Austreten – Eintreten / Teil zwei

Während der nächsten Jahre hielt ich mich von katholischen Messen fern und während der Pubertät weitete sich mein Horizont. Es gab bei uns im Ort eine große evangelische Gemeinde. Die evangelische Kirche vermittelte eine zeitgemäße und lockere Haltung zum christlichen Glauben. Es gab Pfarrer und Pfarrerinnen, die auch noch eine Familie hatten, coole Jugendbetreuter und Konfirmationsfreizeiten, die eher Klassenfahrten glichen. Viele meiner Altersgenossen hatten ein entspanntes Verhältnis zur Religion. Die Konfirmation war eher der Tag des ersten Vollsuffs als der Tag der religiösen Erweckung.

  Zwischen dem dreizehnten und siebzehnten Lebensjahr gab es für uns Jungs nur drei Themen: Fußball, Alkohol und Mädchen. Man traf sich mit Freunden auf den Spielplatz, um sich bei Flaschenbier gegenseitig die Säcke vollzumachen. Mitte der Achtziger schien auch das Leben der Erwachsenen nur aus Arbeit und Konsum zu bestehen. In dieser Welt war wenig Platz für die großen Fragen. Über Politik und Religion sprach man selten. Es waren wilde Zeiten: Aids, Tschernobyl, Startbahn West, Nato-Doppelbeschluss, Kalter Krieg, Hunger in Äthiopien. Alle das schien auf einem anderen Planeten stattzufinden. Falls unsere Eltern mit anderen Erwachsenen über das Weltgeschehen sprachen, dann in kleinen konspirativen von Zigarettenrauchnebel umwobenen Zirkeln, bei einem frisch gezapften Bier, beim Sport und in der Kneipe.

 Meine Eltern sind misstrauische und unsichere Persönlichkeiten, deren Gläser eher halb  leer als halb voll sind. Ihnen ein ausgeprägtes politisches Bewusstsein zuzuschreiben, wäre zu weit gegriffen. Aber sie hatten eine konkrete Vorstellung vom mündigen Bürger, der sich gefälligst mit Politik auseinander zu setzen hatte. Aufgrund ihrer Bildungshistorie war es auch nicht zu erwarten, dass es Ihnen einfach fiel, sich komplexes Hintergrundwissen über das Weltgeschehen anzueignen. Mein Vater ging nach acht Jahren Volksschule in die Lehre und meine Mutter hatte nach der mittleren Reife eine kaufmännische Ausbildung gemacht. Sie waren nicht in der Lage als zur Verfügung stehenden Informationsquellen anzuzapfen, aber sie vermittelten mir, dass man mit wachen Blick die Geschehnisse in der Welt wahrnehmen muss. Meine Eltern schauten abends die Nachrichten im Fernsehen, lasen morgens beim Frühstück die Tageszeitung, im Hintergrund liefen im Radio die Nachrichten. Meine Eltern lasen zudem den Stern und später auch den Spiegel.  

 Zum Erwachsenwerden gehörte bei uns in der Familie die politische Diskussion am Küchentisch. Je älter ich wurde, je mehr ich meine eigene politische Meinung entwickelte und artikulieren konnte, desto hitziger wurden die Debatten am Küchentisch. Mein Vater hätte sich nie einer politischen Richtung zugeordnet. Er wusste, was er nicht sein wollte: Rechts. Meine Eltern sind Demokraten durch und durch und sie hätten es nie geduldet, wenn ich rechte Tendenzen gezeigt hätte. Meine linken Tendenzen konnte sie aushalten, aber nur unter Schmerzen. Die Sozis waren nur geduldet. Sie nahmen es der SPD übel, dass sie gerne ihnen, die hart für ihren Wohlstand arbeiten mussten, Geld durch Steuererhöhungen wegnahmen, um es für soziale Wohltaten zu verwenden. Dort beim Mittagessen, am Frühstückstisch in der Diskussion mit meinem Vater, habe ich gelernt zu diskutieren, andere Perspektiven anzuerkennen oder meine Meinung mit Argumenten zu untermauern. Ab dem neunten Schuljahr entwickelte ich mich zum Klugscheißer. Ich wollte jede Debatte gewinnen. Also eignete ich mir Wissen an, versuchte historische Kontexte zu erfassen, sie einzuordnen und zu vergleichen. Ich habe bei meinen Eltern gesehen, dass sie zwar intuitiv sich eine Meinung bilden konnten, aber sehr leicht zu manipulieren waren. Für meine Generation war der Erwerb von Wissen kein Luxus mehr. Politische Bildung war ab der achten Klasse Teil des Schulunterrichtes. Leider haben nicht alle meine Altersgenossen ihren Vorteil erkannt. Das Ideal der Aufklärung hatte sich in den siebziger und achtziger Jahren vollkommen entfaltet, wurde aber gleichzeitig vom Ideal des Kapitalismus überstrahlt. Für viele meiner Altersgenossen stand der zügellose Konsum im Vordergrund und Wissen war nur etwas für picklige und hässliche Spinner. Man kokettierte gerne mit seiner Unwissenheit und stempelte Menschen, die freiwillig in ihrer Freizeit Bücher lasen, als Langweiler ab.

