Die Zukunft strahlt hell und freundlich in die Gegenwart

Sein wir doch ehrlich: niemand gibt gerne seine liebgewonnenen Annehmlichkeiten her. Auch wenn wir wissen, dass unsere Annehmlichkeiten für andere Menschen eine Zumutung darstellen. Wir gleiten gerne mit unseren Monsterkarren über breite Trassen, lassen Orte hinter uns und bewegen uns mit viel zu hoher Geschwindigkeit auf unser Ziel zu. Was rechts und links neben den Straßen passiert, ist uns ziemlich egal, solange wir schnell von einem Ort zu anderen kommen.

In Wetzlar gibt es eine monumentale Hochstraße, die die Stadt in das Wetzlar mit seiner pittoresken Altstadt und das Wetzlar mit seinen Industrieanlagen teilt. Die Hochstraße wurde vor ca. 50 Jahren als Teil der B49 gebaut, die von Limburg über Wetzlar nach Gießen führt. Für die Einwohner dieser Stadt gibt es seitdem keine Vorstellung von einem Leben ohne Hochstraße. Schließlich wird die Stadt nicht nur von seinen Industrieanlagen, sondern auch von seinen Straßen dominiert. Die Hochstraße dient als pulsierende Verkehrsader, die Menschen in die Stadt hinein- und hinausbringt. Der Wetzlarer ist es gewohnt, von Stahlbeton, Asphalt und Blechlawinen umgeben zu sein und plötzlich will man die Hochstraße abreißen. Die Hochstraße, dieses Denkmal der Moderne, in Beton gegossener technischer Fortschritt, stahlarmiert und angeblich unverwüstlich, ist marode und muss abgerissen werden.

In Wetzlar verhält es sich mit dem gesellschaftlichen Diskurs genauso wie überall im Land. Nach der Verkündung des Abrisses, erhob sich sofort ein Sturm der Meinungen. Und wie immer haben alle nur ihre eigenen Belange im Blick. Die Diskussion schwankt wie ein Schiff im Sturm um die Grundpositionen, ich will das alles so bleibt wie es ist, auch wenn ich weiß, dass es scheiße ist und na endlich verändert sich mal was. Es werden irgendwelche Scheinargumente in den leeren Raum hineingeworfen und als sachlicher Diskussionsbeitrag getarnt. Letztendlich reden alle mit sich selbst, anstatt miteinander.  

Die Straße wird abgerissen und in der Stadt entstehen neue Freiräume für Wohnungen, Grünanlagen, Fahrradwege und ähnliches. Allerdings gibt es auch einen Ersatz für die Hochstraße. Denn die vielen Autos werden ja nicht weniger, obwohl das besser für uns alle wäre. Man führt nun den Verkehr vor Wetzlar durch einen neu gebauten Tunnel um Wetzlar herum. Dadurch wird eine Menge Fläche mit Beton und Asphalt versiegelt. Denn kein Politiker, der im Moment etwas zu sagen hat, möchte gerne davon ausgehen, dass weniger Autos in Zukunft auf der Straße fahren. Sobald die Geburtenrate bei uns um 0,1% sinkt, will man Schulen und Kitas schließen, keine Lehrer und Erzieher mehr einstellen. Aber wenn es vielleicht sein könnte, dass man nur den Hauch einer Verkehrswende hinbekommt und doch der ÖPNV ein wenig Verkehr von der Straße nimmt, baut man noch breitere Trassen, neue Brücken und Straßen, die man in vierzig oder fünfzig Jahren entweder erneuern muss oder abreißt, weil der Individual- und Güterverkehr deutlich abgenommen hat.

