Frankfurter Buchmesse 2023

Nach einigen Besuchen auf der Buchmesse in Frankfurt kann uns nichts mehr erschüttern und aus der Ruhe bringen. Der Tag fängt immer mit einem überfüllten Zug an. Eine Horde Fußballfans, die sich in Gießen in den Wagen quetschen, vormittags Flaschenbier konsumieren und im dichten Gedränge an ihren Verdampfern ziehen, gehören dazu. Genauso wie die unscheinbare Frau, die morgens um halb zehn genüsslich mit der Gabel in einem kalten Potpourri aus Kartoffeln und Zwiebeln herumstochert, das sie in einem Blechbehältnis seit Tagen gären lässt. Der scharfe Geruch der Zwiebeln steigt mir in die Nase und ich halte ihn stoisch aus. Daneben sitzt die Armada junger Frauen, die sich an ihren New Adult Schinken festhalten und keinen Zentimeter weichen wollen, wenn man im Gang um ein wenig Platz bettelt. Hinter mir piksen mich die selbst gebastelten Schwerter der als Anime-Figuren verkleideten Cosplayer in den Rücken und eine hysterische Person beschwert sich lautstark über den Platzmangel im Gang.  Beim Ausstieg am Zielbahnhof versperren uns alte Herren in verbeulten Anzügen, die seit vierzig Jahren nicht gereinigt wurden, den Weg, weil sie mit ihren verbeulten Lederkoffern in der Hand den Bahnsteig gemächlich entlangtrotten wollen.  Aber das ist ja nur der Anfang. Spätestens wenn man gegen Mittag in Halle 3.0 versucht von einem Ende zum anderen Ende der Halle zu kommen und sich fragt, wo die ganzen Menschen plötzlich herkommen, man 13000 Schritte gelaufen ist, vier Stunden gestanden hat, drei bis vier matschige Wurstbrötchen, die man von zu Hause mitgebracht hat, verschlungen hat, weil man sich das Anstehen an den Ständen und die Mondpreise für das Messeessen ersparen will, man mindestens einmal in Panik gerät, weil man seinen achtjährige Sohn nicht mehr findet, er nach einer aufwendigen Suchaktion an irgendeinem Stand am anderen Ende der Halle wieder auftaucht und so tut als sei nichts gewesen, um dann doch in Tränen auszubrechen, weiß man, dass man auf der Buchmesse in Frankfurt ist.    

Und trotz alledem passieren wir gutgelaunt um 9.45 die Zutrittsschleuse und bewegen uns flott über die langen Gänge, die die Messehallen verbinden, auf die Halle 3.1 und den Stand der Süddeutschen Zeitung zu. Die Hallen sind noch leer und wir bekommen einen guten Platz neben der Bühne. Zwei Minuten später drängelt sich Frau Föderl-Schmid, stellvertretende Chefredakteurin der SZ und Deborah Feldmann an uns vorbei, um auf der Bühne ihre Plätze einzunehmen.

Nur am Rande des Interviews geht es um Frau Feldmanns neues Buch „Judenfetisch“ (ISBN 978-3-630-87751-8, Luchterhand).  Frau Förderl-Schmidt, die selbst in Israel gelebt hat, lenkt das Gespräch schnell auf die aktuelle Situation in Israel. Deborah Feldmann ist ergriffen von den Geschehnissen. Sie sucht nach den richtigen Worten und versucht sehr stark zu differenzieren. Man merkt ihr an, dass sie ihre Perspektive vermitteln will, ohne ihre Meinung den Zuhörer aufzudrängen. Mittendrin appelliert sie an die Zuhörer und fordert sie auf, sich mehrere Meinungen zu dem Thema anzuhören und sich selbst ein Bild zu machen, weil sie selbst befangen ist.

Wenn sie von Hoffnungslosigkeit spricht, glaubt man ihr, dass es aus ihrer Sicht nun keine Chance mehr auf ein friedliches Zusammenleben in der Region gibt und sie spart nicht mit Kritik an der israelischen Politik, die sich in den letzten Jahren von den Ideen des linken Zionismus entfernt hat und sich immer mehr dem biblischen Zionismus zugewandt hat, der kein Raum für Frieden lässt. Sie kritisiert aber auch die deutsche Politik, die sich hinter den Floskeln der Solidarität zu Israel versteckt und keine Taten folgen lässt. Niemand scheint anzuerkennen, dass  Israels Sicherheit nur durch Frieden und Verständigung gesichert werden kann.

