr deutlich abgenommen hat.

Nachdem mehrere Bürgerinitiativen und die üblichen Verdächtigen, sich vollkommen für ihre Sache aufgerieben hatten, hat man auf Landes- und Bundesebene Fakten geschaffen: die Hochstraße wird spätestens 2035 nicht mehr sein. Zuerst sprach man von einem Abriss in 2027, aber um den Abschiedsschmerz zu mildern und den Bewahrern des Wohlstandes und der Freiheit, die nun einmal durch Beton, Stahl und Monsterkarren repräsentiert werden, die Möglichkeit zu geben, sich würdig und ausdauernd zu verabschieden, hat man den Abrisstermin um ein paar Jahre verschoben. Aber ehrlich, zehn Jahre sind notwendig, um alle Maßnahmen zu treffen, die den vernünftigen Übergang für die Bewohner und die Verwaltung dieser Stadt ermöglichen. Nach dieser Entscheidung im Jahre 2023 erlahmte der Empörungswille vieler Beteiligter und das Thema geriet etwas aus dem öffentlichen Fokus.

Und dann vor ein paar Wochen erschienen diese zwei Artikel in der Lokalpresse:

Der eine Artikel erzählt von einer Vision, die zu schön klingt, um wahr zu sein. Eine Studentengruppe hat sich im Rahmen eines Projektes den Chancen gewidmet, die sich für die Wohnquartiere in der Innenstadt ergeben könnten: Neue günstige Wohnungen für Familien, ein neues Quartier eingebettet in das alte Viertel rund um den Bahnhof, mit einem Fahrradschnellweg, Carsharing-Angeboten, weniger Autos, viel Grün, viel Nachhaltigkeit. Wenn man weiß, wie in den letzten Jahren Wetzlar städtebaulich entwickelt wurde, erwartet man nichts von alledem.

Nachdem vor ca. 20 Jahren eine viel zu große Shoppingmall auf der anderen Seite der Hochstraße errichtet wurde, ist der Einzelhandel im Bahnhofsviertel völlig zu erliegen gekommen. Die alte Einkaufspassage aus den Achtzigern verlor ihre Mieter und das Kaufhaus machte dicht. Erst einmal hat man jahrelang den Leerstand hingenommen und dann plötzlich wollte man ein neues Quartier entwickeln: Nachhaltiges Leben am Fluss, für Familien mit einer eigenen Kita usw.

Nichts hat man entwickelt. Es wurden zwei Altersheime, drei Wohnklötze und ein absurd großes Parkhaus gebaut. Die Bauten hat ein großes und regional sehr bekanntes Bauunternehmen aus dem Boden gestampft, das darüber Pleite gegangen ist. Seltsamerweise hat das Projekt ein anderes Bauunternehmen übernommen, das alle größeren von Stadt angeschobenen Projekte in den letzten Jahren hat bauen dürfen. Die Wohnungen wurden an wohlhabende Menschen verkauft, die entweder die Wohnungen selbst nutzen oder hochpreisig vermieten wollten. Gleichzeitig hat man an der Stellplatzsatzung und Bebauungsplänen nichts geändert. Das hat man erst gemacht, als schon alle Gebäude standen. Das neue Quartier besteht aus sogenannten Kranhäusern. Kranhäuser verheißen ein Großstadtflair, das als Rechtfertigung für die Großstadtpreise für die Wohnungen dienen kann. Im Moment schafft die Stadt an der Lahn sogenannte Aufenthaltsqualität. Wenn man über den Bauzaun linst, sieht man schon wieder versiegelte Fläche und muss davon ausgehen, dass hier und da ein Alibi-Bäumchen oder Strauch gepflanzt wird. Man hat keine neue Kita eröffnet, aber wenigstens die Stadtbibliothek und der Volkshochschule in der Nachbarschaft angesiedelt und ein wenig Raum für sozialen Austausch geschaffen. An das Gebäude der Volkshochschule hat man noch ein Parkhaus drangeklatscht. Immerhin hat die Stadt im Zuge der Maßnahmen an der Lahn auch den Ausbau des Lahnradweges versprochen, der bisher vielfach durch Autoverkehr unterbrochen wird. Die Parkhäuser werden nicht genutzt. Niemand ist bereit, für Parkraum Geld zu bezahlen. Es gibt ja genug kostenlose Parkmöglichkeiten in der Fußgängerzone. Dort zu parken ist zwar verboten, aber wenn das Ordnungsamt nicht hinschaut, hat man eine super günstige Alternative zu den Parkhäusern. Nachdem die Anwohner sich über Krach und die vielen Falschparkern beschwert haben, will die Stadt nach Jahren das Gewohnheitsrecht der Falschparker brechen und die Fußgängerzone mit Poller absperren.

Jetzt ergibt sich eine neue Chance durch den Wegfall der Hochstraßen und junge Studenten geben sich viel Mühe mit ihren Plänen die möglichen Chancen aufzuzeigen und gleichzeitig steht in dem Artikel, dass die Studenten Baurecht und Eigentumsverhältnisse nicht berücksichtigt haben. Als Einwohner dieser Stadt, der die Entwicklung jetzt zwanzig Jahre beobachtet hat, glaube ich nicht, dass die Entscheidungsträger auf diese Studenten hören werden. Es wird wieder ein Investor sich die Hände reiben, das freiwerdenden Gelände wird verschachert und möglichst gewinnbringend ausgeschlachtet. Von einer städtebaulich den zukünftigen Anforderungen gerechten Entwicklung wird man nicht sprechen können.

Gerade der zweite Artikel gibt mir wenig Anlass, auf die Vernunft der Beteiligten zu hoffen. An diesem Artikel kann man erkennen, dass das es sehr viele Sachzwänge gibt und die Planer der Stadt Wetzlar mit einem hochkomplexen und daher fehleranfälligen Sachverhalt auseinandersetzen müssen. Die sehr ambitionierte Aufgabe, verschiedene Verkehrsteilnehmern gerecht zu werden, nicht zu wissen, welche Verkehrsströme in Zukunft fließen und dabei noch die Belange der Anwohner im Blick zu halten, wird zu Enttäuschung bei den Anwohnern und Verkehrsteilnehmern führen.

Ich bin als Anwohner direkt betroffen. Die neue Verkehrstrasse, die die Hochstraße als Zubringer ersetzen soll, wird ungefähr zweihundert Meter von unserem Grundstück entfernt enden. Die Altenberger Straße und der Weg über die Dillbrücke sind fester Bestandteil unserer alltäglichen Wege. Die Straße ist seit Jahrzehnten zu Stoßzeiten brechend voll. Der Bahnübergang stört jeden Verkehrsfluss und der schmale Übergang über die enge Brücke stellt für Fußgänger und Radfahrer eine große Gefahrenquelle dar.

Jetzt ergeben sich neue Möglichkeiten, um die unangenehme Situation positiv zu ändern. Da ja man davon ausgeht, dass auch in Zukunft das Auto Vorrang haben muss, baut man eine vierspurige Strecke durch eine Kleingartenkolonie, die an einem Platz endet, der schon vor langer Zeit durch eine vierspurige Verkehrsführung verschandelt wurde. Der alte Charme des Neustadter Platzes und des Viertels rund um den Platz wurde vor Jahrzehnten wegbetoniert und man hat die Wohnviertel durch eine Stadtautobahn von der Innenstadt und Altstadt getrennt. Und mit der neuen Planung führt man diese Unart fort. Man hat zwar, wie in dem Artikel erklärt wird, erkannt, dass dieser Weg auch als Abkürzung genommen werden könnte, um die lange Umfahrung der Stadt zu umgehen. Das heißt man sieht die Gefahr, macht aber dagegen nichts, während man den Fußgänger- und Radfahrer mit irgendwelche seltsamen Zufahrten und Rampen abspeisen will, anstatt aus der jetzigen Altenberger Straße eine verkehrsberuhigte Zone zu schaffen, in der Fußgänger und Radfahrer Vorrang haben, weil es dort nur noch Anliegerverkehr geben wird. Die alte Dillbrücke muss weichen, weil man für die neue vierspurige Brücke Platz an der Ecke braucht. In einer erste Vision hatte man auch erwogen aus dieser Brücke eine Brücke für Radfahrer und Fußgänger zu machen. Und wo soll da der Schnellradweg hin, den die Studenten aus dem ersten Artikel als Verbindung zwischen Dill und Lahn als Idee in den Raum geworfen haben?

Als Anwohner beobachte ich die Entwicklung misstrauisch, allerdings nicht ohne Wohlwollen. Ich kann kein vollständiges objektives Bild zeigen, weil ich ein Anwohner ohne Sachverstand bin und ich bin weit davon entfernt, den besserwisserischen Wutbürger aus mir herauszuholen, der mit seinem gefährlichen Halbwissen Planern und der Stadtverwaltung erklären muss, wie es besser geht. Allerdings stehen wir am Anfang einer Entwicklung, die weitreichende Konsequenzen für uns alle haben können. Denn was in Wetzlar geschieht, wird ähnlich an vergleichbaren Orten in der Bundesrepublik geschehen. Es ist eine Zeit der Chancen und sie werden nicht genutzt werden. Denn überall hat sich die Infrastruktur überlebt, weil ihre Nutzungsdauer dem Ende entgegenstrebt. Man muss bestehende Infrastruktur hinterfragen und eine Entscheidung treffen: Modernisieren, abreißen und in alter Weise wieder aufbauen oder vollkommen neu gestalten. Werden die Entscheidungsträgen dabei den Anforderungen der Zukunft gerecht? Werden Klimawandel, Verkehrswende, demografischer Wandel usw. mitgedacht oder werden die kapitalistischen Denkformeln der Vergangenheit, die auf Verbrauch von Ressourcen zugunsten eines individuellen Wohlstandes und einem falschen Verständnis von individueller Freiheit beruhen, einfach in die Zukunft weiter fortgeschrieben. Das sind die großen Fragen, deren Konsequenzen man vor Ort des Geschehens beschreiben sollte. Als direkt Betroffener kann man durchaus mal zum Chronisten werden.

Stillleben Deutschland IV: Flüchtlingsunterkunft.

