Nie wieder ist jetzt

Seit ich mich mit Politik beschäftige, als seit fast vierzig Jahren, wird dieses Land regelmäßig von rechtsextremen und völkischen Populisten und Antidemokraten in die Zange genommen.

 Die rechtsextremen Hetzer und Demagogen führten ohne Unterlass ihr schäbiges Drama aus Empörung und ätzendem Hass auf. Zu schrill, zu offensiv und mit offensichtlichen Reminiszenzen an den Faschismus des dritten Reiches erreichten sie in der Vergangenheit nur die Altgestrigen und ein paar Protestwähler. Nach ein paar Erfolgen bei Kommunal- oder Landtagswahlen verschwanden sie bald wieder in der Versenkung,

 Seit dem letzten Aufflammen rechter Umtriebe in den Neunzigern schien rechtsextremes Gedankengut nur noch für durchgeknallte Springerstiefel- und Glatzenträger attraktiv zu sein. Auch wenn drei NSU-Terroristen fast zwanzig Jahre unbehelligt mordend durch die Lande ziehen konnten, gab es den einen breiten Konsens darüber, dass völkisches Gedankengut weder gesellschafts- noch mehrheitsfähig war.

 Allerdings gor im Gedärm der Republik die Sehnsucht nach einer Vergangenheit, in der das Patriachat noch die Oberhand hatte und mit einer gottgegebenen Arroganz den Rest der Menschheit mies behandeln durfte. Nach einem langen Zersetzungsprozess im Dünndarm konnte der Schließmuskel unserer Nation den gewaltigen Dünnpfiff nicht mehr halten. Und so ergoss sich die braune Soße über das Land und nannte sich die Alternative für Deutschland.

 Und nach zehn Jahren, in denen diese Partei keine Gelegenheit ausgelassen hat, um den öffentlichen Diskurs an sich zu reißen und mit ihrem einen Thema zu bestimmen, schienen sie fast am Ziel angelangt zu sein.

  Wie alle Populisten haben die seriös auftretenden Funktionäre  ängstliche und überforderte Menschen angesprochen und hinter sich versammelt. Man hat sie plappern, keifen, schimpfen und diffamieren lassen und nicht nur ihre Fans, sondern auch ihre Gegner haben sich von Ihnen beeindrucken lassen. Dabei hat man einfach vergessen, dass die Angelegenheiten der Menschen schon immer komplex und widersprüchlich und einem stetigen Wandel unterworfen waren. Weil sich die Welt tagtäglich weiterdreht, müssen alte Vereinbarungen wieder neu verhandelt werden. Kriege, Pandemien, Inflation, Transformationsprozesse und Rezessionen hat es schon immer gegeben.  Ein bestimmter Anteil der Menschen reagiert mit Angst und Schrecken auf historische Brüche. Verunsicherte Menschen stellen die perfekten Opfer für Populisten dar. Um ihren persönlichen Schmerz zu lindern, sind sie bereit, irrational zu handeln. Für das Gefühl der Sicherheit lassen sie sich gerne belügen und betrügen. Sie wollen einfach glauben, dass es jemand gibt, der die Welt wieder heile machen kann.

 Auffällig ist für mich, dass die Erzählungen der Populisten bei vielen Menschen verfangen, die sich vorher nie mit Politik auseinander gesetzt haben. Viele Bürger haben eine verzerrte Vorstellung von der Leistungsfähigkeit staatlicher Institutionen. Mir sind viele Menschen begegnet, die sich niemals eingebracht haben, die nie die Tagesschau geschaut haben, niemals eine Tageszeitung gelesen haben, die nie wählen gegangen sind, mir aber genau erklären können, was in diesem Land falsch läuft. Beim Zuhören spürt man schnell, dass es nur um sie und ihre eigenen Ansprüche geht. Viele Menschen denken nicht an das Gemeinwohl und was der kleinste gemeinsame Nenner für alle sein sollte. Errungenschaften der Sozialpolitik wie Mindestlohn und Bürgergeld schrecken Sie ab. Solche Wohltaten der Gesellschaft sind nur ihrer Ansicht da, um missbraucht zu werden. Sie selbst sehen sich als Opfer staatlicher Willkür, weil der Staat ihnen etwas wegnimmt und es anderen gibt. Es ist die gleichen Sorte Mensch, die keine Steuern zahlen will, aber über die Schlaglöcher motzt. Gingen frühere Gesellschaftstheorien nicht davon aus, dass der Bürger seinem Willen den Allgemeinwillen unterordnet, um von der Allgemeinheit Schutz zu bekommen und in Freiheit leben zu können? Man könnte fast annehmen, dass für viele Menschen der Gesellschaftsvertrag nie existiert hat.