Zum Schluss erzählt sie über eine Familie aus einem Kibbuz, die einen Angriff überlebt haben und die vorher jahrelang Kindern aus dem Gazastreifen geholfen hat und nun nicht mehr helfen will. Plötzlich hält Deborah Feldmann inne und es überkommen Trauer und Schmerz. In dem Moment schnürt sich mir der Hals zu. Dieser Konflikt ist so vielschichtig und unbegreiflich für uns und als wir den Stand verlassen, fällt es uns schwer, einfach weiter zu gehen. Im Laufe des Tages kommen wir immer wieder auf das Thema zurück, sprechen in den Pausen darüber und sind uns einig, dass Deborah Feldmann mit ihrer persönlichen und emotionalen Analyse uns die schwierige Situation erhellt hat. 

Nach einer Verschnaufpause gehe ich zum Stand der F.A.Z. um Daniel Kehlmann zu lauschen, der im Gespräch mit Sandra Kegel (Ressortleiterin Feuilleton der FAZ) seinen neuen Roman über den Stummfilmregisseur G.W. Pabst vorstellt. Ich sehe Herrn Kehlmann zum ersten Mal live und Frau Kegel stellt ihn als einer der freundlichsten deutschen Schriftsteller vor. Er wirkt äußerlich nicht wie der Star der deutschen Literaturszene, er könnte glatt als Verwaltungsfachangestellter oder Gymnasiallehrer durchgehen. Er gibt gerne Auskunft zu der Entstehung seines neuen Romans „Lichtspiel“(978-3-498-00387-6, Rohwohlt), der sich um den Stummfilmregisseur G.W. Pabst dreht. Für Kehlmann war die Figur G.W. Pabst interessant, weil er erst nach Hollywood emigriert war, um nach ein paar Misserfolgen nach Österreich zurückzukehren. Pabst hatte den Ruf ein „roter“ Regisseur zu sein, seine frühen Filme waren sehr sozialkritisch. Er stand ideologisch den Nationalsozialsten nie nahe, hatte aber im dritten Reich im Auftrag des Propagandaministeriums  weiter Filme gedreht. Pabst hat den modernen Filmschnitt mitentwickelt und Kehlmann hat neben der Geschichte der Reimmigration die Übersetzung des filmischen Schnittes in Literatur gereizt. Zudem gab es genug Lücken in der Biographie des Regisseurs, die Kehlmann genutzt hat, um sie literarisch auszufüllen. Das Ganze hat er mit fantastischen und surrealen Elementen angedickt.  Das sind alles typische Ingredienzen, die man aus seinen Romanen kennt und zu schätzen weiß. Das Buch werde ich mir auf jeden Fall kaufen. Nach zwanzig Minuten ist der Spaß vorbei und meine Beine zeigten erste Ermüdungserscheinungen.

Die nächste Stehparty folgt sofort. Schlangestehen im Congress-Zentrum, um Cornelia Funke zu sehen. Die Veranstaltung war hoffnungslos überlaufen und man kam noch nicht mal in Sichtweite des Eingangs zum Saal.  Also taumeln wir durch diverse Hallen und landen am Stand von BookTok: Die Plattform bringt viele junge Leser zurück zum angestaubten Medium Buch. Den jungen Lesern ist es auf einmal wieder wichtig, ein Buch als haptisches Produkt zu besitzen.  Und doch ist es wie immer: es gibt viele ältere Menschen, die jungen Menschen vorwerfen, dass sie ihr Zeit nur noch am Handy verbringen und keine Bücher mehr lesen (seltsamerweise kommt der Vorwurf oft von Menschen, die selbst keine Bücher mehr lesen) und wenn sie dann an ihrem Handy Bücher für sich entdecken und daraus auch neue Literatur entsteht, ist es auch nicht richtig. Es ist der ewige Generationenkonflikt, den meistens die jungen Menschen für sich entscheiden. BookTok nimmt auf jeden Fall eine große Fläche in einer Halle ein. Dort kann man an einem Glücksrad ein Buch gewinnen. Die Schlange vor diesem Rad scheint durch die ganze Halle zu reichen. Meine Frau und Meine Tochter stehen vierzig Minuten an. Meine Tochter darf endlich drehen und wie der Zufall es will, kommt das Glücksrad an der richtigen Stelle zum Stehen.  Sie wollte sich „22 Bahnen“ (ISBN 978-3-8321-6803-2, DUMONT) von Corinna Wahl aussuchen, aber der BookTok-Aufpasser hat den Gewinn nicht anerkannt. Er hat wohl nicht richtig hingeschaut und es gab nur eine Stofftasche von TikTok. Wir wittern Betrug und wollen die Chinesen verklagen…Hilft ja nix..