Früher blieben sie oft unsichtbar. Die Ausgrenzung zeigte sich in den Gebäuden, den man Flüchtlingen als Wohnraum zur Verfügung stellte. An Ausfallstraßen, in heruntergekommenen Vierteln der Stadt, alte, fast nicht mehr bewohnbare Immobilien, ehemalige Unterkünfte von Gastarbeitern, jenseits der Bahngleise, in der Nähe von Industrieanlagen, ehemalige Kasernen, abgelegen und versteckt vor den Augen des besorgten Bürgers. In den Neunzigern drängte man die unliebsamen Besucher, die man nicht eingeladen hatte, an den Rand der Siedlungen und somit an den Rand der Gesellschaft. In der Isolation sollten sie möglichst unsichtbar bleiben. Die öffentliche Meinung produzierte ein anderes Bild. Man sah überall nur noch Fremde, die in den Fußgängerzonen herumlungerten, nicht arbeiteten und nicht dazugehören wollten. Ein paar Anschläge später auf Flüchtlingsunterkünfte und Wohnhäuser von Menschen mit Migrationshintergrund und einem unsäglichem Asylkompromiss mit der im Bundestag 1993 das deutsche Asylrecht deutlich verschärft wurde, ebbte die Flüchtlingswelle ab. Danach kehrte lange Ruhe ein. Flucht und Flüchtlinge betraf uns auf wundersame Weise nicht mehr. Die alten oft baufälligen Flüchtlingsunterkünfte wurden abgerissen oder zu Spielhallen oder Wohnungen für sogenannten Harzer umgewidmet (die als Sündenböcke der Nation die Flüchtlinge ersetzten). Die anstrengenden Warnungen, dass wir eines Tages, wenn wir mit der Ausbeutung der dritten Welt nicht aufhörten, die Heerscharen die Probleme, die wir ihnen bereitet hatten, wieder zu uns zurückbrächten, wurde von einem Großteil der Menschen ignoriert.

 Bis 2015 haben uns die vielfältigen Fluchtbewegungen auf der Welt nicht interessiert. Und plötzlich waren die Menschen aus dem globalen Süden wieder da. Sie hatten weite und gefährliche Wege auf sich genommen und anfangs hatte man sie noch freundlich empfangen, um sie kurze Zeit später zur Mutter alle Probleme zu erklären. Diesmal löste man an vielen Orten das Unterkunftsproblem, in dem man unzählige Baucontainer zu Wohnräumen umfunktionierte. Man dachte, das sei billig und man könne sie einfach wieder wegräumen, wenn das Problem sich bald wieder von selbst erledigte. Der Markt für Baucontainer war bald leergefegt. Es gab keine mehr zu kaufen oder zu mieten. In Niedergirmes, vor dem ehemaligen Schlachthof hatte man ein solches Containerdorf aufgebaut, aber niemals benutzt. Nach Rechtsstreitigkeiten wurden die Container ein paar Jahre später wieder abgebaut ohne dass jemals auch nur ein Flüchtling dort untergebracht war. Da die Containeransammlungen nicht ausreichten, wurden alle leerstehenden Gebäude, ob sie nun als Wohnraum geeignet war oder nicht, zu Sammelunterkünften umfunktioniert. Leerstehende Baumärkte, Hotels, Gewerbehallen, alles wurde genutzt.  Damals entstand die Legende von den überforderten Kommunnen und Ämtern. Flüchtlinge, die vierundzwanzig Stunden in Berlin vor einer Behörde ausharren mussten, um einen Termin zu bekommen, erhitzten die Gemüter. Skurrile Possen, die natürlich auch dazu beitrugen die Auswirkungen der Flüchtlingswelle künstlich aufzublasen. Natürlich waren Ämter und Kommunen überfordert, aber nicht alleine weil viele Menschen nun die Ämter nutzen mussten, sondern auch weil der Staat jahrelang die öffentliche Infrastruktur zurückgefahren hatte. Die moderne öffentliche Infrastruktur der Bundesrepublik bestand darin, stetig einen Strom von neuen Regeln abzusondern und sich gegen die Modernisierung sprich Digitalisierung zu wehren.

 Die Zahlen gingen ab 2016 wieder zurück und die Republik musste sich andere Aufreger suchen. Seltsamerweise entwickelten sich auch die Wählerzahlen der AFD zurück und bis zur Coronakrise waren die Nörgler und Empörungswilligen leiser geworden. Dann kam Corona und der nächste Aufreger war gefunden. Und als das Virus seinen Schrecken verloren hatte, geriet man schnell wieder in seinen alten Trott. Der Krieg in der Ukraine spülte hundertausende von Menschen in die Bundesrepublik und aktivierten ähnliche Reflexe wie die Flüchtlingskrise im Jahr 2015. Erst zeigte man sich solidarisch, empfing die Menschen freundlich, gab Ihnen Unterkunft und zeigte Mitgefühl. Und nach einem halben Jahr begann das Stänkern. Die Gastfreundschaft war schon zu Ende. Dann kamen noch in 2023 einige Flüchtlinge aus Afghanistan und anderen fernen Ländern dazu und eines der wohlhabendsten Länder dieser Welt stand wieder am Abgrund. Es begannen die gleichen unsäglichen Diskussionen wie in den Neunzigern und die geistigen Brandstifter erklärten Deutschland zum Weltsozialamt. Das Bundesamt für Flüchtlinge verteilt die Menschen nach dem Königsberger Schlüssel. Dieser Schlüssel hat zur Auswirkung hat, das die bevölkerungsreichsten Bundesländer die meisten Menschen aufnehmen müssen. Die Länder verteilten die zugewiesenen Flüchtlinge weiter auf die Kommunnen. Die Politik hat anscheinend aus 2015 nicht gelernt. Und trotzdem hatte man sich weiter entwickelt und die Probleme zeitnah in den Griff bekommen. Hier in Wetzlar hat man ein Festzelt, das normalerweise für ein Volksfest genutzt wurde, zur Flüchtlingsunterkunft umgewidmet. Die bierselige Kathedrale des Frohsinns wurde entweiht, weil man dort womöglich Menschen aus fremden Kulturen unterbrachte. Das war aus vielerlei anderen Gründe keine optimale Lösung, aber so hatte sich die Kommune Zeit verschafft und innerhalb ein paar Monaten hatte man Standorte für neue Unterkünfte gefunden. Die größte dieser Unterkunft hatte man bei uns um die Ecke auf dem ehemaligen Festplatz an der Bachweide errichtet. Auf dem Platz sollte eigentlich ein Erweiterungsbau der Berufsschule entstehen, die direkt neben dem Platz ihren Standort hat. Diesmal nahm man keine Container, sondern ein Zelt, belüftet und beheizt, mit einem getrennten Sanitär und Kochbereich. Mit Absicht hat man die Unterkunft in der Nähe der Innenstadt aufgebaut, damit die Flüchtlinge, die Möglichkeit hatten, ohne große Wege zu den Ämtern zu kommen und einkaufen zu können. Diesmal hatte man die Flüchtlinge nicht versteckt oder in baufällige Unterkünfte gesteckt. Die Unterkunft lag in Sichtweite des Stadions und des Rathauses und war für jedermann sichtbar. 

 Als das Zelt aufgebaut war und die ersten Menschen kamen, machten auch schon die üblichen Bedenken ihre Runden. Die Menschen hatten nichts dazu gelernt, im Gegenteil, die öffentliche Meinung bestätigte sie in ihrer Angst, dass mit den Flüchtlingen Gewalt und Kriminalität ins Viertel kam. Die Unterkunft war anderthalb Jahre bewohnt und wir haben niemals irgendeine unangenehme Situation erlebt. Die Menschen, die dort untergebracht waren, sind uns auf der Straße oft begegnet, meistens gingen sie in Richtung Stadt oder kamen aus Richtung Stadt. Zum Joggen kam ich oft an der Unterkunft vorbei. Im Frühjahr und Sommer haben sich die Menschen draußen aufgehalten, einem nett zugewunken oder angefeuert. Auf dem Sportplatz in der Nähe trafen sich Männer aus der Unterkunft regelmäßig zum Kricketspielen. Leider hat man nie näheren Kontakt zu den Menschen dort bekommen. Für die Flüchtlinge war die Unterkunft nur eine Zwischenstation. Ab dem Sommer letzten Jahres hat man deutlich gespürt, dass die Situation sich entspannt und immer weniger Menschen im Zelt untergebracht waren. Man hatte in der Zeitung angekündigt, dass man im März die Einrichtung schließt und abbaut, damit die Bauarbeiten für den Erweiterungsbau der Berufsschule beginnen können. Die Situation hatte sich zwar entspannt, aber die Diskussion um Flüchtlinge wurde immer schärfer geführt und nicht nur die AFD hat sie genutzt, sondern auch die CDU, um im Wahlkampf punkten zu können. Kurz nachdem Merz mit den Stimmen  der AFD sich seinen Fünf-Punkte-Plan zur Migration im Bundestag hat absegnen lassen, wurde die Einrichtung geschlossen. Ende März begannen die Abbrucharbeiten. Jetzt stehen nur noch unzählige Betonblöcke auf dem Gelände und alle warten auf den Beginn der Bauarbeiten für den Erweiterungsbau der Berufsschule. Es fühlt sich fast an, als hätte es die Sammelunterkunft nie gegeben.

Alle Jahre wieder….

Gestern haben sich einige hundert Menschen in Wetzlar vor dem Herkules-Center in der Bahnhofstraße versammelt, um die Demokratie zu verteidigen und mit anschließender Menschenkette, die ungefähr einen Kilometer lang vom Herkules-Center vorbei am Stand der AFD. über Karl-Kellner-Ring und Langgasse bis über die alte Lahnbrücke reichte, zu zeigen, dass die Demokratie noch lange nicht am Ende ist.

Die „Omas gegen Rechts“ (Ortsgruppe Wetzlar) hatte eingeladen und obwohl man an diesem Tag die ganze Kraft bürgerlichen Engagements zu spüren bekam, fällt es mir schwer, optimistisch in die Zukunft zu blicken. In den letzten Jahren hat sich in Wetzlar das bürgerliche Engagement für Demokratie, Zusammenhalt, Toleranz und Vielfalt neu positioniert. Einige Gruppen, die sich um diese Themen kümmern, haben sich gegründet und zeigen mit ihrem Engagement, dass man die Stadt nur gemeinschaftlich gestalten kann und dass es ein Miteinander über alle Meinungsgräben hinweg geben muss. Rund um die Omas gegen Rechts, Wetzlar Solidarisch, Wetzlar erinnert ist viel Positives in der Stadt geschehen und trotzdem scheint es nicht zu reichen.