 In unserer Schule gab es doch einige Lehrer, die in den späten Sechzigern, frühen Siebzigern studiert hatten und an denen die Studentenbewegung nicht spurlos vorbeigegangen war. Mein Deutschlehrer war so ein Mensch: ein Hüne, der stets schwarze Rollkragenpullis, lange fettige Haare und einen Rauschebart trug. Er war streng, zynisch und elitär. Aber immer darauf bedacht in großen Zusammenhängen zu denken. Ich hatte keine guten Noten in Deutsch, blühte trotzdem völlig bei ihm auf. Dieser Lehrer wurde zu meinem großen Vorbild, da er anscheinend alle existierenden Bücher gelesen und verstanden hatte und ein Charisma besaß, das nicht nur mich inspirierte

 Spätestens beim Übergang zur Oberstufe hatte ich Blut geleckt. Ab der elften Klasse war ich Stammgast in der Schulbibliothek und begann philosophische Texte zu lesen. In vielen Dingen war ich Autodidakt. Ich war verdammt schüchtern und unfähig, mir jemanden zu suchen, der mir etwas beibringen konnte. Ich weiß nicht mehr, wie ich an Camus geraten war und ich weiß auch nicht mehr, warum ich glaubte, „Das Sein und das Nichts“ von Sartre lesen zu müssen. In der elften Klasse habe ich mich anfangs noch mit Descartes und Rosseau auseinander gesetzt. Es kann aber auch sein, dass ich damals schon Karl Jaspers gelesen hatte, der mir mit der „Philosophie der Weltanschauungen“ den Weg gewiesen hat und das ich über ihn an die Existenzialisten geraten war.

 Während der ganzen Schulzeit besuchte ich den katholischen Religionsunterricht. Ich hatte dort immer gute Noten und viele Themen haben mich auch interessiert. Schon damals hat man sich im Unterricht mit den anderen Weltreligionen auseinander gesetzt. Das fand ich äußerst spannend, hatte ich doch während meiner Kindheit in der Kirche vermittelt bekommen, dass der Katholizismus den einzig wahren Glauben darstellte. Schließlich hat Gott ja den Christen seine Botschaft verkündet und nicht den anderen. Im säkularen Religionsunterricht lernte ich genau das Gegenteil. Alle Religionen waren gleichwertig. Die Wahrheit an sich gab es nicht. Die Existenz Gottes war wissenschaftlich nicht beweisbar. Glauben war relativ und Religion versuchte nur einen Rahmen für den Glauben an einen oder mehrere Götter zu geben.

 In der zwölften Klasse übernahm ein Lehrer den Religionsunterricht, der mich die nächsten Jahre sehr stark beeinflusste. Wie ich später erfuhr, wollte er in seinen jungen Jahren Priester werden, hatte aber Schwierigkeiten mit dem Zölibat, lernte seine Frau kennen, zog mir ihr drei Kinder auf und wurde Religionslehrer. Er war der erste Mensch mit dem ich leidenschaftlich über Religion und Philosophie diskutieren konnte. Er empfahl mir Hans Küngs „Existiert Gott?“ zu lesen. Das Buch hatte ich verschlungen. Zu der Zeit gehörten auch die verschiedenen Philosophierichtungen zum Lehrplan in Religion. Ich hielt mich für einen Experten auf dem Gebiet. Obwohl mein Wissen aus heutiger Sicht eher als laienhaft zu bezeichnen war, hatte ich mir mit meinen vorlauten Wortbeiträgen die Aufmerksamkeit meines Lehrers bekommen. Ich kam auch nachdem Unterricht mit ihm ins Gespräch. Bis zum Abitur und darüber hinaus gab es mehrere private Treffen, die nur dazu dienten, sich über Religion, Kirche und Philosophie auszutauschen. Ich fühlte mich in dieser Zeit phantastisch. Ich blühte sozial wie intellektuell auf und hatte meine Bestimmung gefunden. Ich war der nervende Klugscheißer, der stundenlang über ein Thema referieren konnte, dabei eine Zigarre rauchte, seine Nase in eine Menge edlen Whiskey tunkte und aufgeputscht von seinen eigenen Thesen die Welt durchdrang.