Wir sind zurück in Halle 3.0 in der mittlerweile die Hölle ausgebrochen ist. Es ist erstaunlich wie viele junge Menschen sich dort herumtreiben und ihre Liebe zum totgesagten Medium Buch kundtun. Sogar am Reclamstand, an dem ich in den letzten Jahren einige schöne Bücher gefunden habe, ist die Schlange an der Kasse lang. Vor mir stehen nur junge Damen, die mit gelben Heften bepackt, schüchtern ihre Geldbeutel zücken. Ich bin meiner Tradition treu geblieben und kaufe bei Reclam „Sound of Rebellion“ von Peter Kemper(978-3-15-011324-0) , ein Buch über die politische Ästhetik des Jazz für 38 EUR und zwei rote Bücher mit italienischen Liedern und Sprichwörtern.

Ich wechsle wieder in Halle 3.1 und muss Umwege in Kauf nehmen, weil Ordner die Menschenströme zu lenken versuchen und einen nicht mehr überall durchlassen. Neben den F.A.Z.-Stand hat sich der Katapult-Verlag breit gemacht. Letztes Jahr war der Verlag noch eine frische und interessante Erscheinung am Verlagshimmel. Nun ist er pleite. Auch dieser Umstand wird mit widerborstigem Humor zu Schau gestellt. Letztes Jahr hatte ich das Buch über PhilosophInnen mit einem Alkoholproblem an dieser Stelle empfohlen, aber nicht gekauft. Kurz habe ich überlegt, ob ich das Buch jetzt kaufe, bevor der Verlag endgültig pleite ist und man das Buch nicht mehr bekommt. Die Tatsache, dass es noch einen zweiten Teil gibt (Die Kaputten, s.u.), hat mir die Entscheidung noch schwerer gemacht. Ich hatte aber bei Reclam mein Buchbudget schon überschritten und mich gegen den Erwerb der Bücher entschieden.

Während ich am SZ auf Terezia Mora warte, die gleich ihr neues Buch „Muna“ (ISBN 978-3-630-87496-8, Lucherhand) vorstellen wird, starre ich auf meinen Handybildschirm und spüre meinen Schmerzen in den Oberschenkeln und Waden nach. Das Stehen kostet mich Kraft. Plötzlich schiebt mich jemand zur Seite. „Können Sie mal Platz machen?“ Die Redakteurin, die Frau Mora gleich interviewen wird, geleitet Frau Mora durch die Menge. Als nächstes sehe ich die Rückseite der Autorin, die ihren Körper in Richtung Publikum dreht und das Vorgehen der Redakteurin kommentiert.

