Die meisten Menschen scheinen ein zwiespältiges Verhältnis zur Gesellschaft zu haben. Einerseits profitieren sie von einem funktionierenden Gemeinwesen, scheuen es nicht, es als gottgegeben zu betrachten und in Anspruch zu nehmen. Sie verstecken sich gerne hinter den Institutionen, die für sie die unangenehmen Dinge des Lebens erledigen sollen. Andererseits haben sie aber für die ihre Mitmenschen, Funktionsträger und Vertreter der Institutionen nur Misstrauen und Verachtung übrig. Bei phlegmatischen und neurotischen Zeitgenossen äußert sich diese Ablehnung durch Resignation und gespielter Verzweiflung. Die da oben machen ja mit uns, was sie wollen! Ein anderer Teil dieser Menschen, die ein gespaltenes Verhältnis zur Gesellschaft haben, würde ich als getrieben bezeichnen würde, ergehen sich in einem scheußlichen Aktionismus, ohne überhaupt sich die Mühe gemacht zu haben die Verhältnisse zu analysieren.
An einem Beispiel aus meiner näheren Umgebung möchte ich gerne zeigen, welche Auswirkungen es hat, wenn man diesen Menschen zu viel Wirkungsraum zur Verfügung stellt. Wir leben in einem ruhigen Wohngebiet in mitten einer Stadt mit ca. 52.000 Einwohner. Unser Wohngebiet liegt wie eine Halbinsel zwischen den Flüssen Lahn und Dill. An der Spitze der Halbinsel fließt die Dill in die größere Lahn. An dieser Spitze gibt es einen Parkplatz und einen alten Festplatz, der nicht mehr genutzt wird. Der Festplatz und Parkplatz liegt eher abgelegen jenseits des Wohngebietes und bietet sich für junge Menschen als Treffpunkt an. Menschen unter dreißig haben nun einmal die Angewohnheit, sich zusammenzurotten und von dem Rest der Menschheit abzugrenzen. Menschen über dreißig regen sich gerne und schnell über diese Zusammenrottungen auf. Wenn sich die Aufregung gelegt hat, werden sie meistens sentimental und geben zu, dass sie auch mal jung waren und dann gehörig über die Stränge geschlagen haben. Aber das war ja ein ganz anderes und viel wertvolleres Über-die-Stränge-schlagen. Die jungen Leute von heute haben einfach keinen Sinn mehr für Spaß!! Die spielen ja immer nur an ihren Handys rum. Oh warte, in der Whats-App-Gruppe vom Kindergarten hat jemand was geschrieben!!!
Um auf diesen Parkplatz zu kommen, fährt man eine schmale Straße (Tempo 30 und Einbahnstraße), die direkt an den Gärten der Häuser vorbeiführt entlang, kann über den Parkplatz auf die andere Seite der Halbinsel fahren und muss dann wieder in eine Einbahnstraße (auch Tempo 30) in die andere Richtung auf der Fassadenseite der Häuser entlang fahren. Es gibt keinen anderen Weg, um mit dem Auto zum Festplatz zu kommen. Ein schöner Rundkurs, der durch ein Wohngebiet führt, scheint für gut motorisierte junge Menschen einen gewissen Reiz darzustellen, insbesondere, wenn man sich nicht um Tempobeschränkungen kümmert.
Auch hier das Kommentar der Menschen über dreißig: wir sind früher immer langsam gefahren!!! (in schlechten amerikanischen Comedyserien wird an solcher eine Stelle lautes Gelächter vom Band abgespielt) Dann rechtfertigen Sie sich: Führerschein auf Probe, da ging nix!!! (Wieder Gelächter vom Band).
Sich nicht an Geschwindigkeitsbeschränkungen zu halten ist das eine Problem, das andere Problem ist es, Motoren und Abgasanlagen so zu modifizieren, dass sie, egal bei welcher Geschwindigkeit, einen Krach erzeugen, der einem modernen Passagierflugzeug ähnelt.
Auf dem Parkplatz treffen sich aber nicht nur Tuner, sondern auch diese Mercedes AMG-Typen, die auf illegale Autorennen stehen und gerne mal eine Gerade von fünfzig Metern nutzen, um von null auf hundert zu beschleunigen (in einer 30iger Zone, wohlgemerkt) und andere jüngere Personen, die dort einfach nur rumstehen und sich unterhalten wollen. (Das sind auch Drogen mit ihm Spiel, sagte die Nachbarin mit Alkoholproblem und wankte zitternd nach Hause, weil sie wieder einen Schnaps brauchte, um ihren Pegel zu halten.)
Man kann von Anwohnern nicht erwarten, dass sie soziologische Feldforschung betreiben, um zu verstehen, welche anthropologischen Biotope sich dort im Abseits ihres Wohngebietes tummeln. Die Anwohner differenzieren nicht. Wie auch? Die Anwohner sitzen an einem sonnigen Sonntagnachmittag im Garten und werden von den PS-Protzen aufgeschreckt, die sich mit ihren Düsenjets im Anflug auf den Parkplatz befinden. Oder sie räumen ihren Wocheneinkauf aus dem Kofferraum räumen, hören sie die Motoren hinter sich röhren und bekommen Herzrasen. Mehr sehen und hören sie nicht von den Parkplatzbesuchern.
Wir wohnen seit acht Jahren in diesem wunderbaren Wohngebiet und haben es keinen einzigen Tag bereut. Für uns ist es ein kleines Paradies urbanen Wohnens. Wir haben alles in der Nähe, wir können achtzig Prozent unserer Wege zu Fuß oder mit dem Fahrrad hinter uns bringen und trotzdem leben wir ruhig und naturnah, haben ein schönes Haus und einen großen Garten. Seit dem wir hier wohnen, erleben wir die Diskussion um die Parkplatzbesucher. An der Stelle kehren wir zu meiner ursprünglichen Aussage zurück. Man könnte glauben, jeder in der Nachbarschaft hat das gleiche Interesse: der Krach muss aufhören, die Gefährdung von Verkehrsteilnehmern muss aufhören. Dem ist nicht so. Es gab keinen gemeinsamen Nenner, sondern viele Partikularinteressen mit den unterschiedlichsten Motivationen bzw. nur ein Unbehagen, aber wenig klare Aussagen, was nun eigentlich stört.
Fortsetzung folgt…