 Wenn alte Gewohnheiten und Besitzstände in Frage gestellt werden, sei es die Macht, die Bequemlichkeit, den qualmenden Verbrenner oder das Schnitzel, werfen die Populisten ihre Netze aus. Die beharrliche Leugnung der Wirklichkeit, die vom einer Umwelt- und Klimakatastrophe, ungerecht verteiltem Wohlstand und daraus resultierenden Fluchtbewegungen dominiert wird, kann man nur mit einem gemeinsamen Feindbild aufrechterhalten. Viele Menschen, die sich selbst höchstens als konservativ aber nicht als rechts- rechtsextrem bezeichnen, teilen mit der AFD und dem rechten Milieu die Feindbilder: selbstbewusste Frauen, queere Menschen, Migranten, junge Menschen, die sich für den Schutz der Umwelt einsetzen usw. Ob sie jetzt oder später die AFD wählen ist egal, aber sie stellen Wählerpotential für Populisten dar. Solange die Diskurse am Brodeln sind, trifft man alle in den sozialen Medien an und lässt sie munter zu einer einzigen Bubble verschmelzen. Schon kann eine Partei alle, die ihre Überzeugungen teilen, in dem Glauben bestärken, entweder in der Mehrheit zu sein oder Opfer der gegenwärtigen Mehrheitsgesellschaft zu sein, die von den Mächtigen gegen sie aufgehetzt wird. Man kann sich gegenseitig in diesem Status bestätigen und sich bestärken. Plötzlich ist man ein Held, ein Märtyrer, der nichts anderes macht, als von der heimischen Couch aus als Soldat im Meinungskrieg für die gerechte Sache zu kämpfen.

 Die blaue Pest hat mittlerweile eine Relevanz erreicht, die viele Bürger hat glauben lassen, dass sie uns spätestens nach den Landtagswahlen im Sommer hinraffen wird.

 Die wirkliche Mehrheitsgesellschaft ist endlich aufgewacht. Vielleicht zu spät! Das konspirative Treffen einiger Rechtsideologen, die sich in gediegener Kulisse über die Ausweisung deutscher Staatsbürger unterhalten hat, hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Anders kann ich es mir nicht vorstellen, denn wir haben in den letzten Jahren so viele Angriffe auf unsere Demokratie erlebt und nicht sonderlich gezuckt. Aber jetzt sind wir endlich wieder alle Antifaschisten und vereinen uns hinter dem Artikel eins des Grundgesetzes.

 Meine Familie und ich haben in den letzten zwei Wochen an zwei Demonstrationen gegen die AFD teilgenommen. Wir sind nicht zum ersten Mal auf Demonstrationen gegen rechte Umtriebe gewesen und im Privatleben sind wir es gewohnt, Stellung gegen rechtes Gedankengut zu beziehen. Leider mussten wir in den letzten Jahren immer wieder feststellen, dass die AFD-Thesen auch bei manchen Menschen in unserem weiteren Umfeld salonfähig geworden sind. Ich habe diese Leute immer reden lassen, sie höchstens gemieden oder ignoriert.

 Und ich gebe zu, hinter jungen Menschen herzulaufen, die eine Fahne schwenken und Alerta, Alerta, Antifaschista rufen, gibt mir ein gutes Gefühl. Ich wähne mich auf der richtigen Seite. Es ist ein trügerisches Gefühl. Vor drei Wochen haben sich in Gießen 13000 Menschen versammelt und letzte Woche in Wetzlar 5500 Menschen. Die sehr emotionalen Redebeiträge in Wetzlar auf der Bühne haben viele Demonstranten nachdenklich gestimmt. Aber solche Demonstrationen können die Situation nicht retten. Sie dienen höchstens der Selbstbeschwichtigung. Man vergewissert sich gegenseitig, dass eine große Mehrheit der Menschen nicht in einer antidemokratischen Gesellschaft leben möchte, die nur auf Angst und Ausgrenzung beruht. Und trotzdem müssen wir uns fragen, wie wir die Demokratie wieder für Menschen attraktiv machen können, die schon fast verloren sind, weil sie zwar im gleichen Land aber in einer ganz anderen Welt leben. Die oben beschriebenen Typen oder Gruppen werden sich nicht von Demonstrationen beeindrucken lassen. Im schlimmsten Fall sehen sich bestätigt und bestärkt und drehen erst recht auf. Der positive Effekt, die die Demonstrationen zweifellos hatten, wird schnell verpuffen, wenn nicht alle gesellschaftlichen Kräfte, sich hinter dem Grundgesetz, den Menschenrechten und der Demokratie versammeln und endlich ein positives Gegenbild zu der schlechtlaunigen und bräsigen völkischen Ideologie zeichnen. Wenn wir das nicht schaffen, wird bald nie wieder jetzt sein. 