Nachdem mehrere Bürgerinitiativen und die üblichen Verdächtigen, sich vollkommen für ihre Sache aufgerieben hatten, hat man auf Landes- und Bundesebene Fakten geschaffen: die Hochstraße wird spätestens 2035 nicht mehr sein. Zuerst sprach man von einem Abriss in 2027, aber um den Abschiedsschmerz zu mildern und den Bewahrern des Wohlstandes und der Freiheit, die nun einmal durch Beton, Stahl und Monsterkarren repräsentiert werden, die Möglichkeit zu geben, sich würdig und ausdauernd zu verabschieden, hat man den Abrisstermin um ein paar Jahre verschoben. Aber ehrlich, zehn Jahre sind notwendig, um alle Maßnahmen zu treffen, die den vernünftigen Übergang für die Bewohner und die Verwaltung dieser Stadt ermöglichen. Nach dieser Entscheidung im Jahre 2023 erlahmte der Empörungswille vieler Beteiligter und das Thema geriet etwas aus dem öffentlichen Fokus.

Und dann vor ein paar Wochen erschienen diese zwei Artikel in der Lokalpresse:

Der eine Artikel erzählt von einer Vision, die zu schön klingt, um wahr zu sein. Eine Studentengruppe hat sich im Rahmen eines Projektes den Chancen gewidmet, die sich für die Wohnquartiere in der Innenstadt ergeben könnten: Neue günstige Wohnungen für Familien, ein neues Quartier eingebettet in das alte Viertel rund um den Bahnhof, mit einem Fahrradschnellweg, Carsharing-Angeboten, weniger Autos, viel Grün, viel Nachhaltigkeit. Wenn man weiß, wie in den letzten Jahren Wetzlar städtebaulich entwickelt wurde, erwartet man nichts von alledem.

Nachdem vor ca. 20 Jahren eine viel zu große Shoppingmall auf der anderen Seite der Hochstraße errichtet wurde, ist der Einzelhandel im Bahnhofsviertel völlig zu erliegen gekommen. Die alte Einkaufspassage aus den Achtzigern verlor ihre Mieter und das Kaufhaus machte dicht. Erst einmal hat man jahrelang den Leerstand hingenommen und dann plötzlich wollte man ein neues Quartier entwickeln: Nachhaltiges Leben am Fluss, für Familien mit einer eigenen Kita usw.

Nichts hat man entwickelt. Es wurden zwei Altersheime, drei Wohnklötze und ein absurd großes Parkhaus gebaut. Die Bauten hat ein großes und regional sehr bekanntes Bauunternehmen aus dem Boden gestampft, das darüber Pleite gegangen ist. Seltsamerweise hat das Projekt ein anderes Bauunternehmen übernommen, das alle größeren von Stadt angeschobenen Projekte in den letzten Jahren hat bauen dürfen. Die Wohnungen wurden an wohlhabende Menschen verkauft, die entweder die Wohnungen selbst nutzen oder hochpreisig vermieten wollten. Gleichzeitig hat man an der Stellplatzsatzung und Bebauungsplänen nichts geändert. Das hat man erst gemacht, als schon alle Gebäude standen. Das neue Quartier besteht aus sogenannten Kranhäusern. Kranhäuser verheißen ein Großstadtflair, das als Rechtfertigung für die Großstadtpreise für die Wohnungen dienen kann. Im Moment schafft die Stadt an der Lahn sogenannte Aufenthaltsqualität. Wenn man über den Bauzaun linst, sieht man schon wieder versiegelte Fläche und muss davon ausgehen, dass hier und da ein Alibi-Bäumchen oder Strauch gepflanzt wird. Man hat keine neue Kita eröffnet, aber wenigstens die Stadtbibliothek und der Volkshochschule in der Nachbarschaft angesiedelt und ein wenig Raum für sozialen Austausch geschaffen. An das Gebäude der Volkshochschule hat man noch ein Parkhaus drangeklatscht. Immerhin hat die Stadt im Zuge der Maßnahmen an der Lahn auch den Ausbau des Lahnradweges versprochen, der bisher vielfach durch Autoverkehr unterbrochen wird. Die Parkhäuser werden nicht genutzt. Niemand ist bereit, für Parkraum Geld zu bezahlen. Es gibt ja genug kostenlose Parkmöglichkeiten in der Fußgängerzone. Dort zu parken ist zwar verboten, aber wenn das Ordnungsamt nicht hinschaut, hat man eine super günstige Alternative zu den Parkhäusern. Nachdem die Anwohner sich über Krach und die vielen Falschparkern beschwert haben, will die Stadt nach Jahren das Gewohnheitsrecht der Falschparker brechen und die Fußgängerzone mit Poller absperren.