 Mein mündliches Abitur legte ich im Fach Religion ab. Ich sollte den Freiheitsbegriff im Christentum und im Existenzialismus vergleichen. Ich hatte mich einigermaßen tapfer geschlagen und bekam zwölf Punkte. Damals merkte ich schon, dass mein Autodidaktentum mich schnell an meine Grenzen brachte und da ich finanziell unabhängig von meinen Eltern sein wollte, begann ich nach dem Abitur anstatt eines geisteswissenschaftlichen Studiums eine Ausbildung bei der ortsansässigen Sparkasse.

 Ich hätte gewarnt sein sollen, als mein Vater mich dafür lobte, dass ich doch jetzt so eine tolle Ausbildungsstelle bekommen hätte.

Austreten – Eintreten / Teil eins

Ich habe es getan: Ich bin aus der katholischen Kirche ausgetreten. Mit einer einfachen Unterschrift auf einem Tablet habe ich meine Mitgliedschaft bei diesem Verein beendet. Ich hätte nicht erwartet, dass es mir letztendlich doch so einfach fällt.

 In meinem Umfeld gibt es einige Menschen, die keinerlei Beziehung zu einer Religionsgemeinschaft haben, andere sind einer Religionsgemeinschaft angehörig, ohne die Religion auszuüben und wiederum andere haben einen engen Bezug zu ihrer Religion.

 Ich gehöre zu keiner dieser Gruppen. Mein Verhältnis zur Religion war seit meiner Kindheit nie eindeutig, eher verschwommen, schwer zu umschreiben, voller Ambivalenzen.

 Obwohl meine Eltern wenig Bezug zur katholischen Kirche haben, bin ich katholisch erzogen worden. In der Generation meiner Eltern hatte die Zugehörigkeit zu einer christlichen Religion noch eine andere Bedeutung. Sie war Zeichen von Zugehörigkeit und diente viel stärker der sozialen Kontrolle. Meine Mutter ist Protestantin. Hier in Mittelhessen ist die evangelische Kirche seit Jahrhunderten die mitgliederstärkste Religionsgemeinschaft. Erst nach dem Krieg mit der Ankunft vieler Flüchtlinge aus dem Osten (Schlesier und Sudetendeutsche) bekamen die kleinen katholischen Gemeinden starken Zuwachs. In Wetzlar gibt es alleine vier katholische Kirchen, die nach dem zweiten Weltkrieg gebaut wurden (St. Markus, St. Walburgis, St. Bonifatius, St. Elisabeth). Mein Vater ist Sudetendeutscher und katholisch. Meine Eltern haben in den späten sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts geheiratet und laut der Familienlegende war die Heirat aufgrund der Herkunft meines Vaters nicht unumstritten. In der Regel stimmen Priester einer Eheschließung nur zu, wenn man verspricht, die Kinder aus der Ehe im katholischen Glauben zu erziehen. Meine Eltern hätten sich an das Versprechen nicht halten müssen. Aus irgendeinem Grunde haben sie sich verpflichtet gefühlt und so wurde ich katholisch getauft, ging ich mit acht Jahren in den Kommunionsunterricht und musste 1981 am weißen Sonntag zum ersten Mal vom Leib Christi naschen. Ich habe noch sehr deutliche Erinnerungen an diese Zeit. Erst einmal war der Kommunionsunterricht wider Erwarten sehr lehrreich. Ich hatte zum ersten Mal Kontakt mit der christlichen Lehre und den Geschichten aus dem neuen Testament. Wir hatten einmal in der Woche Unterricht bei einem Ehepaar, das bei uns in der Straße wohnte, liebevoll mit uns umging und darauf achtete, uns die Inhalte kindgerecht näher zu bringen. Ende der Siebziger Jahr war das nicht selbstverständlich, schließlich galt die katholische Kirche schon immer als konservative und rückwärtsgewandte Institution. Die Widersprüche zwischen Außenwirkung und innere Haltung erkannte ich schon früh. Die Gemeinde St. Markus war relativ jung und man hatte gerade ein neues modernes Gotteshaus errichtet. Ein schicker niedriger Bau, ohne Kirchturm und mit viel Sichtbeton. Der Priester dagegen war ein eigensinniger, distanzierter und emotionsloser Hirte, der bei der Messe mit dem Zeigefinger seine Schäfchen abzählte. Ihm war es sehr wichtig, dass ihm keines seiner Schäfchen abhandenkam. Schließlich waren die Verlockungen der Moderne zu groß. Die Schäfchen waren nicht frei von Sünde und konnten jederzeit den Versuchungen erliegen.