„Ja stimmt, man kann ja die Menschen auch mal fragen, ob sie Platz machen.“

Ich sehe Frau Mora zum zweiten Mal auf einer Buchmesse und wie beim letzten Mal bietet sie einen kurzweiligen und tiefsinnigen Einblick in die Entstehungsgeschichte ihres neuen Romans. Frau Mora berichtet über Schreibkrisen, die ihre Agentin noch befeuerte, in dem sie für die Autorin einen Vertrag über drei Romane abgeschlossen hatte. Frau Mora hatte keinerlei Idee für neue Bücher. Die Agentin empfahl ihr einfach abzuwarten, da sich ja die Ideen von selbst ergeben werden. Bald hatte Frau Mora die Idee, eine Trilogie über Frauen zu schreiben. Zum ersten Mal hatte sie in einem Roman die Geschichte aus Sicht einer Frau erzählt. Die Tatsache scheint sogar Frau Mora zu erstaunen. Muna ist eine patente und starke Frau, die sich einem Mann hingibt, der kalt und unnahbar scheint. Sie begibt sich in eine toxische Beziehung, die ihr Leben von nun an bestimmt. Frau Mora unternimmt den Versuch, zu ergründen, warum Frauen freiwillig in solche Abhängigkeiten begeben und sinniert auskunftsfreudig über ihre Gedanken zu dem Thema. Nachdem ich alle drei Romane der Darius-Kopp-Trilogie gelesen habe, werde ich auch diesen Roman und alle weiteren Romane der neuen Trilogie lesen.

Ich war mir nicht sicher, ob ich im Anschluss Bov Bjerg am SZ-Stand zuhören sollte. Ich ging davon aus, dass meine Beine nach einer weiteren dreiviertel Stunde unbewegten Stehens dann endgültig zu Schmerzsäulen erstarren. Obwohl ich den Autor gerne mal live erlebt hätte, weil ich seinen Roman „Serpentinen“ damals verschlungen habe und die Beschreibung seines neuen Buches „Der Vorweiner“ echt schräg und skurill klingt, hat er sich doch diesmal an eine Dystopie gewagt, lasse ich das Gespräch am SZ-Stand aus und vereinige mich wieder mit meiner Frau und den Kindern, um im zweiten Stock des Forums den Pavillon des Gastlandes Slowenien zu besuchen. Ich sehe nicht viel von Slowenien, weil ich mich sofort auf einen Hocker fallen und mich von meiner Frau mit Zartbitterschokolade füttern lasse, die von netten Slowenen kostenlos an Besucher verteilt werden.

Im Erdgeschoß des Forums laufen wie immer ohne Unterbrechungen Podiumsdiskussionen und Interviews von ARD, ZDF und 3Sat. Als wir aus Slowenien zurückkommen, reden Isabel Schayani, Sineb el Masrar, Jagoda Marinic gerade über das allgegenwärtige Thema, Migration und Integration.  Dazu muss ich nicht viel sagen, denn man kann sich alle Gespräche in den Mediatheken anschauen.

Es folgt ein absoluter Themenbruch: Otto Waalkes betritt gemeinsam mit Bärbel Schäfer die Bühne, deren dunkle Vergangenheit als Moderatorin eine Thrash-Talkshow im Privatfernsehn fast genauso wenig wie der altbackene Humor von Otto Waalkes zu ertragen ist. Aber Irgendwie haben sich beide  in die Gegenwart gerettet und scheinen nun geläutert zu sein.

 Auch Otto hat ein neues Buch veröffentlicht, in dem er 75 große Meisterwerke der Kunstgeschichte den Ottifanten untergejubelt hat. Meine Tochter fragte mich, ob das der Kerl mit den schwulen Schlümpfen sei? Eine Freundin von ihr stünde total auf Otto. Äh? Schwule Schlümpfe? Stimmt, da war was….Ja, das ist er! Otto kann man ja total blöd finden. In meiner Kindheit war er schon das Maß für bitterbösen Humor, auch wenn er immer kalauernd und blödsinnig daher kam. Was ich an Otto noch nie leiden konnte: Es gibt ihn in der Öffentlichkeit nur als seine eigene Kunstfigur und ich war positiv überrascht, dass er für seine Verhältnisse sehr ernst über sein Buch gesprochen hat. Aber das kann man sich auch in der ZDF-Mediathek anschauen.

Am späten Nachmittag ist in Halle 3.0 mittlerweile Ruhe eingekehrt. Der große Andrang ist vorbei. Für meine Frau und die Kinder ergibt sich die letzte Chance zum Bücherkauf. Für meinen Sohn musste es ein Fußballbuch sein. Meine Tochter holte sich, nachdem man ihr den Gewinn des Buches am Booktok-Stand verwehrt hatte, „22 Bahnen“ von Caroline Wahl bei Dumont. Meine Frau hat den Roman von Deborah Feldmann bei Penguin Random House gefunden und gekauft.  