Jetzt ergibt sich eine neue Chance durch den Wegfall der Hochstraßen und junge Studenten geben sich viel Mühe mit ihren Plänen die möglichen Chancen aufzuzeigen und gleichzeitig steht in dem Artikel, dass die Studenten Baurecht und Eigentumsverhältnisse nicht berücksichtigt haben. Als Einwohner dieser Stadt, der die Entwicklung jetzt zwanzig Jahre beobachtet hat, glaube ich nicht, dass die Entscheidungsträger auf diese Studenten hören werden. Es wird wieder ein Investor sich die Hände reiben, das freiwerdenden Gelände wird verschachert und möglichst gewinnbringend ausgeschlachtet. Von einer städtebaulich den zukünftigen Anforderungen gerechten Entwicklung wird man nicht sprechen können.

Gerade der zweite Artikel gibt mir wenig Anlass, auf die Vernunft der Beteiligten zu hoffen. An diesem Artikel kann man erkennen, dass das es sehr viele Sachzwänge gibt und die Planer der Stadt Wetzlar mit einem hochkomplexen und daher fehleranfälligen Sachverhalt auseinandersetzen müssen. Die sehr ambitionierte Aufgabe, verschiedene Verkehrsteilnehmern gerecht zu werden, nicht zu wissen, welche Verkehrsströme in Zukunft fließen und dabei noch die Belange der Anwohner im Blick zu halten, wird zu Enttäuschung bei den Anwohnern und Verkehrsteilnehmern führen.

Ich bin als Anwohner direkt betroffen. Die neue Verkehrstrasse, die die Hochstraße als Zubringer ersetzen soll, wird ungefähr zweihundert Meter von unserem Grundstück entfernt enden. Die Altenberger Straße und der Weg über die Dillbrücke sind fester Bestandteil unserer alltäglichen Wege. Die Straße ist seit Jahrzehnten zu Stoßzeiten brechend voll. Der Bahnübergang stört jeden Verkehrsfluss und der schmale Übergang über die enge Brücke stellt für Fußgänger und Radfahrer eine große Gefahrenquelle dar.

Jetzt ergeben sich neue Möglichkeiten, um die unangenehme Situation positiv zu ändern. Da ja man davon ausgeht, dass auch in Zukunft das Auto Vorrang haben muss, baut man eine vierspurige Strecke durch eine Kleingartenkolonie, die an einem Platz endet, der schon vor langer Zeit durch eine vierspurige Verkehrsführung verschandelt wurde. Der alte Charme des Neustadter Platzes und des Viertels rund um den Platz wurde vor Jahrzehnten wegbetoniert und man hat die Wohnviertel durch eine Stadtautobahn von der Innenstadt und Altstadt getrennt. Und mit der neuen Planung führt man diese Unart fort. Man hat zwar, wie in dem Artikel erklärt wird, erkannt, dass dieser Weg auch als Abkürzung genommen werden könnte, um die lange Umfahrung der Stadt zu umgehen. Das heißt man sieht die Gefahr, macht aber dagegen nichts, während man den Fußgänger- und Radfahrer mit irgendwelche seltsamen Zufahrten und Rampen abspeisen will, anstatt aus der jetzigen Altenberger Straße eine verkehrsberuhigte Zone zu schaffen, in der Fußgänger und Radfahrer Vorrang haben, weil es dort nur noch Anliegerverkehr geben wird. Die alte Dillbrücke muss weichen, weil man für die neue vierspurige Brücke Platz an der Ecke braucht. In einer erste Vision hatte man auch erwogen aus dieser Brücke eine Brücke für Radfahrer und Fußgänger zu machen. Und wo soll da der Schnellradweg hin, den die Studenten aus dem ersten Artikel als Verbindung zwischen Dill und Lahn als Idee in den Raum geworfen haben?