Letztes Jahr um die gleiche Zeit waren wir demonstrieren, weil sich Rechtsextreme in Potsdam getroffen hatten, um einen Plan für die Remigration von Asylsuchenden und Menschen mit Migrationshintergrund zu diskutieren. Die Empörung war groß…und was ist geschehen? Frau Weidel hat auf dem Bundesparteitag der AFD das Wort Remigration voller Stolz ausgesprochen und es als Teil des Programmes der AFD vorgestellt. Herr Merz, Teile der CDU, CSU, die FDP übernehmen Positionen der AFD und wollen gerne Remigration light betreiben…man denke nur mal an die Diskussion um Syrer, die nach Ende des Assad-Regimes bitte alle verschwinden sollen. Natürlich ist das ganze populistische Gebrüll rund um die Migration als Mutter aller Probleme und das Abstimmen mit AFD im Bundestag auch teil einer solchen menschenfeindlichen Programmatik.

Wenn Isabel Schayani in einer Hart aber Fair-Sendung die einzig richtigen Worte für die Misere findet, in dem sie konstatiert, dass wir mittlerweile über Menschen wie über Klappstühle reden und ihre Worte schnell untergehen, weil sich alle anderen versuchen mit ihren abscheulichen Ideen rund um Begrenzung der Migration zu überbieten, kann ich eigentlich nur davon ausgehen, dass Parteien wie die AFD uns in nicht ferner Zukunft regieren werden.

Das emsige Suchen von Sündenböcke scheint für Politiker wieder die einzige Möglichkeit zu sein, um sich zu profilieren. Natürlich ist unsere Infrastruktur vom stetigen Strom von Flüchtlingen unter Druck geraten. Aber niemand fragt mehr, warum unsere Infrastruktur darunter leidet? Wohnungsmangel, zu wenig Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, Bildungsnotstände, überforderte Behörden und Kommunen hat kein einziger Flüchtling zu verantworten, sondern die Politiker, die in den letzten zwanzig Jahren diese Entscheidungen treffen konnten.

Ich bleibe pessimistisch und trotzdem werde ich weiter an Demonstrationen teilnehmen, meine Meinung kund tun und mit Menschen, egal welche Meinung sie vertreten, im Gespräch bleiben und ich bin sehr dankbar dafür, dass es in unserer Stadt Menschen gibt, die sich engagieren und es nicht zulassen wollen, das die Demokratie nicht einfach ausblutet.

Nie wieder ist jetzt

Seit ich mich mit Politik beschäftige, als seit fast vierzig Jahren, wird dieses Land regelmäßig von rechtsextremen und völkischen Populisten und Antidemokraten in die Zange genommen.

 Die rechtsextremen Hetzer und Demagogen führten ohne Unterlass ihr schäbiges Drama aus Empörung und ätzendem Hass auf. Zu schrill, zu offensiv und mit offensichtlichen Reminiszenzen an den Faschismus des dritten Reiches erreichten sie in der Vergangenheit nur die Altgestrigen und ein paar Protestwähler. Nach ein paar Erfolgen bei Kommunal- oder Landtagswahlen verschwanden sie bald wieder in der Versenkung,

 Seit dem letzten Aufflammen rechter Umtriebe in den Neunzigern schien rechtsextremes Gedankengut nur noch für durchgeknallte Springerstiefel- und Glatzenträger attraktiv zu sein. Auch wenn drei NSU-Terroristen fast zwanzig Jahre unbehelligt mordend durch die Lande ziehen konnten, gab es den einen breiten Konsens darüber, dass völkisches Gedankengut weder gesellschafts- noch mehrheitsfähig war.

 Allerdings gor im Gedärm der Republik die Sehnsucht nach einer Vergangenheit, in der das Patriachat noch die Oberhand hatte und mit einer gottgegebenen Arroganz den Rest der Menschheit mies behandeln durfte. Nach einem langen Zersetzungsprozess im Dünndarm konnte der Schließmuskel unserer Nation den gewaltigen Dünnpfiff nicht mehr halten. Und so ergoss sich die braune Soße über das Land und nannte sich die Alternative für Deutschland.

 Und nach zehn Jahren, in denen diese Partei keine Gelegenheit ausgelassen hat, um den öffentlichen Diskurs an sich zu reißen und mit ihrem einen Thema zu bestimmen, schienen sie fast am Ziel angelangt zu sein.

  Wie alle Populisten haben die seriös auftretenden Funktionäre  ängstliche und überforderte Menschen angesprochen und hinter sich versammelt. Man hat sie plappern, keifen, schimpfen und diffamieren lassen und nicht nur ihre Fans, sondern auch ihre Gegner haben sich von Ihnen beeindrucken lassen. Dabei hat man einfach vergessen, dass die Angelegenheiten der Menschen schon immer komplex und widersprüchlich und einem stetigen Wandel unterworfen waren. Weil sich die Welt tagtäglich weiterdreht, müssen alte Vereinbarungen wieder neu verhandelt werden. Kriege, Pandemien, Inflation, Transformationsprozesse und Rezessionen hat es schon immer gegeben.  Ein bestimmter Anteil der Menschen reagiert mit Angst und Schrecken auf historische Brüche. Verunsicherte Menschen stellen die perfekten Opfer für Populisten dar. Um ihren persönlichen Schmerz zu lindern, sind sie bereit, irrational zu handeln. Für das Gefühl der Sicherheit lassen sie sich gerne belügen und betrügen. Sie wollen einfach glauben, dass es jemand gibt, der die Welt wieder heile machen kann.

 Auffällig ist für mich, dass die Erzählungen der Populisten bei vielen Menschen verfangen, die sich vorher nie mit Politik auseinander gesetzt haben. Viele Bürger haben eine verzerrte Vorstellung von der Leistungsfähigkeit staatlicher Institutionen. Mir sind viele Menschen begegnet, die sich niemals eingebracht haben, die nie die Tagesschau geschaut haben, niemals eine Tageszeitung gelesen haben, die nie wählen gegangen sind, mir aber genau erklären können, was in diesem Land falsch läuft. Beim Zuhören spürt man schnell, dass es nur um sie und ihre eigenen Ansprüche geht. Viele Menschen denken nicht an das Gemeinwohl und was der kleinste gemeinsame Nenner für alle sein sollte. Errungenschaften der Sozialpolitik wie Mindestlohn und Bürgergeld schrecken Sie ab. Solche Wohltaten der Gesellschaft sind nur ihrer Ansicht da, um missbraucht zu werden. Sie selbst sehen sich als Opfer staatlicher Willkür, weil der Staat ihnen etwas wegnimmt und es anderen gibt. Es ist die gleichen Sorte Mensch, die keine Steuern zahlen will, aber über die Schlaglöcher motzt. Gingen frühere Gesellschaftstheorien nicht davon aus, dass der Bürger seinem Willen den Allgemeinwillen unterordnet, um von der Allgemeinheit Schutz zu bekommen und in Freiheit leben zu können? Man könnte fast annehmen, dass für viele Menschen der Gesellschaftsvertrag nie existiert hat.

 Wenn alte Gewohnheiten und Besitzstände in Frage gestellt werden, sei es die Macht, die Bequemlichkeit, den qualmenden Verbrenner oder das Schnitzel, werfen die Populisten ihre Netze aus. Die beharrliche Leugnung der Wirklichkeit, die vom einer Umwelt- und Klimakatastrophe, ungerecht verteiltem Wohlstand und daraus resultierenden Fluchtbewegungen dominiert wird, kann man nur mit einem gemeinsamen Feindbild aufrechterhalten. Viele Menschen, die sich selbst höchstens als konservativ aber nicht als rechts- rechtsextrem bezeichnen, teilen mit der AFD und dem rechten Milieu die Feindbilder: selbstbewusste Frauen, queere Menschen, Migranten, junge Menschen, die sich für den Schutz der Umwelt einsetzen usw. Ob sie jetzt oder später die AFD wählen ist egal, aber sie stellen Wählerpotential für Populisten dar. Solange die Diskurse am Brodeln sind, trifft man alle in den sozialen Medien an und lässt sie munter zu einer einzigen Bubble verschmelzen. Schon kann eine Partei alle, die ihre Überzeugungen teilen, in dem Glauben bestärken, entweder in der Mehrheit zu sein oder Opfer der gegenwärtigen Mehrheitsgesellschaft zu sein, die von den Mächtigen gegen sie aufgehetzt wird. Man kann sich gegenseitig in diesem Status bestätigen und sich bestärken. Plötzlich ist man ein Held, ein Märtyrer, der nichts anderes macht, als von der heimischen Couch aus als Soldat im Meinungskrieg für die gerechte Sache zu kämpfen.

 Die blaue Pest hat mittlerweile eine Relevanz erreicht, die viele Bürger hat glauben lassen, dass sie uns spätestens nach den Landtagswahlen im Sommer hinraffen wird.

 Die wirkliche Mehrheitsgesellschaft ist endlich aufgewacht. Vielleicht zu spät! Das konspirative Treffen einiger Rechtsideologen, die sich in gediegener Kulisse über die Ausweisung deutscher Staatsbürger unterhalten hat, hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Anders kann ich es mir nicht vorstellen, denn wir haben in den letzten Jahren so viele Angriffe auf unsere Demokratie erlebt und nicht sonderlich gezuckt. Aber jetzt sind wir endlich wieder alle Antifaschisten und vereinen uns hinter dem Artikel eins des Grundgesetzes.

 Meine Familie und ich haben in den letzten zwei Wochen an zwei Demonstrationen gegen die AFD teilgenommen. Wir sind nicht zum ersten Mal auf Demonstrationen gegen rechte Umtriebe gewesen und im Privatleben sind wir es gewohnt, Stellung gegen rechtes Gedankengut zu beziehen. Leider mussten wir in den letzten Jahren immer wieder feststellen, dass die AFD-Thesen auch bei manchen Menschen in unserem weiteren Umfeld salonfähig geworden sind. Ich habe diese Leute immer reden lassen, sie höchstens gemieden oder ignoriert.