Als letzte Veranstaltung haben wir uns im Forum noch das Interview von Cornelia Funke mit Bärbel Schäfer als Rausschmeißer gegeben. Frau Funke hat lange in der USA gelebt, ist jetzt in die Toskana gezogen und nach sechzehn Jahren zum ersten Mal auf der Buchmesse. Ich kann nicht behaupten, dass ich sie vermisst habe. Ich finde sie als Person wie als Autorin total überbewertet. Ich kann ältere Frauen nicht ausstehen, die so tun als seien sie innerlich Kinder geblieben. Auch wenn sie über irgendwelche aktuellen Themen spricht, klingt sie leicht naiv. Aber das ist meine subjektive Meinung und wer sie nicht teilt, ist herzlich willkommen.

Genervt von Frau Funke und meinen Beinschmerzen nahm ich gerne den Vorschlag meiner Frau an, sich zu beeilen, um noch den übernächsten Zug nach Hause zu bekommen. Der Zug war leer und wir bekamen alle einen Sitzplatz. Ich atmete einmal tief durch und biss in meine Ditsch-Brezel. Wieder einmal haben wir eine Buchmesse entspannt hinter uns gelassen.

Reihe 3, Platz 58 und 59 – Tyll

Ähnlich wie Daniel Kehlmanns Roman ist die Theateradaption keine leichte Kost. Geht es doch um nichts mehr oder weniger als den dreißigjährigen Krieg: das kollektive Trauma, das auch heute noch seinen Widerhall in der Wesensschau der Deutschen findet. Um das äußerst anstrengende Thema zu verhandeln, nimmt sich das Stadttheater die Freiheit heraus, dem Zuschauer mehr als drei Stunden seiner wertvollen Zeit zu klauen. Könnte man doch in der gleichen Zeit so viele wichtige Dinge erledigen, anstatt sich lauwarm aufgebrühte Literaturvorlagen, die doch eh schon jeder kennt, als Bühnenbearbeitung anzuschauen. Mit dieser Haltung habe ich meinen gewohnten Platz in Reihe 3 eingenommen und mich gefragt, ob ich vor oder nach der Pause einschlafen werde. Ich habe das Buch voller Aufmerksamkeit gelesen. Herr Kehlmanns Kunst komplexe historische Geschehnisse am Schopfe zu packen und aus mehreren Perspektiven von unten und von oben zu betrachten und mit griffiger Sprache für den Leser zu erhellen, ist schon einzigartig. Nach der Pause hatte ich erwartet, dass die Reihen sich leeren, weil einig von Langeweile geplagte Bürger verärgert den Heimweg angetreten waren. Genauso wenig wie ich eingeschlafen bin, sondern hellwach bis zum Schluss mitgefiebert habe, haben die meisten Zuschauer durchgehalten und die Aufführung mit mehr als braven Applaus goutiert.

Das Buch lebt vom weiten Handlungshorizont, der Unzahl an Personen, die teilweise einen echten historischen Hintergrund haben. Die Theateradaption kann sich nicht allen Handlungssträngen und Anekdoten widmen und konzentriert sich auf zwei Kernelemente. Das ist einmal der Blick auf die einfachen Leute, die eigentlichen Opfer des Krieges, die Bewohner der Städte und Dörfer, die heimgesucht werden von Soldaten und Söldnern verschiedener Kriegsparteien. Das Leben besteht für sie nur aus purer Angst, harter Arbeit und fader Grütze. In dieser Welt wächst Tyll Ulenspiegel als Sohn eines Müllers auf. Schon als Heranwachsender gelingt es ihm zu überleben und jegliche Gefahr zu überwinden. Er entdeckt sein artistisches Talent und als der Vater gehängt wird, weil herumfahrende Jesuiten ihn aufgrund seiner kauzigen Art und seiner Wissbegier für einen Hexer halten, haut er mit der Bäckerstochter Nele ab. Tyll wird zum bemerkenswerten Mythos, zum Überlebenskünstler, der den dreißigjährigen Krieg überdauert.