Als Anwohner beobachte ich die Entwicklung misstrauisch, allerdings nicht ohne Wohlwollen. Ich kann kein vollständiges objektives Bild zeigen, weil ich ein Anwohner ohne Sachverstand bin und ich bin weit davon entfernt, den besserwisserischen Wutbürger aus mir herauszuholen, der mit seinem gefährlichen Halbwissen Planern und der Stadtverwaltung erklären muss, wie es besser geht. Allerdings stehen wir am Anfang einer Entwicklung, die weitreichende Konsequenzen für uns alle haben können. Denn was in Wetzlar geschieht, wird ähnlich an vergleichbaren Orten in der Bundesrepublik geschehen. Es ist eine Zeit der Chancen und sie werden nicht genutzt werden. Denn überall hat sich die Infrastruktur überlebt, weil ihre Nutzungsdauer dem Ende entgegenstrebt. Man muss bestehende Infrastruktur hinterfragen und eine Entscheidung treffen: Modernisieren, abreißen und in alter Weise wieder aufbauen oder vollkommen neu gestalten. Werden die Entscheidungsträgen dabei den Anforderungen der Zukunft gerecht? Werden Klimawandel, Verkehrswende, demografischer Wandel usw. mitgedacht oder werden die kapitalistischen Denkformeln der Vergangenheit, die auf Verbrauch von Ressourcen zugunsten eines individuellen Wohlstandes und einem falschen Verständnis von individueller Freiheit beruhen, einfach in die Zukunft weiter fortgeschrieben. Das sind die großen Fragen, deren Konsequenzen man vor Ort des Geschehens beschreiben sollte. Als direkt Betroffener kann man durchaus mal zum Chronisten werden.

Die Charakterisierung der Hauptpersonen und ihre Vorgeschichte letzter Teil

Der Sprachverlust wird zum Symbol und zum roten Faden der Geschichte. Nacheinander verliert, verlernt oder vergisst jeder in der Familie die Fähigkeit zur Kommunikation. Erst die Mutter durch ihre Depression, dann der Vater durch die soziale Isolation, dann Luisa durch Krankheit oder psychischem Verfall. Letztendlich ist Johanna die Einzige, die ihre Kommunikationsfähigkeit behält. Sie ist das Sprachrohr der Familie und hält somit den Kontakt zur Außenwelt.

Die Vorgeschichte der Eltern wird im Text nach und nach beschrieben. Kerstins Großeltern und Olafs Eltern tauchen sporadisch auf. Ihre Charaktere und Geschichte auszuformen erachte als nicht wichtig, da sie nur Randfiguren sind. Der Großteil der Geschichte spielt in den Jahren beginnend ab dem Einzug in das Haus des Onkels. Deswegen finde ich es wichtiger die Figuren aus dem direkten Umfeld zu modellieren, wie zum Beispiel die Nachbarn usw.

Das Haus des Onkels befindet sich am Rande eines Industriegebietes, das wiederum am Stadtrand liegt. Das Areal wird auf der einen Seite durch die Hauptverkehrsader der Stadt begrenzt, auf der anderen Seite durch das Firmengelände einer Spedition. Ein gewisser Geräuschpegel begleitet den Alltag der Familie Tag und Nacht. Tagsüber kommt von der Straße der Lärm des stetigen Verkehrs und von der anderen Seite, in den Abend- und Morgenstunden der Lieferverkehr der großen LKW`s. Das graue Standrandmilieu zieht gesellschaftliche Randfiguren an. Die Verlierer, Außenseiter, Verrückten, Kranken und Armen der Stadtbevölkerung. Für mich ist es von großer Bedeutung diese Menschen möglichst authentisch zu zeigen. Der Text wird unglaubwürdig, wenn ich in sozialkitschigen Moritaten die Außenseiter als Heilige skizziere. Ich kann nicht sagen, dass ich viele Obdachlose, Alkoholiker, Prostituierte zu meinen Freunden zähle. Natürlich sind in meinem Leben mir problembeladene Zeitgenossen begegnet, die eher am Abgrund als in mitten der Gesellschaft leben. Trotzdem kann ich nicht behaupten, sie in ihrer Lebenssituation über längere Zeit beobachtet zu haben. Mir kann man also leicht vorwerfen, ich wüsste nicht, worüber ich schreibe und letztendlich benutze ich das Schicksal anderer Menschen, um mich als Autor zu profilieren. Es ist in diesem Falle eine verdammte Gratwanderung zwischen Fiktion und Realität und für mich stellt es eine Hürde dar. In anderen Texten habe ich nicht immer aus einer optimalen Perspektive heraus Dinge beschrieben, die ich nicht erfahren habe. Natürlich weiß ich, dass ich nicht wie ein Journalist schreiben muss, der reale Begegnungen und Begebenheiten wahrheitsgetreu darstellen will und die eigene Interpretation hinzufügt, aber auch kenntlich macht. Ich schreibe nicht dokumentarisch und kann mir das Recht herausnehmen, zum Stilmittel der Überhöhung oder Verkürzung zu greifen. Kein Schriftsteller dieser Welt ist gezwungen, das Bewusstsein einer Person in seinen unendlichen Facetten auszuleuchten. Dann gäbe es keine Geschichten mehr, sondern nur noch Psychogramme, die auch ein Psychologe hätte schreiben können. Es gibt diesen Grenzbereich zwischen Fiktion und Wirklichkeit, aus der sich die Verpflichtung des Autors ableitet, die Würde der Figuren und ihre Herkunft zu wahren. Jede Romanfigur hat seinen Urgrund in der Wirklichkeit, in einer oder mehrerer real existierende Personen. Wenn Autoren erzählen, sie haben eine Figur erfunden, lügen sie.