Der Staat – ein Missverständnis?

Die Demonstranten, die in letzter Zeit gegen die Pandemiemaßnahmen der Regierung auf die Straße gegangen sind, egal welche Beweggründe sie vorgebracht haben, eint alle das mangelnde Verständnis für Politik und die Funktionsweise eines modernen Staatswesens.

Dieser Umstand erschreckt mich fast mehr als die Tatsache, dass die üblichen Verdächtigen aus der rechten Szene die Proteste unterwandern und für sich nutzen.

Im Prinzip heißt es, dass viele Menschen in unserem Land die Grundlagen für unser Zusammenleben nicht kennen oder nicht anerkennen. Der Gesellschaftsvertrag bröckelt.

Wenn man vom Typus Empörer absieht, der sich zur schweigenden Mehrheit zählt, aber dabei brüllend verkündet, dass man nach dem Umsturz aufpassen muss, weil man dann als erster am nächsten Baum aufgeknüpft wird, haben viele Menschen ihre individuellen Ängste vor individueller Einschränkung als Grund für ihren Protest vorgebracht.

Man hört Aussagen wie ich habe Angst um meine Freiheit, nicht, ich habe Angst um die Freiheit aller Menschen, die in Deutschland leben oder ich darf nicht mehr sagen, was ich denke, nicht die allgemeine Meinungsfreiheit ist in Gefahr oder ich fühle mich nicht ernstgenommen von der Politik und nicht die Politik nimmt die Belange der Bürger im Allgemeinen nicht mehr ernst. Solche Aussagen beinhalten immer eine Abgrenzung, die genau in das Schema vom falschen Staatsverständnis passt.

Worauf begründet sich der moderne Staat? Darauf, dass wir alle auf einen kleinen Teil unserer individuellen Freiheit verzichten. Dafür erhalten wir im besten Fall soziale Sicherheit, Schutz für unser Leib und Leben, unumstößliche Grundrechte wie Meinungsfreiheit, Bewegungsfreiheit, Wahlfreiheit Recht auf Entfaltung usw. und wenn es gut läuft, ein gewisses Maß an Wohlstand. Dieses Rechte erhalten grundsätzlich alle Menschen, die innerhalb der Grenzen unseres Staates leben. Alle Menschen sind vor dem Gesetz und vor dem Staat gleich. Um dem Staat die Erfüllung seiner Aufgaben zu ermöglichen, haben alle Bürger die gleichen Pflichten: Sich an Gesetze halten, Steuern zahlen usw.

Dieses unheimlich komplexe Modell hat sich über die Jahrhunderte entwickelt und ist zum Garant für eine größtmögliche Freiheit einer möglichst großen Anzahl von Menschen geworden. Dass es dabei zu Verwerfungen und fast unmöglich zu lösenden Problemen kommt, ist unvermeidlich. Daher ist jede Gesellschaft auf Kompromissfähigkeit im Rahmen eines ausgleichenden Diskurses angewiesen. Daher hat sich das Modell unabhängiger Kontroll- und Regulierungsinstanzen in den letzten Jahrzehnten bewährt. Wenn die Politik bei Problemen untätig bleibt, gibt es für jeden Bürger die Möglichkeit sein Anliegen durch die von der Politik unabhängigen Instanzen vorzubringen.

Damit dieser Staat handlungsfähig ist, geben wir einerseits ein kleines Stück unserer Freiheit und unterwerfen uns alle in einem gewissen Maße der Staatsgewalt (Trotzdem geht alle Gewalt vom Volke aus). Dadurch wird die pure Anarchie verhindert. Wer auf seine individuelle Freiheit pocht und durch die Staatsgewalt nicht in seine Grenzen gewiesen wird, wird irgendwann zum Mittel der Selbstverteidigung greifen und alle werden sich irgendwann gegenseitig die Köpfe einschlagen.

Eine Szene, die vielleicht stellvertretend für dieses Missverständnis steht, ist mir im Gedächtnis geblieben und gab mir den Anstoß für meine Überlegungen.