Ein anderes Kernelement der Handlung drehte sich um den Winterkönig, Friedrich der V. und seine Gemahlin Elisabeth, genannt Liz. Der Winterkönig, der Kurfürst der Pfalz, der sich dazu breitschlagen lässt, die Königskrone der Böhmen anzunehmen und sich damit gegen den deutschen Kaiser stellt, stellt den Ausgangspunkt des dreißigjährigen Krieges dar. Hinter ihm steht seine Ehefrau, eine Stuart, die sich nach ihrer Heimat zurücksehnt. Die kurze Herrschaft über Böhmen endet mit dem Gang ins Exil. Friedrich und Liz gelingt es nicht, den Hofstaat aufrecht zu erhalten und eine angemessene Heimstatt zu finden. Sie weinen dem alten Glanz hinterher und warten darauf, dass der englische König, der Vater von Liz, ihnen mit Truppen zu Hilfe eilt. Aber vorher finden sich Tyll und Nele am Hof des Winterkönigs ein, um sich als Hofnarren anzudienen. Tyll schließt mit dem Winterkönig eine Wette ab, dass er dem Esel das Lesen beibringen könne und Liz ist genervt von der sarkastischen aufdringlichen Art der beiden. Als der Winterkönig zum König Gustav Adolf reist, um sich von ihm helfen zu lassen und dieser ihn abblitzen lässt, stirbt er auf der Rückreise an der Pest. Fortan gilt Liz ganze Kraft der Rehabilitation ihres Mannes, um die alte Kurfürstenwürde zu retten.

Am Ende des Stückes trifft man sich in Osnabrück um den westfälischen Frieden auszuhandeln und den Krieg zu beenden. Liz tritt dort an, um sich in einer verzweifelten Aktion die alte Macht zurückzuholen, um sie an ihre Kinder weiter zu geben. Dort trifft sie auf Tyll, der mittlerweile zum Hofnarr des Kaisers aufgestiegen ist und bietet ihm an, ihn mit nach England zu nehmen, damit er dort in Frieden seine letzten Jahre verbringen kann. Tyll schlägt das Angebot aus.

Esra Schreier als Nele, deren gelungenes Spiel im besonderen Maße sichtbar wird, wenn sie an der Kante der Bühne steht und ihre Mimik sprechen lässt. Tom Wild, der sich als irrer Vater verausgabt, wenn er sich ständig mit dem Gedanken beschäftigt, wann ein Weizenhaufen kein Weizenhaufen mehr ist, wenn man ein Korn nach dem anderen wegnimmt und beim Verschlingen der Henkersmahlzeit erkennen muss, dass er sein ganzes Leben lang gehungert hat und es sich dann lohnt, für eine Hammelkeule mit etwas Salz und einem Hauch von Pfeffer hingerichtet zu werden. David Moorbach als Tyll, der mit lässiger Körperlichkeit den älteren Tyll einsam und zynisch über die Bühne wandeln lässt. Frau Minetti, die ich nicht nimmer gut finde, aber diesmal als Liz glaubhaft ihren verzweifelten Kampf um Anerkennung spielt. Eine kompakte Ensembleleistung, die manchmal gefährdet zu sein scheint, wenn das Groteske, das dem Buch schon innewohnt, ins Alberne abrutschen könnte.

Der Schauspielkunst wird durch das spartanische Bühnenbild viel Raum gegeben. Kein Firlefanz lenkt vom nackten Bühnenraum ab. Das Bühnenbild besteht aus Rampen, die man aus Palletten zusammengebaut hat und die mal auftauchen und im Bühnenboden wieder verschwinden. Die Vorhanghalterungen werden in Bewegung gesetzt, um Chaos oder zur Not auch mal ein Mühlrad darzustellen. Wenn es laut werden soll, fährt ein Blech von der Decke herunter und wird mit Schuhen oder Säcken beworfen. Der Schluss wird zum besonderen Highlight, weil Tyll über den Bühnenausgang ins Freie schreitet. Er verschwindet im grellen Gegenlicht eines Scheinwerfers. Bis auf Liz und Friedrich im kitschigen blauen Kostüm eines Faschingsprinzenpaares, ausgestattet mit blauen Blinkediadem und ähnlichem Tand, bleiben die Kostüme schlicht und einfach und dienen mit simplen und effektvollen Einfällen der Hervorhebung einzelner Charaktereigenschaften (z.B. wird Pirmin durch verdeckte Stelzen übermächtig groß).