 Und ich gebe zu, hinter jungen Menschen herzulaufen, die eine Fahne schwenken und Alerta, Alerta, Antifaschista rufen, gibt mir ein gutes Gefühl. Ich wähne mich auf der richtigen Seite. Es ist ein trügerisches Gefühl. Vor drei Wochen haben sich in Gießen 13000 Menschen versammelt und letzte Woche in Wetzlar 5500 Menschen. Die sehr emotionalen Redebeiträge in Wetzlar auf der Bühne haben viele Demonstranten nachdenklich gestimmt. Aber solche Demonstrationen können die Situation nicht retten. Sie dienen höchstens der Selbstbeschwichtigung. Man vergewissert sich gegenseitig, dass eine große Mehrheit der Menschen nicht in einer antidemokratischen Gesellschaft leben möchte, die nur auf Angst und Ausgrenzung beruht. Und trotzdem müssen wir uns fragen, wie wir die Demokratie wieder für Menschen attraktiv machen können, die schon fast verloren sind, weil sie zwar im gleichen Land aber in einer ganz anderen Welt leben. Die oben beschriebenen Typen oder Gruppen werden sich nicht von Demonstrationen beeindrucken lassen. Im schlimmsten Fall sehen sich bestätigt und bestärkt und drehen erst recht auf. Der positive Effekt, die die Demonstrationen zweifellos hatten, wird schnell verpuffen, wenn nicht alle gesellschaftlichen Kräfte, sich hinter dem Grundgesetz, den Menschenrechten und der Demokratie versammeln und endlich ein positives Gegenbild zu der schlechtlaunigen und bräsigen völkischen Ideologie zeichnen. Wenn wir das nicht schaffen, wird bald nie wieder jetzt sein. 

Austreten – Eintreten / Teil drei

 Nachdem ich bei der Musterung als wehrtauglich eingestuft wurde, hätte ich nach der Ausbildung meinen Wehrdienst antreten müssen. Schon vor der Ausbildung hatte ich den Entschluss gefasst, zu verweigern. Anfang der Neunziger Jahre hat man schon mit wenig Aufwand den Kriegsdienst verweigern können. Man musste einen Aufsatz einreichen, in welchem man seine Gründe für die Verweigerung darlegte. Es gab ausreichend Vorlagen, die die geforderten Formulierungen enthielten und die in der Szene der angehenden Kriegsdienstverweigerer zirkulierten.  Man berief sich auf sein Gewissen, das einem untersagte, eine Waffe gegen andere Menschen zu richten. In diesem Falle war das Gewissen eine eigene Persönlichkeit, die den jungen potentiellen Rekruten quasi paralysierte, wenn er mit einer Waffe auf einen anderen Soldaten zielen wollte. Eine Verweigerung aus anderen Gründen war möglich, aber nicht gewünscht. In der stockkonservativen Welt der atomaren Abschreckung kam es nicht gut, wenn man aus weltanschaulichen Gründen verweigerte. Das war den Gremien zu kompliziert. Einmal im Leben hatte man die Chance in einem nonkonformistischen Akt der Gesellschaft den Stinkefinger zu zeigen und dann musste man doch wieder opportun sein und schön brav den Anforderungen der Gesellschaft gerecht werden.

 Anstatt meinem Gewissen etwas abzuverlangen, was es gar nicht leisten konnte, hätte ich mich viel lieber offiziell dem Soldatentum verweigert. Ich wollte keine Uniform überstreifen, irgendwelche stumpfen Befehle ausführen und den letzten Rest meines menschlichen Verstandes bei jeder Gelegenheit in billigen Flaschenbier ertränken. Das war nicht meine Welt: Kameradschaft, Herumbrüllen, Korpsgeist, im Schlamm kriechen. Ich war ja eher ein Feingeist, sensibel und schüchtern.

 Ich wollte der Bundeswehr mich nicht zumuten. Da gab es genug Altersgenossen, die viel besser dort aufgehoben waren, weil sie sich mit nackten Oberkörper grunzend im Schlamm und Testosteron wälzen und dabei den Helden spielen wollten.

 Aber ich schrieb brav den Aufsatz und schickte ihn weg.

 Meine Anerkennung kam und bald darauf der „Einberufungsbefehl“ zum Zivildienst und ich musste mir eine Stelle suchen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Plätze für Zivildienstleistende rar. Da mein Bruder zwei Jahre vorher schon eine Stelle als Gemeindezivi in der katholischen Kirche ergattert hatte, habe ich mich beim Bistum Limburg beworben. Man hat mir die Stelle gegeben und im Sommer 1993 konnte ich in der katholischen Gemeinde St. Walburgis in Niedergirmes meinen Zivildienst antreten.

 Niedergirmes hat sich in den letzten hundertfünfzig Jahren vom kleinen Dorf in der Nähe von Wetzlar zum klassischen Arbeitervorort entwickelt. Viele Gastarbeiter hatten sich dort angesiedelt und sich neben der Ursprungsbevölkerung etabliert. Der Stadtteil hatte damals einen sehr schlechten Ruf, der z.T. auf  rassistischen Vorurteile gegenüber Gastarbeiter beruhte. Neben diesen zwei Bevölkerungsgruppen gab es noch eine starke Gruppe der Flüchtlinge, die nach dem zweiten Weltkrieg nach Wetzlar kamen, zumeist aus Schlesien, Spätaussiedler aus Polen inbegriffen. Dazu kamen in den Neunziger Jahren neue Flüchtlinge aus der Türkei, Jugoslawien, Afrika und Asien. Die Flüchtlinge lebten im wahrsten Sinne am Rande der Gesellschaft. Ihre Unterkünfte befanden sich zwischen verkehrsreichen Ausfallstraßen und dem Buderuswerken. Niemand nahm Notiz von den Flüchtlingen. Sie lebten in abbruchreifen Häusern, in denen ansonsten niemand mehr wohnen wollte.

 Meine Aufgaben als Gemeindezivi waren sehr vielfältig. Ich sollte mich um ältere Gemeindemitglieder kümmern, sie zu Hause besuchte, ihnen Gesellschaft leisten oder mit ihnen einkaufen gehen.

 Die Arbeit mit Flüchtlingen war relativ neu hinzugekommen und umfasste Besuche der Flüchtlingsunterkünfte, Unterstützung der Flüchtlinge im Alltag, bei Behördengängen und ähnlichem. Die Flüchtlingsarbeit war in der Gemeinde umstritten. Bischof Kamphaus, der mich ein paar Jahre zuvor gefirmt hatte, war mittlerweile zu einer der wenigen kritischen Stimmen innerhalb der katholischen Amtskirche herangewachsen. Zu diesem Zeitpunkt waren deutsche Bischöfe konservative Erfüllungsgehilfen des Stellvertreter Gottes auf Erden. Bischof Kampfhaus war eine Ausnahme. Kamphaus war z.B. der einzige Bischof in Deutschland, der die Beratung von abtreibungswilligen Schwangeren entgegen der Anweisung vom Papst weiter durchführen ließ.

 Zu dieser Zeit war die Stimmung gegenüber Flüchtlingen sehr aufgeheizt. Für viele Menschen und auch Politiker war Flüchtlinge keine Menschen die Schutz brauchten, sondern Asylanten, die in die Sozialsysteme einwanderten und ihren Status als Flüchtlinge missbrauchten, um die Deutschen und ihren tollen Sozialstaat auszunutzen. Damals brauchte es keine AFD, um die Stimmung anzuheizen. Rassismus war Staatsräson. In Hessen gab es CDU-Politiker wie Manfred Kanther (der zu der Zeit Bundesinnenminister war), die Positionen einnahmen, die heute von der AFD vertreten werden. Sogar die SPD hat sich damals nicht mit Ruhm bekleckert, denn als es darum ging, den Asylanten endlich in Schranken zu weisen, in denen man sie schlechter stellte als einen „deutschen“ Sozialhilfeempfänger, stimmte die SPD im Bundestag für das Asylbewerberleistungsgesetz.

 Diese Stimmung gegen Flüchtlinge beherrschte auch den Diskurs innerhalb der katholischen Gemeinde in Niedergirmes. Es gab viele Gemeindemitglieder, die diese Arbeit mit Nichtchristen als unnötig betrachteten und das obwohl viele dieser Menschen selbst die Ausgrenzung als Flüchtling eine Generation früher erlebt hatten. Von dieser Seite bekam ich immer wieder Druck. Dazu kam, dass mein Vorgesetzter, der Priester der Gemeinde, ein ehemaliger Militärpfarrer war.

 Das erste Gespräch mit ihm begann mit der Frage, ob ich wisse, dass er Militärpfarrer gewesen sei. Nach einer kurzen Pause fügte er noch hinzu, dass ich mir ja dann vorstellen könne, was er von mir und meiner Tätigkeit hielte.

 Also hatte ich den Bischof auf meiner Seite und seinen Angestellten und seine Gemeinde gegen mich. Ich war jung, naiv und nahm diese Ablehnung sehr persönlich. Später habe ich begriffen, dass Engagement heißt, im Sturm gegen den Wind anzurennen. Wenn man etwas bewegen will, muss man sich sein Freunde und Feinde erst einmal verdienen.

 Ich habe in der Gemeinde sehr liebe Menschen gefunden, die mich unterstützt haben und die dafür gesorgt haben, dass ich mich auch über weite Strecken sehr wohl fühlen durfte. Ich bin vielen interessanten Menschen begegnet. Ich habe durch diese Arbeit viel über mich und den Menschen an sich gelernt. Die Betreuung durch das Bistum Limburg war einmalig. Es gab jeden Monat ein Treffen der Gemeindezivis, wir hatten zwei wunderbare Seminarwochen und dort habe ich echte Freunde gefunden. Ein Freund aus dieser Zeit ist mir bis heute geblieben. Christian war damals Zivi in Dillenburg und hat nach dem Zivildienst Philosophie, Mathematik und ich glaube Theologie in Siegen studiert und in Philosophie promoviert. Wir sehen uns heute noch mindestens einmal im Jahr und wir haben neben der Philosophie die Leidenschaft für Literatur, das Rauchen von Pfeifen und Zigarren miteinander gepflegt und alleine schon wegen dieser Freundschaft möchte ich die Zeit als Zivildienstleistender nicht missen.

   Durch diese Erfahrung hat sich meine Haltung zur katholischen Kirche zum Positiven geändert. Auch wenn es viel Gegenwind gab, habe ich doch viele Menschen kennengelernt, die weniger die Kirche als Ort gesehen haben, an welchem sie ihren Glauben ausleben können, sondern als gesellschaftliche Institution, die Schwächeren, ungeachtet ihrer Herkunft und ihrer Religion, Unterstützung und Hilfe anbietet. Diese Menschen rückten für mich in den Vordergrund und ließen mich fast dreißig Jahre lang an einen gesellschaftlichen Nutzen der Kirche glauben.