Es war eine der ersten Demonstrationen gegen den Umgang der Regierung mit der Pandemiesituation, die in Berlin auf der Wiese vor dem Reichstag stattgefunden hat. Während der ersten Welle der Pandemie hat man Demonstrationen zugelassen, wenn die Anzahl der Demonstrierenden begrenzt war und die Demonstranten strikt die Abstandsregelungen eingehalten haben. Damals ging die Polizei gegen Demonstranten vor, die sich als absolut renitent gezeigt haben und hat diese aus der kleinen Menge mit Gewalt herausgezerrt. Teilweise stürzten sich mehrere Polizisten auf einen Demonstranten, um ihn aus der Menge zu entfernen. Einen Stück weiter hat ein Fernsehteam die Menschen nach ihrer Meinung gefragt. Eine Frau, die das Verhalten der Polizei beobachtet hat, zeigte sich sehr bestürzt. Die Frau war mit ihrer heranwachsenden Tochter auf die Demo gegangen und hatte alles andere erwartet, als Polizisten, die die vorgegebenen Regeln durchgesetzt haben. Man sollte sich nicht von Äußerlichkeiten täuschen lassen, aber alles was die Frau von sich gegeben hatte, wie sie gekleidet war und wie sich gegeben hat, ließ darauf schließen, dass sie noch nie eine Demonstration besucht hat und normalerweise eher der Typ ist, der sich lieber auf Tupperpartys tummelt. Vielleicht hat sie erwartet, dass die Polizei ihr die neusten bunten Plastikschüsseln präsentiert und nicht Menschen vom Platz zerrt. Sie griff sich ans Herz und stammelte, dass sie sich niemals habe vorstellen können, wie die Polizei gegen friedliche Demonstranten vorgeht.

 Ich war selbst mehrfach auf Demos. Für mich sind Demonstrationen so etwas wie heilige Prozessionen der Demokratie. Es ist ein gesellschaftliches Ritual mit fest verteilten Rollen. Da ist nun einmal der friedliche Demonstrant, der sich an die Regeln hält und seine politische Haltung innerhalb einer Gruppe zum Ausdruck bringt. Auf der anderen Seite stehen die gewaltbereiten Demonstranten, die mit Absicht die Regeln verletzen, um Unruhe zu stiften. Dazu kommen die Polizisten, die die Staatsgewalt repräsentieren und sich dementsprechend zum Teil mit archaischen und militärischen Habitus gerieren.  Sie schützen die friedlichen Demonstranten, die ihre Meinung zum Ausdruck bringen und üben die Gewalt des Staates gegen Demonstranten, die mit Absicht die Regeln verletzten.

Diese Frau hat ganz klar den Ablauf der heiligen Prozession der Demokratie nicht verstanden. Jemand, der demonstriert und renitent gegen die Regeln verstößt, erwartet eine heftige Reaktion der Staatsgewalt. Die Provokation gehört dazu, um entweder den Ablauf zu stören oder sich als Opfer darstellen zu können.

Davon zu unterscheiden, ist meiner Ansicht nach, das durch das Grundgesetz abgesicherte Widerstandrecht, wenn z.B. der Staat oder die Vertreter seiner Organe, aber auch jede Privatperson, die Verfassungsordnung zu beseitigen versucht.

Darauf scheinen sich auch viele der Demonstranten berufen zu wollen. Sie vergessen aber, dass unsere Staatsorgane im Rahmen der Pandemie nicht grundsätzlich die Verfassungsrechte angreifen oder aussetzen, sondern nur mit besonderen Regeln im geringen Maße für den Zeitraum der Pandemie einschränken. Jeder kann demonstrieren, allerdings mit Maske und Abstand.

Aber genau das führt zurück zu meinem Ausgangspunkt. Man will den modernen Staat nicht anerkennen oder hat ein falsches Verständnis von Staat und kann im besten Falle für unpolitische Menschen, die sich plötzlich angesprochen fühlen, die Opferrolle herausholen.

Und dann kommen noch vegane Köche um die Ecke, die genau wissen, dass sie nur an jeden Satz dran hängen müssen „das ist doch klar! Das musste doch wissen!“ und ihre absurden Ansichten und Handlungen rechtfertigen zu können.

Eine echte Gefahr für unsere Demokratie sind nicht diese üblichen Querschläger, sondern Menschen wie diese Frau, die eine Demonstration mit einer Tupperparty verwechselt hat. Wenn wir diesen Menschen in Zukunft nicht mehr vermitteln können, was innerhalb des modernen Staates angemessen ist und was nicht und welche Vorteile sie auch Zukunft genießen kann, wenn sie nur ein kleines bisschen Freiheit abgibt, müssen wir uns wirklich um unsere Freiheit sorgen.