
Wetzlar. März 2023. Ca. 20 Personen bilden einen Kreis und lauschen schweigend einem Redner, der seine formelhaften Beschuldigungen herunterleiert. Er spricht mit monotoner Stimme über das gemeinsame Bündnis der Mächtigen und der Presse, die das Volk für dumm verkaufen wollen und das ja mit Corona alles so gekommen ist, wie man es erwartet hat. Etwas abseits passen zwei Polizisten auf. Sie haben nicht viel zu tun und unterhalten sich feixend. Die Querdenker, Coronaleugner oder wie sie sich selbst oft bezeichnen Selbstdenker, feiern immer noch jede Woche in unserer Stadt ihre Messe des selbstgemachten Blödsinns. Die Gruppe hat sich im Laufe der letzten Monate eine eigene Halbwertszeit gegeben. Es nehmen immer weniger Personen teil, aber sie geben einfach nicht auf. Heute Abend haben sie sich am Ende der Fußgängerzone positioniert und weil wir den kürzesten Weg durch den Kreis der Blöden nehmen müssen, nehme ich meine Frau an die Hand und schiebe meine Kinder vor mich her. Mit gesenkten Haupt schleichen wir durch den Kreis und versuchen sie zu ignorieren. Meine Frau kann sich nur schwer zusammenreißen und als wir den Kreis verlassen, sagt sie zu mir: „Ich bleibe ruhig, obwohl es mir schwer fällt, aber du hast immer gesagt, eine Demokratie muss auch die Gegner der Demokratie aushalten können.“
Stadttheater Giessen. März 23. Aufführung Mädchenschule. Der Lehrer nimmt Tabletten gegen seine Angst. Die Ängste verschwinden, aber damit auch jegliche andere Empfindung. Er dreht sich als Rädchen in einer bürokratischen Maschinerie und seine einzige Aufgabe ist, rechtzeitig Zensuren zu verteilen. Das taube Glück der Angstfreiheit ist nur Fassade und führt in eine Sackgasse. Also setzt er die Tabletten ab, die Ängste kommen wieder und er will sich lieber dem Wahnsinn stellen als gar nichts zu spüren. In seinem leeren Klassenraum trifft er auf drei Schülerinnen, die von sich behaupten kurz vor dem Abitur zu stehen, vor fünf Monaten die Schule besetzt und nachdem die Besetzung eskalierte und ein Polizist umgebracht wurde, sich im Keller der Schule versteckt zu haben. Der Lehrer hat noch nie etwas von einer Besetzung der Schule gehört. Außerdem sehen die Frauen, obwohl sie Schuluniformen tragen, nicht mehr wie Schülerinnen, sondern wie Frauen mittleren Alters aus. Der Reiz des Stückes, das in Chile zur jeweiligen Gegenwart spielt, liegt darin, dass die Widersprüche lange ungeklärt bleiben, daraus eine magische Spannung entsteht und sie am Ende zu einem passenden Bild zusammengefügt werden. Dabei spielen Zeitebenen, die ineinander verrutschen eine große Rolle und die Relativität des Augenblicks spült das zeitlose Thema des Kampfes gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit nach oben. Die Autorin stellt die Frage nach autoritären Machtstrukturen und ihre Wirkung auf das Individuum. Chile, das sich bis heute trotz der gefestigten Demokratie immer noch an den Überbleibseln der Militärdiktatur abarbeiten muss, ist der geeignete Hintergrund für die Klärung dieser Frage. Dieselben Schreckensfiguren scheinen immer noch das Sagen zu haben, obwohl schon so lange Zeit vergangen ist. Der Lehrer und die Schülerinnen leiden unter denselben Autoritäten. Während die Schülerinnen den Weg des bedingungslosen Widerstandes beschreiten und den Untergrund vor der Unfreiheit wählen, geht der Lehrer den Weg der Anpassung und geht beinahe zugrunde. Die Frauen sind lebensfrohe, mutige Kämpferinnen, der Lehrer versteckt sich hinter seinem Pflichtgefühl. Im Laufe des Stückes versteht der Lehrer, dass er den falschen Weg eingeschlagen hat. Am Ende zählt nicht die Verantwortung der Erwachsenen, die darin besteht nur zu funktionieren und die Umstände nicht zu hinterfragen, sondern die Verantwortung für eine bessere Zukunft. Die Frauen kämpften für die Demokratie, weil sie damit die Hoffnung auf eine gerechtere Gesellschaft für alle verbinden. Als Zuschauer kann man die Kraft des Aufbegehrens spüren. Die Schülerinnen, überzeugen gespielt von drei erfahrenen Ensemblemitgliederinnen, agieren ruhelos, kraftvoll und reiben sich an dem Hochgefühl der Revolution auf. Rebellion ist Schwerstarbeit, lebensbedrohlich und gleichzeitig beglückend. Das Ziel, Gerechtigkeit für alle, mag unerreichbar sein, aber der Kampf lohnt sich trotz der vielen Entbehrungen, weil es bedeutet, ganz nahe bei sich selbst zu sein und darüber sogar die Zeit zu vergessen.
Ich fühle mich an unsere Gegenwart erinnert und unseren Umgang mit zivilen Ungehorsam. Eine freie und offene Gesellschaft sollte den zivilen Ungehorsam, der auf die bessere Zukunft für alle abzielt, als heilendes Korrektiv betrachtet. Da wo der zivilen Gehorsam auf die Zerstörung der freien und demokratisch organisierten Gesellschaften zugunsten einer autoritären Ideologie abzielt, sollte die Demokratie wehrhaft sein. Nach dem gelungenen Theaterabend habe ich lange darüber nachgedacht. Wenn ich Menschen, die sich auf der Straße festkleben, mit Gewalt begegne, nur weil sie den Ablauf des Verkehrs stören und sie sofort als Terroristen beschimpfe, dagegen aber jahrelang Reichsbürger und ähnliche Demokratiefeinde gewähren lasse und Rechtsextremisten den Weg bis in unsere Parlamenten bahne, muss ich mir die Frage als Bürger gefallen lassen, ob bei uns nicht auch allmählich alle Ebenen verrutschen und wir nicht mehr erkennen, ob es um die Freiheit aller geht oder um das Machtbegehren einzelner Gruppen, die sich in der Minderheit befinden.
Ja, wir müssen die Feinde der Demokratie aushalten, auch wenn sie die Demokratie missbrauchen. Bei den Querdenkern hatten wir Glück, die Pandemie ist vorbei, die Menschen haben andere Sorgen und viele der esoterisch veranlagten Selbstdenker haben sich wieder in ihre Schmollwinkel verzogen, um sich neue fantastische Märchen auszudenken, die sie für die Wirklichkeit halten. Aber das heißt noch lange nicht, dass die Gefahr vorbei ist. Der Abend im Theater hat mich auf den Boden der Tatsache zurückgeholt. Wir dürfen niemals müde werden, wir dürfen niemals den Kampf für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit aufgeben. Wir sind Menschen in der Revolte, egal ob es uns gefällt oder nicht. Die Veränderung ist unser Freund, sie hält uns am Leben. Die Stagnation und das Verharren in alten Verhaltensweisen ist unser Feind, dem wir jeden Tag trotzen müssen.