 Die Zeit verging schnell. Ich heiratete eine Katholikin, bekam mit ihr zwei Kinder, die wir taufen ließen. Die Ehe scheiterte und es kam zur Scheidung. Dann lernte ich meine jetzige Frau kennen, die ungetauft ist und noch nie einer Kirche angehört hat. Ich selbst bezeichnete mich mittlerweile als Agnostiker, der die Existenz Gottes nicht als Maßstab für sittliches Handeln sieht, sondern versucht, ein richtiges Leben im falschen zu führen. Obwohl meine Frau und ich in solchen Dingen ähnlich ticken, gibt es zwischen uns beiden einen großen Unterschied. Ich bin nun einmal in der katholischen Kirche groß geworden und hänge mehr an ihren Ritualen, als ich mir eingestehen will. Eine gesetzliche Scheidung hat in der Kirche keine Wirkung und sie straft mich mit Ausschluss von den Sakramenten. Ich hätte nicht gedacht, dass ich diesen armseligen und lächerlichen Anachronismus ernst nehme. Die Kirche schließt Menschen aus, die einen Spagat zwischen Religion und weltlichem Leben hinbekommen wollen. Ich habe mich dem widersetzt, indem ich trotzdem zur Kommunion gegangen bin. Seltsamerweise habe ich mich danach unendlich schlecht gefühlt. Ich habe dann darüber Witze gemacht. Wenn ich die Hostie in den Mund nähme, träfe mich vielleicht der Zorn Gottes in Form eines Blitzes, der mich dann niederstreckt. Die frühe Begegnung mit den Riten der Kirche hat mich mehr beeinflusst als mir lieb war. Dieses miese Gefühl habe ich viele Jahre mit mir herumgeschleppt und jeder, der mich gefragt hat, warum gerade ich noch in der katholischen Kirche bin, bekam zur Antwort, dass ich nun einmal katholisch erzogen sei und ich im Zivildienst eine lebensnahe Kirche erlebt habe. Ich habe auch immer von Bischof Kamphaus und seinem Engagement geschwärmt. Meine Hoffnung war, dass dieser Typus Mensch irgendwann in der katholische zu Macht gelangt, um sie zu reformieren.

 In den letzten Jahren ist viel passiert, aber die Katholische Kirche trotzt allen Reformen. Wir haben einen deutschen Papst bekommen, der noch konservativer war als sein konservativer Vorgänger. Bischof Kamphaus hat man durch einen geltungssüchtigen und scheinfrommen Bischof ersetzt, der viel Geld für Dienstwagen und eine Residenz ausgegeben hat und dann auch schnell wieder gehen musste. Der fürchterliche Missbrauch vieler Kinder und Jugendlichen durch Priester kam ans Tageslicht und damit die Erkenntnis, dass die katholische Kirche ein eigener Staat im Staat ist, der aber gerne die weltlichen Kirchensteuern und Subventionen vom säkularen Staat kassiert.

 Aber auch das habe ich jahrelang beobachtet und daraus keine Konsequenzen gezogen. Im Gegenteil: ich habe die Gemeinschaft der katholischen Christen noch verteidigt, weil ich mich an die Hoffnung auf Reformen klammerte. Als ich zum ersten Mal vom synodalen Weg gehört hatte und dem Ansinnen einiger deutscher Bischöfe bedeutsame Reformen in der Kirche anzustoßen, habe ich gedacht, dass jetzt eine Veränderung kommt, die mein Beharrlichkeit rechtfertigt. Man hat lange und viel miteinander diskutiert und in Rom hat man die Bemühungen einfach abgetan. Man will keine zweite evangelische Kirche sein. Die katholische Amtskirche möchte der exklusive Club alter Männer im Rock bleiben, die ihre unverständlichen Riten bis zum Ende aller Zeiten pflegen wollen, entgegen den Menschen und ihre Belange.

 Dann war ich dieses Jahr auf einer Gewerkschaftsveranstaltung zum 1. Mai und musste erleben, wie Rechte von AFD, NPD und Querdenkern die Redner niedergebrüllt haben. Man konnte sich nur schwer dem Hass und der Hetze entziehen. Wir haben uns machtlos gefühlt.

 Das hat in mir einen Denkprozess angestoßen. Warum unterstützte ich einen menschenverachtenden, undemokratischen Club wie die katholische Kirche, wenn auf der anderen Seite unsere Demokratie und ihre Vertreter von undemokratischen Schreihälsen in Frage gestellt werden. Dann stand der Entschluss fest: nach zweiundfünfzig Jahren verlasse ich die katholische Kirche und trete in die Verdi ein…wahrscheinlich viel zu spät…aber hoffentlich noch rechtzeitig.

Austreten – Eintreten / Teil eins

Ich habe es getan: Ich bin aus der katholischen Kirche ausgetreten. Mit einer einfachen Unterschrift auf einem Tablet habe ich meine Mitgliedschaft bei diesem Verein beendet. Ich hätte nicht erwartet, dass es mir letztendlich doch so einfach fällt.

 In meinem Umfeld gibt es einige Menschen, die keinerlei Beziehung zu einer Religionsgemeinschaft haben, andere sind einer Religionsgemeinschaft angehörig, ohne die Religion auszuüben und wiederum andere haben einen engen Bezug zu ihrer Religion.

 Ich gehöre zu keiner dieser Gruppen. Mein Verhältnis zur Religion war seit meiner Kindheit nie eindeutig, eher verschwommen, schwer zu umschreiben, voller Ambivalenzen.

 Obwohl meine Eltern wenig Bezug zur katholischen Kirche haben, bin ich katholisch erzogen worden. In der Generation meiner Eltern hatte die Zugehörigkeit zu einer christlichen Religion noch eine andere Bedeutung. Sie war Zeichen von Zugehörigkeit und diente viel stärker der sozialen Kontrolle. Meine Mutter ist Protestantin. Hier in Mittelhessen ist die evangelische Kirche seit Jahrhunderten die mitgliederstärkste Religionsgemeinschaft. Erst nach dem Krieg mit der Ankunft vieler Flüchtlinge aus dem Osten (Schlesier und Sudetendeutsche) bekamen die kleinen katholischen Gemeinden starken Zuwachs. In Wetzlar gibt es alleine vier katholische Kirchen, die nach dem zweiten Weltkrieg gebaut wurden (St. Markus, St. Walburgis, St. Bonifatius, St. Elisabeth). Mein Vater ist Sudetendeutscher und katholisch. Meine Eltern haben in den späten sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts geheiratet und laut der Familienlegende war die Heirat aufgrund der Herkunft meines Vaters nicht unumstritten. In der Regel stimmen Priester einer Eheschließung nur zu, wenn man verspricht, die Kinder aus der Ehe im katholischen Glauben zu erziehen. Meine Eltern hätten sich an das Versprechen nicht halten müssen. Aus irgendeinem Grunde haben sie sich verpflichtet gefühlt und so wurde ich katholisch getauft, ging ich mit acht Jahren in den Kommunionsunterricht und musste 1981 am weißen Sonntag zum ersten Mal vom Leib Christi naschen. Ich habe noch sehr deutliche Erinnerungen an diese Zeit. Erst einmal war der Kommunionsunterricht wider Erwarten sehr lehrreich. Ich hatte zum ersten Mal Kontakt mit der christlichen Lehre und den Geschichten aus dem neuen Testament. Wir hatten einmal in der Woche Unterricht bei einem Ehepaar, das bei uns in der Straße wohnte, liebevoll mit uns umging und darauf achtete, uns die Inhalte kindgerecht näher zu bringen. Ende der Siebziger Jahr war das nicht selbstverständlich, schließlich galt die katholische Kirche schon immer als konservative und rückwärtsgewandte Institution. Die Widersprüche zwischen Außenwirkung und innere Haltung erkannte ich schon früh. Die Gemeinde St. Markus war relativ jung und man hatte gerade ein neues modernes Gotteshaus errichtet. Ein schicker niedriger Bau, ohne Kirchturm und mit viel Sichtbeton. Der Priester dagegen war ein eigensinniger, distanzierter und emotionsloser Hirte, der bei der Messe mit dem Zeigefinger seine Schäfchen abzählte. Ihm war es sehr wichtig, dass ihm keines seiner Schäfchen abhandenkam. Schließlich waren die Verlockungen der Moderne zu groß. Die Schäfchen waren nicht frei von Sünde und konnten jederzeit den Versuchungen erliegen.

 Im Kommunionsunterricht lernte ich früh, dass in der christlichen Lehre der Begriff der Nächstenliebe eine zentrale Bedeutung hatte. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Jesus war ein Vorbild, selbstlos, ohne Allüren, ein einfacher Mensch, der sich um die sozial Schwachen kümmerte und selbst nur der Sohn eines Zimmermanns war. Dagegen stand der Prunk und die Hierarchie in der Amtskirche, alte Männer im Rock, die mit alten Ritualen und Dogmen die Gläubigen an die Kirche zu fesseln versuchten. Die Messe am Sonntag dauerte bis zu zweieinhalb Stunden, davon verbrachte man fast die Hälfte auf Knien und in Büßerhaltung. Die Predigt, die ganzen Sprüche und Formeln klagen hohl und unverständlich. Ich hatte die Messe als eine Veranstaltung des schlechten Gewissens erlebt. Als armer, schwacher Mensch, musste man jede Sekunde seines Lebens auf der Hut vor sich selbst sein. Daher hatte ich auch unheimlich Angst vor der ersten Beichte. Wer ein Sakrament erhält, muss vorher beichten. Ein zehnjähriger, der erklären muss, dass er unkeusche Gedanken hat, seine Eltern nicht ehrt und lügt und betrügt, wenn er die Hausaufgaben nicht macht, kann sich nicht frei fühlen und ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln.

 Die Feier meiner Erstkommunion war für mich die Hölle, ich war unsicher, fühlte mich verloren und sie endete damit, dass ich Windpocken bekam. Während meine Familie und meine Verwandten feierten, lag ich im Bett und wurde von Fieberträumen geplagt.