Ich skizziere die Figuren nur kurz, werde aber bei Ausgestaltung meines Textes meine Bedenken in Ehren halten.

Kira: Prostituierte aus Polen, die in einem abgewrackten Nebengebäude ihre Kunden empfängt. Jo und Lu begegnen ihr oft und wundern sich über ihr Erscheinungsbild. Kira steht oft rauchend und in aufreizender Bekleidung vor ihrer Wohnung. Es entsteht eine Art Freundschaft zwischen ihr und den Kindern, die Jahrelang anhält, bis Kira eines Tages einfach verschwindet.

Erhard der Penner, der in abgerissenen Klamotten in der Nachbarschaft abhängt und zumeist eine halbleere Bierflasche vor sich her trägt.

Friedrich, der Schrotthändler, der auf seinem Schrottplatz lebt.

Frau Kowalski, die alte Nachbarin, Rentnerin über achtzig, die schon leicht dement ist und in ihrer Messiewohnung lebt.

Der Hausmeister der Spedition, der die Kinder immer verscheucht und anbrüllt….

Die Frau vom Jugendamt, die nach dem Verschwinden der Mutter die Familie betreuen will und daran scheitert, weil sich Johannas Vater nicht helfen lassen will. Schließlich gibt sie auf.

Die Direktorin der Grundschule: Jo hat trotz aller Widrigkeiten gute Noten. Die Rektorin sorgt trotzdem dafür, dass Jo nur in die Hauptschule/ Realschule kommt, weil sie aufgrund des sozialen Umfelds Jo in eine Schublade steckt und ihr nicht zutraut, aus dem Übel heraus zu kommen.

Ihre einzige Schulfreundin, die sie seit der ersten Klasse begleitet und die sich immer wieder begegnen. Ihre Familie ist das Gegenbild zu Jos Umfeld. Die Eltern sind Akademiker, Aufsteiger, die mit großen Auto und Haus in der Innenstadt protzen und denen das aber nicht reicht. Ihre Tochter soll es einmal noch besser haben und die besten Chancen erhalten und dementsprechend treiben sie ihre Tochter vor sich her. Ihre Tochter wird sich gegen sie stellen.

Somit habe ich schon ein großes Portfolio an Personen. Aus dem Reservoir an Charakteren kann ich mich bei der Entwicklung der kompletten Handlung bedienen. Ich werde aus den Verhaltensweisen der beschriebenen Personen den Plot stricken. Sie sind der Wollfaden, mein Grips und die Tastatur sind die Stricknadeln und ab und zu wird mir eine Masche herunterfallen und ich muss mir etwas Neues einfallen lassen. Das heißt aber auch, dass die eine oder andere Nebenfigur wegfallen wird, andere Personen hinzukommen oder sich anders darstellen, wie oben beschrieben.