 Im Kommunionsunterricht lernte ich früh, dass in der christlichen Lehre der Begriff der Nächstenliebe eine zentrale Bedeutung hatte. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Jesus war ein Vorbild, selbstlos, ohne Allüren, ein einfacher Mensch, der sich um die sozial Schwachen kümmerte und selbst nur der Sohn eines Zimmermanns war. Dagegen stand der Prunk und die Hierarchie in der Amtskirche, alte Männer im Rock, die mit alten Ritualen und Dogmen die Gläubigen an die Kirche zu fesseln versuchten. Die Messe am Sonntag dauerte bis zu zweieinhalb Stunden, davon verbrachte man fast die Hälfte auf Knien und in Büßerhaltung. Die Predigt, die ganzen Sprüche und Formeln klagen hohl und unverständlich. Ich hatte die Messe als eine Veranstaltung des schlechten Gewissens erlebt. Als armer, schwacher Mensch, musste man jede Sekunde seines Lebens auf der Hut vor sich selbst sein. Daher hatte ich auch unheimlich Angst vor der ersten Beichte. Wer ein Sakrament erhält, muss vorher beichten. Ein zehnjähriger, der erklären muss, dass er unkeusche Gedanken hat, seine Eltern nicht ehrt und lügt und betrügt, wenn er die Hausaufgaben nicht macht, kann sich nicht frei fühlen und ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln.

 Die Feier meiner Erstkommunion war für mich die Hölle, ich war unsicher, fühlte mich verloren und sie endete damit, dass ich Windpocken bekam. Während meine Familie und meine Verwandten feierten, lag ich im Bett und wurde von Fieberträumen geplagt.

 Mit zwölf Jahren habe ich das nächste Sakrament erhalten: die Firmung. Wieder gab es Unterricht und in Vorbereitung zum Sakrament die obligatorische Beichte. Seit Jahren erduldete ich nun die langweiligen Messen, das falsche Pathos, die gesalbten und heiligen Bewegungsabläufe, einstudiert und einzementiert in die Ordnung einer Amtskirche, die wenig Spielraum für Abweichung zulässt. Ich hoffte mit der Firmung von der Verpflichtung, Sonntagsmessen besuchen zu müssen, befreit zu werden. Ich konnte die Messdiener, Ihr Gebimmel, ihre gewichtigen Schritte, ihre Verbeugungen, ihr stundenlanges Verharren auf den Knien und das arrogante, ausdruckslose Gesicht des Priesters, das Erheben der Hostie, das Nippen am Kelch, das unheimlich affektierte Abtupfen seiner Lippen nach dem Genuss des Blutes Christi, das Weihrauchgedöns und seine unheimlich tristen und von Phrasen durchseuchten Predigten nicht mehr länger ertragen. Ich sehnte mich nach dem Tag der Firmung, weil es meine letzte Messe sein sollte und ich bald jeden Sonntagmorgen ausschlafen konnte.

 Die Firmung war bei weitem nicht so feierlich wie die Erstkommunion. Es wurden nicht alle Verwandten vorgeladen, keine großen Geschenke verteilt und man erwartete nicht, dass wir uns in dunkle Samtanzüge oder weiße Spitzenkleidchen zwängten.

 Die Firmung wird vom Bischof vorgenommen. In unserem Falle war das Bischof Franz Kamphaus. Wetzlar gehört zum Bistum Limburg. Der Dom in Limburg an der Lahn ist vielen Menschen außerhalb Hessens bekannt, weil er bis 1992 auf der Rückseite des 1000 DM-Scheines zu sehen war. Franz Kamphaus hatte sein Amt noch nicht lange inne und viele haben ihn damals in der der Messe als sehr zugewandt und freundlich erlebt. Er schien frischen Wind in das Bistum zu bringen und die Gemeindemitglieder schienen erleichtert zu sein, dass er menschlich und nahbar wirkte. Der frische Hauch der durch den Kirchraum wehte und den Weihrauchmief vertrieb, nahmen sogar wir Firmlinge wahr.

 Trotzdem war für mich mit der Firmung die Angelegenheit erledigt. Ich wollte nichts mehr mit dieser Zwangsgemeinschaft der Christen zu tun haben.