 Mit zwölf Jahren habe ich das nächste Sakrament erhalten: die Firmung. Wieder gab es Unterricht und in Vorbereitung zum Sakrament die obligatorische Beichte. Seit Jahren erduldete ich nun die langweiligen Messen, das falsche Pathos, die gesalbten und heiligen Bewegungsabläufe, einstudiert und einzementiert in die Ordnung einer Amtskirche, die wenig Spielraum für Abweichung zulässt. Ich hoffte mit der Firmung von der Verpflichtung, Sonntagsmessen besuchen zu müssen, befreit zu werden. Ich konnte die Messdiener, Ihr Gebimmel, ihre gewichtigen Schritte, ihre Verbeugungen, ihr stundenlanges Verharren auf den Knien und das arrogante, ausdruckslose Gesicht des Priesters, das Erheben der Hostie, das Nippen am Kelch, das unheimlich affektierte Abtupfen seiner Lippen nach dem Genuss des Blutes Christi, das Weihrauchgedöns und seine unheimlich tristen und von Phrasen durchseuchten Predigten nicht mehr länger ertragen. Ich sehnte mich nach dem Tag der Firmung, weil es meine letzte Messe sein sollte und ich bald jeden Sonntagmorgen ausschlafen konnte.

 Die Firmung war bei weitem nicht so feierlich wie die Erstkommunion. Es wurden nicht alle Verwandten vorgeladen, keine großen Geschenke verteilt und man erwartete nicht, dass wir uns in dunkle Samtanzüge oder weiße Spitzenkleidchen zwängten.

 Die Firmung wird vom Bischof vorgenommen. In unserem Falle war das Bischof Franz Kamphaus. Wetzlar gehört zum Bistum Limburg. Der Dom in Limburg an der Lahn ist vielen Menschen außerhalb Hessens bekannt, weil er bis 1992 auf der Rückseite des 1000 DM-Scheines zu sehen war. Franz Kamphaus hatte sein Amt noch nicht lange inne und viele haben ihn damals in der der Messe als sehr zugewandt und freundlich erlebt. Er schien frischen Wind in das Bistum zu bringen und die Gemeindemitglieder schienen erleichtert zu sein, dass er menschlich und nahbar wirkte. Der frische Hauch der durch den Kirchraum wehte und den Weihrauchmief vertrieb, nahmen sogar wir Firmlinge wahr.

 Trotzdem war für mich mit der Firmung die Angelegenheit erledigt. Ich wollte nichts mehr mit dieser Zwangsgemeinschaft der Christen zu tun haben.

Von Wetzlar nach Poggibonsi

Im Val d`Elsa hoch über Poggibonsi, an der Straße nach Castelina in Chianti, Inmitten eines Waldes, umgeben von Weinreben und Olivenbäumen liegt die kleine Siedlung il Granaio. Mehrere alte Bruchsteinhäuser, die man zu kleinen Appartments und Ferienwohnungen mit einem Pool und einem Tennisplatz umgebaut hat. Ein schmaler Waldweg uneben, übersät mit unzähligen Schlaglöchern führt ca. anderthalb Kilometer von der Landstraße hinauf zu unserem Sehnsuchtsort, den wir im August zum dritten Mal besucht haben. Wenn wir dort auf unserer Terasse sitzen, haben wir eine perfekte Aussicht auf das Weingut Melini, die Landstraße, das alte Kloster San Agnese und auf die Türme der mittelalterlichen Stadt San Gimignano. Alleine schon der Anblick der Landschaft ist es wert, dorthin zu fahren.  

Die letzten beiden Male haben wir die Strapazen einer Autofahrt auf uns genommen, um die Strecke von ca. 1100 Kilometern von Wetzlar nach Poggibonsi zu überwinden. Unsere Reise begann dann tief in der Nacht und führte uns über die Autobahn an die Grenze. Wir überquerten die Alpen, um uns am nächsten Morgen in die Blechlawine einzuordnen, die sich im Schritttempo durch Südtirol, am Gardasee vorbei, über Milano und Bologna bis nach Florenz quälte, um dann völlig übermüdet am Nachmittag des nächsten Tages oben in unserem Dorf anzukommen.

 Diesmal wollten wir uns die Tortur ersparen und die Strecke mit dem Zug zurücklegen. Wir wollten uns den Stress nicht mehr zumuten. Wer mal am Morgen an einem Rastplatz inmitten des Nirgendwo angehalten hat und die ganzen todmüden Zombies beobachten konnte, wie sie ihren übermotorisierten Blechsärgen entsteigen, weiß wie gefährlich diese Art zu reisen ist

Weil wir uns vor längerer Zeit entschlossen haben, unsere persönliche Verkehrswende weg vom fossilen Verbrenner hin zu gar keinem Automobil durchzuführen, nutzen wir im Alltag die Bahn recht häufig. Wir haben uns angewöhnt bei Ausflügen mit unseren Kindern immer nach geeigneten Zugstrecken Ausschau zu halten und wenn die Nutzung von Bus und Bahnen nicht möglich ist, suchen wir uns andere Ausflugsziele.

 Meine Frau hat sich im Laufe der Jahre zu einer Expertin bei der Nutzung der Bahnapp entwickelt. Auch diesmal hat sie für uns die Zugverbindungen herausgesucht. Im Laufe ihrer Reiserecherchen entstand die Idee, mit dem Nachtzug zu fahren. Die deutsche Bundesbahn hat vor längerer Zeit ihre eigenen Nachtzüge von den Gleisen genommen. Es gibt allerdings ein Angebot der ÖBB (Österreichische Bundesbahn) in der Nacht von München nach Rom zu fahren. Anfang des Jahres stand die Nummer. Meine Frau hatte alle Tickets gebucht. Einen Wermutstropfen gab es: ab Florenz und für Ausflugsfahrten in der Toskana brauchten wir unbedingt ein Auto. Ein richtiges E-Auto im Ausland mieten? Fehlanzeige! Es gibt einfach kein Angebot. Mal abgesehen von der unbekannten Ladeinfrastruktur. Ein Renault Clio hat für fünf Personen und unser Gepäck ausgereicht. Das Gepäck musste in drei Wanderrücksäcke reinpassen. Mit einem zehn Kilo schweren Rucksack auf dem Rücken kann man einen fulminanten Hundermeterlauf hinlegen, um den Zug noch zu erreichen. Mit Koffern ist man beim Rennen klar im Nachtteil. Sommerklamotten, Zahnbürste und Bücher, mehr brauchen wir nicht. Da es im August in Mittelitalien immer heiß ist, braucht man keine Regenjacken oder Pullis mitzunehmen.

 Im Laufe des Frühlings wuchs die Vorfreude. Nach fünf Jahren (davon zwei Coronajahren) wieder nach Italien. Juchuuuuu!!!! Sie sehen gerade das letzte U, begleitet von einem archaischen Echo, in der tiefen Schlucht meiner Urängste verschwinden. Ein paar Tage vor meinem Urlaub habe ich natürlich stolz jedem erzählt, der mich nicht danach gefragt hat, dass wir mit dem Zug nach Italien fahren. Zwei Kolleginnen haben mich regelrecht ausgelacht…„Das wird doch nie was….mit der Bahn nach Italien…“ Der alte Affe Angst kroch mir auf die Schultern. Was wenn die Kollegen recht haben und wir uns zu viel zumuten.. Zwei Erwachsene, drei Kinder, drei Rücksäcke, das klappt niemals!

 Meine Frau konnte ich mit meinen Bedenken nicht infizieren. Sie blieb stoisch bei ihrer Einschätzung, dass dies eine wunderbare Reise wird und so sind wir dann an einem Samstagmorgen in Wetzlar in den Zug gestiegen.

 Der Zug in Wetzlar fuhr pünktlich um halb zehn los. In Giessen ging es weiter mit dem RE 30. Leider steht auf allen Anzeigetafeln, dass der Zug in Frankfurt Hauptbahnhof endet. Die Züge aus Mittelhessen halten baustellenbedingt nicht mehr am Frankfurter Hauptbahnhof, sondern an Bahnhof Süd in Frankfurt. Wer in Süd aussteigt, kann mit der Straßenbahn ohne Probleme an den Hauptbahnhof kommen. Wer allerdings glaubt, er erreicht direkt den Frankfurter Bahnhof und hat die Umsteigezeit in einen anderen Zug zu knapp bemessen, wird wohl seinen Anschlusszug verpassen. Gerade Fahrgäste, die von außerhalb kommen, werden hier unter Umständen ein Reisefiasko erleben. Zum Teil verlängert sich die Fahrzeit um eine Stunde.

 Panisch hatte ich meine Frau schon vor Wochen bekniet, in Wetzlar einen Zug früher zu nehmen. Das war die richtige Entscheidung. Zu der verlängerten Fahrzeit gesellte sich noch das Chaos auf dem viel zu engen Bahnsteig in Frankfurt Süd. Der Bahnsteig und die Abgänge vom Bahnsteig sind natürlich nicht für die Fahrgastmassen gut gefüllter Regionalexpresszüge gedacht. An den Abgängen leitete Sicherheitspersonal die Ströme der Fahrgäste und trotzdem dauerte es eine halbe Stunde bis wir an der Straßenbahnhaltestelle standen.

 Durch unsere verfrühte Abreise erreichten wir den ICE nach München ohne Verzögerung. Im ICE begann der Urlaub, denn wir hatten Sitzplätze reserviert und konnten die nächsten vier Stunden entspannt aus dem Fenster schauen und die Landschaft an uns vorbei ziehen lassen.

In München kamen wir auf die Minute pünktlich an und hatten ca. 3 Stunden Aufenthalt. Für schmale 6 EUR haben wir unsere 3 Rücksäcke in ein Schließfach am Bahnhof bugsiert, sind gemächlich  mit dem Bus in den Englischen Garten gefahren, um im Biergarten ein Schlummerbier zu trinken und etwas zu essen. Ich spürte den Alkohol in meinen Adern, verfiel in eine bierselige Euphorie (das ist meines Erachtens der einzige Grund, warum Menschen in München einen Biergarten besuchen) und schrieb hämische und triumphierende Nachrichten an die Pessimistinnen in der Heimat. Meine Frau checkte derweilen ihre Mails am Handy und erstarrte. Die ÖBB schrieb, ein Wagen könne aus technischen Gründen nicht mitfahren. Meine Frau kramte in ihrer Handtasche, zog die Fahrkarte heraus und war erleichtert. Es betraf zum Glück nicht unseren Wagen.