Nennen wir die Kinder doch beim Namen

Als nächstes beschäftige ich mich ausführlich mit den Personen. Zwei wichtige Personen habe ich schon genannt und ihnen Rollen zugewiesen. Es geht im Folgenden darum, den Personenkreis zu erweitern und diese Personen lebendig werden zu lassen. Dazu gehören Details wie Namen, Charakterbeschreibungen und die Historie jeder Person. Es ist überaus wichtig, ihnen Leben einzuhauchen und dazu gehören nun einmal auch die Herkunft und die Einflüsse, die einen Menschen prägen. Für mich hat es sich als praktisch erwiesen, eine Art Dossier zu jeder Person zu entwerfen. Dabei erstreckt sich diese Feinarbeit auf Hauptpersonen und wichtigen Nebenfiguren. Alles andere führt zu weit und ist wieder kontraproduktiv. Am Ende entsteht ein eigener Mikrokosmos, der die Grundlage für die Entwicklung der Handlung darstellt. Meine Arbeit beginne ich, indem ich mir einen Kreis an Hauptpersonen überlege. Anfangs sind das drei bis fünf Personen. Nach und nach kommen noch ein paar Hauptpersonen hinzu. In diesem Fall ist es einfach: Im Mittelpunkt steht eine Familie. Also: Mama, Papa, Kinder. Sollen es mehrere Kinder sein? Sohn und Tochter oder nur Töchter? Die Hauptperson soll am Anfang der Erzählung ca. 12 Jahre alt sein. Erfahrungsgemäß sind die ältesten Kinder einer Familie am meisten von Konflikten in der Familie betroffen. Sie fechten viele Konflikte für die jüngeren Kinder aus. Sie sind oft diejenigen, die den Streit der Eltern am ehesten zu spüren bekommen, weil niemand älteres da ist, der sie beschützt und ihnen Rat geben kann. Zumeist haben sie die Verantwortung für ihre jüngeren Geschwister. Also bekommt die Hauptperson ein jüngeres Geschwisterkind an die Seite gestellt. Wir nehmen ein Mädchen, das etwas jünger ist, so etwa sechs bis acht Jahre alt. Die Familie besteht aus einem Vater, Mutter und einer Tochter 12 Jahre alt und einer Tochter acht Jahre alt. Ich modelliere erst einmal diese vier zentralen Figuren und erarbeite mir den Familienkosmos. Die Verbindungen und Vernetzungen zwischen den vier Personen müssen vor dem Schreiben schon deutlich erkennbar sein. Z.B. welche Tochter ist ein Vater- oder Mutterkind? Wie fasst die Mutter ihre Rolle in der Erziehung auf? Ist der Vater mit seiner Position in der Familie glücklich? Wie sieht diese aus? Aber am Anfang steht erst eine ganz banale Angelegenheit: Die Menschen brauchen Namen. Ein heikles Thema. Es gibt durchaus Autoren, die die Namen ihrer Figuren mit einer Symbolik beschweren. Das bekannteste Beispiel: Die Ehre der Katharina Blum von Heinrich Böll. Dazu muss man sagen, dass ich nie ein großer Böll-Fan war. Die meisten deutschen Autoren aus der Nachkriegszeit, egal ob Gruppe 47 oder nicht, langweilen mich auf die eine oder andere Weise. Katharina Blum soll unschuldig und vielleicht sogar etwas naiv klingen, naturnah und rein. Wenn man Angelika Winkler in der Verfilmung sieht, denkt man, dass der Regisseur nicht viel von der Namensgebung gehalten hat. Sie wirkt verstört und gebrochen, anstatt naiv und verletzlich. Mit der Symbolik nehme ich es nicht sonderlich ernst. Es sollten in dem Fall der Familie bodenständige Namen sein. Namen, die typisch zu der Zeit der Geburt der Personen war, verbunden mit einem gewöhnlichen häufig vorkommenden Nachnamen. Dahinter steckt nicht die Überlegung die Namen mit Symbolen oder einer Konnotation aufzuladen. Diese Familie ist nicht aus der Zeit gefallen. Sie soll die Auseinanderentwicklung der sozialen Schichten repräsentieren und deswegen sind es Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die nun einmal nicht Baronin von und zu heißen. Das junge Mädchen wird als Erwachsene für die Ausübung ihres Berufes als Schriftstellerin einen Künstlernamen benutzen, der natürlich abgefahren und interessant klingen muss.