Man wird dem Kehlmann gerecht, wenn man sich als Stadttheater auf das Wesentliche konzentriert. Schwierig ist der schmale Grat, das Groteske im menschlichen Verhalten mit beißenden Humor zu zeigen, um die Abgründe und Dummheiten der Menschen aufzuzeigen und nicht sich auf Albernheiten zu werfen. Natürlich gibt es Längen in dem Stück, was schade, aber kaum zu vermeiden ist. Meines Erachtens hätte sich die Szene um die Hinrichtung des Vaters in einer kürzeren Variante durchaus zu einer angenehmen Verkürzung des Stückes beigetragen, ohne ihm irgendetwas weg zu nehmen.

Am Ende des Abends hatte ich ein ähnliches Gefühl wie bei der Lektüre des Buches. Der dreißigjährige Krieg mag eine monströse Veranstaltung gewesen sein, der heutzutage gerne als Ränkespiel der Mächtigen in den Geschichtsbüchern steht, aber das eigentliche Drama des dreißigjährigen Krieges liegt darin, dass die Herrschaften des Adels und des Klerus mit den einfachen ohnmächtigen wehrlosen Untertanen ein böses Spiel getrieben hat und die Menschen diesem Spiel auf Gedeih und Verderb ausgesetzt waren.

Buchmesse Frankfurt – 5 Bücher für meine Wunschliste

Noch immer steht das bedruckte, als langweilig verschriene, analoge Papier im Mittelpunkt einer Buchmesse. In Szene gesetzte farbige Pappdeckel mit schicken Layouts animieren mich zum Hinlangen und Schmökern. Hier die fünf Bücher, die ein starkes Verlangen nach Lektüre derselben in mir ausgelöst haben. Ich muss sie lesen und deswegen landen sie auf meine Wunschliste.

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Marc-Uwe Kling kenne ich als Verfasser der Kanguru-Chroniken. Saukomische und teilweise abstruse Geschichten um ein sprechendes Kommunisten-Beuteltier. Er bekommt ganz bestimmt niemals den deutschen Buchpreis, aber dass er es wagt, eine Zukunftsroman zu schreiben mit hoffentlich dem gleichen Humor wie die Känguru–Chroniken, macht ihn wahrscheinlich nicht nur für mich interessant.

Herr Kehlmanns letzter Roman „Du hättest gehen sollen“ war ein kleiner Spätstarter. Obwohl schon bei der letzten Buchmesse präsentiert, hat man ihn erst Anfang des Jahres so richtig wahrgenommen. Ein schmaler Band mit einer Gruselgeschichte, die weitab von der üblichen Kehlmannprosa gezeigt hat, welche literarische Klasse der Mann zu bieten hat, wenn er kann und will. Sein neuer Roman „Tyll“ hat schon vor der Buchmesse vom Spiegel eine sehr lobende und Verkaufszahlen fördernde Rezension erhalten. Leider hat mich diese Werbemaßnahme auch angespitzt. Ich muss das Ding lesen.

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Herr Leggewie schreibt gerne und viel über aktuelle politische Themen. Er macht es sehr wissenschaftlich und fern ab jeglicher Schwarz-Weiß Polemik und daher finde ich ihn sehr lesenswert, gerade für Menschen, die ansonsten sich nicht gerne mit Politikwissenschaften und Soziologie auseinandersetzen.

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Herr Kubrick war nicht nur ein Regiegott, sondern auch ein akribischer Dokumentarist seines eigenen Schaffens. Nur Filmenthusiasten werden sich solch einem Werk hingeben. Um so schöner, dass der Taschen-Verlag es gewagt hat, sich diesem Nischending in einer Veröffentlichung zu widmen.

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Man mag es fast nicht glauben: Aber es gibt Menschen, die ihre Naziideologie ausleben, als habe das dritte Reich niemals aufgehört zu existieren. Frau Benneckenstein ist in einer solchen Familie groß geworden und schildert in diesem Buch das Leben als kleines blondes Nazimädel, dass sich als Erwachsene von der Familie und ihrer Nazisekte lösen konnte.

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