 Rechtzeitig zur Abfahrt unseres Nachtzuges waren wir wieder am Hauptbahnhof. Unser Zug stand schon am Gleis. Es gibt in den Nachtzügen drei Kategorien. Sitzplätze, Liegewagen (sechs einfache Pritschen in einem normalen Abteil und Schlafwagen (drei oder weniger Schlafplätze, in der Luxusausführung sogar mit eigenem Badezimmer). Wir hatten einen Liegewagen gebucht

 Als wir ankamen, gab es schon die ersten dramatischen Szenen am Zug. Familien mit kleinen Kindern, die am Zug erfuhren, dass ihre gebuchten Plätze sich in dem Wagen befanden, der aus technischen Gründen nicht mitfahren konnte. Wir schlichen uns mit einem schlechten Gewissen in unseren Liegewagen, der zu einer älteren Wagongeneration gehörte. Alles in dem Abteil war sehr einfach gehalten und leicht angeranzt. Die Sitzplätze kann man innerhalb einer Minute in Schlafplätze umwandeln. Dazu gab es schmale und dünne Kopfkissen, Matratzenbezüge und Wolldecken. Wir mussten uns in der Enge erst einmal orientieren und Platz schaffen, in dem wir das Gepäck in das große Ablagefach über der Abteiltür verstauten.  Es war im Abteil sehr warm und als der Zug mit einer halben Stunde Verspätung losfuhr, war wir erst Mal froh, dass die Klimananlage sofort kalte Luft in den Raum blies. Es gibt für jeden Wagen Servicepersonal, freundliche Personen in Uniform, die nicht bei der ÖBB arbeiten, sondern von einem Dienstleister zur Verfügung gestellt werden. Die Dame, die uns betreute, war sehr freundlich, hatte aber wenig Zeit und erklärte wenig.

 So langsam ging es an die Bettruhe. Wir waren gegen halb neun losgefahren. Gegen zehn Uhr hatten wir uns eingerichtet. In jedem Wagen gibt es unbequeme Waschräume. Wie immer bei der Bahn hat das alles den Charme einer Absteige. Wir waren den ganzen Tag in der Hitze unterwegs und wollten uns wenigstens etwas abwaschen, Zähne putzen und uns umziehen. Schmallippig, mit Luft anhalten und spitzen Fingern in einer engen Schmuddelkammer braucht man dafür natürlich Ewigkeiten und irgendwann gegen halb elf hatten wir es geschafft und lagen alle auf unseren Pritschen.

 Nur gleichmütige Gemüter können in einem Zug tief und fest schlafen. Man hört und spürt alles. Der Zug rattert über die Gleise. Wenn der Zug beschleunigt, beschleunigt der eigene Körper mit und wird an den Rand der Pritsche gezogen. Wenn der Zug bremst, rollt der Körper zur Wand. Vor den Abteilen im Gang ist immer etwas los. Auf dem Gang vor unserem Abteil hatten sich zwei jungen Frauen eingerichtet. Jedes Mal, wenn jemand von uns raus musste, mussten wir über sie steigen. Zu guter Letzt stellte sich heraus, dass die Klimaanlage sich nicht regeln ließ. Sie blies die ganze Nacht in der Lautstärke eines Staubsaugers kalte Luft in den Raum.

 Ich war höllisch müde und hatte es wirklich geschafft, einzuschlafen. Gegen halb eins in der Nacht klopfte jemand an unsere Abteiltür. Bis ich reagieren konnte, hatte derjenige die Tür, die nur mit einer einfachen Kette abgeschlossen werden konnte, aufgerissen und uns auf Englisch aufgefordert, sein Abteil zu verlassen. Wir hatten irgendwo in Österreich gehalten und es waren neue Fahrgäste zugestiegen. Ohne die Augen richtig zu öffnen, brüllte ich den Eindringling an, dass er sich im Wagen geirrt habe und verschwinden solle. Ich hatte zwar erreicht, dass der Eindringling uns sofort in Ruhe ließ, aber ich selbst konnte nicht mehr einschlafen. So schunkelte ich die halbe Nacht auf meiner Pritsche hin- und her, lauschte dem Staubsauger und wartete auf das Ende der Nacht.

 Außer meinem siebenjährigen Sohn, der in der oberste Pritsche tief und fest schlummern konnte, hatte niemand von uns richtig geschlafen. Um halb sieben brachte die nette Frau, die für unseren Wagen zuständig war uns unser Frühstück. Wir sortierten uns neu, zogen den Verdunklungsrollo hoch, klappten die Pritschen hoch und betrachteten die italienische Landschaft, die an uns vorbeizog. Es gab heißen Kaffee, zwei Brötchen, Butter und Marmelade. Vollkommen ausreichend, um den ersten Tag in Italien zu beginnen. Mit zwanzig Minuten Verspätung kamen wir gegen halb acht in Florenz an.

 Unsere Autovermietung machte erst um neun Uhr auf. Es war Sonntag und wir waren froh, dass die Autovermietung in der Innenstadt überhaupt geöffnet hatte. Ansonsten hätten wir in Florenz an den Flughafen fahren müssen. Wir nutzten die Zeit und schlenderten zum Dom und der Ponte Vecchio. Was für ein schöner Urlaubsbeginn: Im Morgenlicht auf der menschenleeren Ponte Vecchio stehen und den Arno hinaufschauen.  Um halb neun schlugen wir unser Lager vor der Autovermietung auf. Wir wollten die ersten sein. Um neun machte die Autovermietung auf und hinter uns hatte sich eine Schlange von Touristen gebildet, die sich alle ein Auto mieten wollten. Eine halbe Stunde später saßen wir im Auto auf dem Weg nach Poggibonsi. In Poggibonsi haben wir erst einmal im Coop eingekauft und sind dann zu unserer Wohnung gefahren. Mittags saßen wir zum ersten Mal auf unserer schattigen Terrasse und haben den Ausblick auf die einmalige Landschaft genossen. Wir waren an unserem Sehnsuchtsort angekommen.

Ihr Anliegen mit der Nr. 94790879 vom 14.08.2021

Meine persönliche Verkehrswende sollte nicht beim Kauf eines Elektroautos enden. Mein langfristiges Ziel ist es, ganz auf den Besitz eines eigenen Autos zu verzichten. Alleine die Herstellung von Autos, egal ob Elektro- oder Verbrenner, ist eine riesige Umweltsauerei. Ich setze also auf den öffentlichen Nahverkehr, gehe kurze Strecken zu Fuß oder fahre mit dem Fahrrad und nutze für den letzten Kilometer ein E-Scooter.

 Ich wohne, wie ich schon öfter erwähnt habe, inmitten der Stadt.  Die meisten Wegstrecken, die ich zurücklege, betreffen meinen Weg zur Arbeitsstelle. Ich arbeite in Aßlar, einem Nachbarort von Wetzlar, der ca. fünf Kilometer von meinem Zuhause entfernt liegt. Aßlar ist eine Kleinstadt und durch die Vororte der Stadt mit Wetzlar direkt verbunden. Man fährt auf geradem Wege durch die zwei Stadtteile Niedergirmes und Hermannstein und ist schon am Zielort. Alle halbe Stunde fährt ein Bus oder Zug von Wetzlar nach Aßlar. Die Buslinie 200, fährt pünktlich um acht am zentralen Busbahnhof ab, der neben den Bahnhof zentral in der Innenstadt liegt. Der Bahnhof ist anderthalb Kilometer von meinem Haus entfernt. Zufälligerweise passt das genau zu meinem Arbeitsbeginn. Um 8.08 Uhr bin ich in Aßlar, 8.12 Uhr bin ich auf der Arbeit. Der Heimweg ist ähnlich komfortabel. Stündlich fährt der Bus zurück nach Wetzlar. Wenn das mal nicht passt, kann ich auf den Zug ausweichen. Na da sollte die persönliche Verkehrswende sich doch flugs umsetzen lassen, oder?

Ich habe ein paar Tage gebraucht, um zu realisieren, was der Verzicht aufs Auto nun für mich bedeutet. Es fühlt sich ein wenig an, als entwöhne man sich von Süßigkeiten. Nie wieder Schokolade! Eine Welt bricht zusammen und der Schmerz ist groß. Aber ich bleibe tapfer, denn mit meiner persönlichen Verkehrswende kann ich dazu beitragen, dass die Welt ein besserer Ort wird. Dazu bedarf es nun einmal erhebliche persönliche Opfer. Ich habe von Leuten gehört, die schon immer mit dem Bus zur Arbeit fahren. Das liegt jenseits meiner Vorstellungskraft. Was sind das bloß für tapfere Zeitgenossen. Um mich von meinem Schmerz abzulenken, habe ich mich der neuen Herausforderung angenommen und sie Generalstabsmäßig geplant. In meinem Kopf habe ich eine Liste geschrieben, um die Operation Busfahren erfolgreich gestalten zu können. Ich habe nichts dem Zufall überlassen.

 Ein paar Tage später war es dann soweit: Ich stehe im Jackett, Hemd und Chinohose (meiner Arbeitskleidung) vor unserem Haus auf der Straße, setze meinen Fahrradhelm auf, kontrolliere, ob er gut sitzt, ziehe mir meinen Rucksack über die Schulter, in die ich eine Mahlzeit, ein Getränk und Lektüre für die Mittagspause gepackt habe, stellte mich auf meinen E-Scooter, mache einen Schulterblick und düse über die Straße in Richtung Bahnhof.

Ich bin Kartoffel durch und durch. Ich gehe immer auf Nummer sicher, habe  immer einen Plan B und ich bin so was von pünktlich. Mir unterlaufen niemals Fehler und wenn, dann sind die anderen Schuld.

Um 7.40 Uhr verlasse ich das Haus und um 7.48 stehe ich an der Bushaltestelle. Der Bus fährt laut Fahrplan um acht Uhr ab. Meinen E-Scooter habe ich zusammengeklappt und trage ihn mit der einen Hand und  in der anderen Hand halte ich das abgezählte Geld für die Tageskarte bereit. Den Fahrradhelm kann ich nicht abziehen. Im Bus kann man sich nicht anschnallen. Da kann der Helm bei Unfällen wenigstens ein wenig Schutz bieten. Um 8.03 Uhr fährt der Bus an die Haltestelle. Ich bin jetzt schon klatschnass geschwitzt und genervt. Wenn 8.00 Uhr auf dem Fahrplan steht, dann hat der verdammte Bus um acht Uhr zu erscheinen.

 Der Busfahrer erschrickt, als ich den Bus betrete. Er hat mich nicht erwartet. Ich bin der einzige Fahrgast an diesem Morgen. Er zählt mein Kleingeld nach, gibt mir das Ticket und ich gehe auf meinen Platz. Der Busfahrer brüllt  mir hinterher, dass ich ihm nur ein zwei-Cent anstatt einem fünf-Cent Stück gegeben habe. Das kann nicht sein. Ich habe mein Kleingeld fünfmal nachgezählt. Es lag schon gestern abgezählt auf meinem Nachtisch. Sonst hätte ich nicht schlafen können. Ich bin frustriert und sauer. Dieser Busfahrer hat echt Nerven. Drei Minuten später kommen und dann mir auch noch unterstellen, drei Cent zu wenig bezahlt zu haben. Ich rücke meinen Fahrradhelm zurecht und gehe widerwillig zum Busfahrer. Leider hat er Recht. Ich suche verzweifelt nach einem fünf-Cent-Stück in meinem Geldbeutel und als ich sie finde, gebe ich sie widerwillig her. Es ist 8.05 Uhr, wir fahren endlich los.

Während wir auf der breiten Straße durch die Vororte von Wetzlar rasen, rege ich mich darüber auf, dass ich der einzige Fahrgast bin. Bin ich wirklich der einzige Trottel, der morgens mit dem Bus zur Arbeit fährt? Ich kann mich nicht entspannen, sitze mit aufgezogenem Rucksack auf der Kante meines Sitzes und halte mit den Füßen den E-Scooter fest, der, wenn der Busfahrer die Kurven scharf anfährt, ins Rutschen gerät. Ich bin so froh als der Bus ohne weitere Pannen endlich die Bushaltestelle in Asslar erreicht. Ich vermisse jetzt schon mein klimatisiertes Auto.

 Am nächsten Tag fahre ich wieder mit dem Bus zur Arbeit. Die Aufregung nimmt langsam ab. Routine stellt sich ein und weil ich besonders mutig bin, nehme ich mir am dritten Tag vor, zu Fuß zum Bahnhof zu laufen. Ein wenig Bewegung kann nicht schaden. Allerdings ist der E-Scooter auch die Absicherung für den Fall der Fälle, wen ein Bus mal nicht kommt. Dann kann ich zumindest schnell wieder nach Hause fahren.

Entgegen meiner Kartoffelmentalität habe ich in kurzer Zeit ein gewisses Vertrauen in die Zuverlässigkeit des ÖPNV entwickelt. Mein Vertrauensvorschuss entpuppt sich als absolute Dummheit, denn ich werde auf ganzer Linie von der Linie 200 enttäuscht.

Um 8.02 Uhr ist der Bus immer noch nicht da. Das bin ich ja schon gewohnt. Um 8.03 Uhr beginnt meine Halsader anzuschwellen, denn die Linie 200  fährt die Straße runter, anstatt im Kreisel einzubiegen und die Bushaltestelle anzufahren.

 Der Bus fährt ohne mich! Ich kann es zuerst nicht glauben und erst als ich sehe, dass der Bus die Brücke nach Niedergirmes überquert, lasse ich die fürchterliche Wahrheit an mich heran. Man hat mich verarscht.  Wütend über Tatsache, dass ich meine Absicherung aufgegeben habe und nun nach Hause laufen muss, entschließe ich mich sofort, eine Beschwerde per E-Mail an die Rhein-Main-Verkehrsverbund zu schreiben. Auf dem langen Marsch nach Hause, verbringe ich die Zeit damit die Beschwerde in meinem Kopf zu formulieren.

Am Abend schreibe ich die E-Mail und bekomme, wie es sich gehört in Kartoffelland, eine Nummer zugewiesen: 94790879 Ich lerne sie auswendig.

Ich warte auf die Antwort und drücke fast jede Minute ich auf den Aktualisierungsbutton meines E-Mail Accounts. Ich male mir schon aus, welche Entschuldigungen und Entschädigungen ich für dieses mir angetane Unrecht erhalte.

Am übernächsten Tag, ich wollte gerade die nächste Beschwerdemail schreiben, um mich darüber zu beschweren, dass meine Beschwerde nicht rechtzeitig beantwortet wurde, landet die Antwort in meinem Mail-Postfach:

Wir haben die betreffende Fahrt der Linie 200 in unserem Leit- und Informationssystem (LIAS) geprüft. Die Anfahrt der Haltestelle Bahnhof/ZOB erfolgte ordnungsgemäß.

Das betreffende Verkehrsunternehmen teilt in seiner Stellungnahme zum Sachverhalt ebenfalls mit, dass der Fahrer ordnungsgemäß nach der Pause an die Haltestelle gefahren ist und seine Fahrt begonnen hat.

Wir würden uns freuen, wenn wir Sie trotz des unangenehmen Vorfalls auch zukünftig zu unseren Fahrgästen zählen dürften. Hierbei wünschen wir Ihnen gute und problemlose Fahrt.

Mit freundlichen Grüßen

Frechheit! Unverschämtheit! Ich als opferbereiter Bürger werde als Lügner verhöhnt. Natürlich werde ich nie wieder mit Eurem Sauladen irgendwo hin fahren…aber die Verkehrswende…Mein Ärger und Frust über diese fadenscheinige Antwort verhakt sich mit meinem Ansinnen, die Welt durch die Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln zu verbessern und führt zu einem widerlichen Disput mit mir selbst.  Was soll ich tun?  Krone zurechtrücken und wieder aufstehen. So einfach gebe ich nicht auf. Wenn ich nicht mehr mit dem Bus fahre, habt ihr Euer Ziel erreicht.

 Gestern Morgen stand ich an der Bushaltestelle und habe erst einmal den Fahrradhelm abgezogen. Die Linie 200 kam pünktlich.

Die Verkehrswende findet hier nicht statt

Wetzlar, die Stadt in der ich und meine Familie leben, ist eine typische deutsche Kleinstadt mit 50000 Einwohnern, eingebettet in der schönen Landschaft zwischen Westerwald und Taunus, mit einer pittoresken Altstadt, grünen Parkoasen am Fluss, einem stattlichen Dom und einer breiten vierspurigen hässlichen Straße, die durch die ganze Stadt führt.

Auch hier wurde nach dem Krieg alles dem Wiederaufbau untergeordnet. Man modernisierte Wetzlar mit viel Beton und Asphalt. Für die Menschen hat es damals Sinn gemacht. Plötzlich waren die engen muffigen Gassen weg, die alten Straßenzüge sanierungsbedürftige kleiner Häuser verschwanden und an deren Stelle traten breite Straßen und moderne Zweckbauten. Man schuf Platz für den Fortschritt und die Verheißungen des Wirtschaftswachstumes.

Wir wissen heute, was daraus geworden ist und man kann der Nachkriegsgeneration keinen Vorwurf machen. Was viel schlimmer wiegt und heute einfach nur noch nervt ist diese Beharrlichkeit und das Unverständnis vieler Menschen und Politiker, die nicht sehen wollen, dass wir unsere Lebensweise auf kommunaler Ebene verändern müssen.

Dazu gehört für mich ganz klar auch die Veränderung unserer Verkehrsinfrastruktur. In Wetzlar gibt es ein städtisches Radwegekonzept, dass jetzt nach und nach umgesetzt wird. Leider ist es ein halbherziges Konzept. Man weiß um die Notwendigkeit einer Verkehrswende,  erkennt aber nicht die Notwendigkeit radikaler Veränderungen. Den Autofahrern sollen Zumutungen erspart bleiben. Also macht man hier und dort einen Radstreifen und glaubt, das beruhigt diejenigen, die die Veränderung nicht als Zumutung, sondern als zwingend betrachten.

Das grundsätzliche Problem in Wetzlar besteht darin, dass wir eine vierspurige Ortsdurchfahrt mit Anschluss an eine Bundesstraße haben, aber viele Zubringerstraßen wie Nadelöhre die historischen Pfade in die Stadt nachbilden. Die Verkehrswende könnte da beginnen, wo man an solchen Straßen dem Rad und ÖPNV den Vorrang gibt. Leider verzichtet man darauf. Es geht nicht darum, Autofahrer zu bestrafen oder auszugrenzen, sondern die Attraktivität der ressourcenschonenden Verkehrsmittel zu erhöhen und so möglichst viele Menschen die Nutzung dieser Verkehrsmittel zu erleichtern.

Das Traurige daran ist, das wir eigentlich in Wetzlar sehr stark vom Fahrradtourismus profitieren. Viele Menschen kommen über regionalen Radwege nach Wetzlar, um die Stadt zu besuchen. In der Stadt selbst sind sie als Radfahrer nicht willkommen. Es gibt viele gefährliche Stellen, unklare Regelungen, Radwege die ins Nichts führen, Umwege, die man mit dem Fahrrad in Kauf nehmen muss. Daher wundert es mich, dass die städtische Politik keine weitergehenden Maßnahmen ergreift. Denn wenn einem die wenigen Fahrradverrückten nicht wichtig sind, so hat man doch immer den Tourismus als wachsenden Wirtschaftszweig im Blick.

Aber die wenigen Fahrradverrückten in dieser Stadt machen immer mal gerne auf sich aufmerksam. Am letzten Samstag haben verschiedene Gruppen eine Fahrraddemo veranstaltet,  die die Probleme rund um die verfehlte Verkehrspolitik sichtbar machen sollte. Die Dominanz des motorisierten Individualverkehrs sollte wenigstens für ein paar Stunden in den Hintergrund treten.

Eine illustre Kolonne mit ca. 170 Radfahrern fuhr auf den breiten Chausseen der Innenstadt, die für die Demo von der Polizei gesperrt wurden. Meine Frau, unsere drei Kinder und ich gehörten dieser Kolonne an.

 Es war ein wunderschönes Gefühl die breite Straße am Karl-Kellner-Ring lang fahren zu können und ein Gespür dafür zu bekommen, wie Ruhe in eine Stadt einkehrt, die ansonsten vom Lärm des motorisierten Individualverkehrs geprägt ist. Eine Stadt ohne Auto ermöglicht eine neue Lebensqualität für alle. Wenn wir kreativ mit der Stadt umgehen, die uns nun einmal so gegeben ist, wie sie momentan ist, können wir gemeinsam viel erreichen. Dabei ist es wichtig, niemanden auszugrenzen, sondern allen Bürgern und Besucher dieser Stadt an den neuen Möglichkeiten teilhaben zu lassen.

Es ist ein langer Prozess, weil in vielen Köpfen ein Umdenken beginnen muss. Wenn wir als Bürger und Radfahrer dieses Stadt auf uns aufmerksam machen, in dem wir Samstagsnachmittags friedlich und gewaltfrei Präsenz zeigen, machen wir Werbung für unser Anliegen, dass eigentlich das Anliegen aller Menschen ist: Einen Lebensraum zu haben, der einem die Möglichkeit zur persönlichen Entfaltung bietet.