Name der Hauptperson:

Jo (hanna) Sommer Hauptperson Künstlername: Alethea Cumberland

Lu (isa) Sommer Schwester

Olaf Sommer Vater

Kerstin Sommer Mutter

Der Boden, der Dünger und die Saat

 Wie schlägt sich jetzt mein ambivalentes Empfinden für meine Heimat in meinem Text nieder?

Eine Schriftstellerin beschreibt ihre Kindheit in einer Kleinstadt, die in einer ähnlichen Situation wie meine Heimatstadt steckt. Die Stadt bildet den verkeimten Untergrund, auf dem die Probleme einer Familie ungehindert aufblühen können. Ich werde Wetzlar nicht nennen, sondern eine fiktive Stadt erschaffen, die sich in manchen Beschreibungen an Wetzlar anlehnt, aber an anderen Stellen abweicht. Warum dieser Kunstgriff? Ich habe in meinen ersten beiden Romanen genau dieselbe Konstellation gewählt. Ich schrieb über eine Stadt, die ich kenne, die es aber gar nicht gibt. Es gibt mir den Freiraum, manche Umstände auszumalen und zu konstruieren, ohne das zu vergessen, wofür meine Heimatstadt steht. Nehme ich meine Heimatstadt als Symbol, kann ich Akzente setzen und wichtige Elemente überhöhen. Wie ein Maler, der die Farben kräftiger setzt und Lichteinfall überbetont, um auf wichtige Bestandteile seines Gemäldes aufmerksam zu machen.

Die Stadt beeinflusst wesentlich das Drama um die Hauptperson. Ein scheinbarer Glücksfall für die Familie entpuppt sich als absoluter Alptraum. Der Vater der Hauptperson hat ein Haus in der Peripherie der Stadt geerbt. Vorher die Familie in einer der Vororte zur Miete im sozialen Wohnungsbau gelebt. Der Onkel des Vaters hatte keine eigenen Kinder und lebte alleine. Da die Eltern des Vaters auch schon verstorben waren, ist er der gesetzliche Erbe. Er hatte nicht viel Kontakt zu seinem Onkel, alleine schon, weil er als Einsiedler und Kauz verschrien war. Das Haus liegt an der verkehrsreichsten Stelle in der Stadt, inmitten eines Gewerbegebietes, in der Nähe der Bahnlinie. Es ist in keinem guten Zustand. Der Onkel hat jahrelang an dem Haus herum gewerkelt und es nur noch schlimmer gemacht, als es schon vorher war. Das Erbe erweist sich schnell als Last für die Familie. Die Kinder wachsen an einer vielbefahrene Straße in einem baufälligen Haus auf. Um das Haus auf Vordermann zu bringen, reichen die eigenen finanziellen Mittel nicht aus. Der Vater investiert seine gesamte Kraft in die Modernisierung des Hauses. Er scheitert und verliert nach und nach alles. Seinen Job, seine Ehefrau, sein Traum vom Eigenheim. Das Haus ist in dem Zustand und in der Lage nicht verkäuflich. Wie ein Fluch klebt es an der Familie.

Es gibt solche Ecken in meiner Heimatstadt. Straßenverkehr auf der einen Seite, Zugverkehr auf der anderen Seite und mittendrin noch Gewerbegebiet. Und trotzdem wohnen dort Menschen. Gerade an den Ein- und Ausfallsstraßen der Stadt, die Braunfelser und Altenberger Str. gibt es ausreichend solche Ecken. Wenn man die Stadt kennt, wird der eine oder andere behaupten, dass sei alles kein Problem. Irgendwo muss der Verkehr ja durch, irgendwo muss sich Gewerbe stadtnah ansiedeln können. Das gehört zu einer urbanen Umgebung dazu und in einer Großstadt gibt es viel schlimmere Ecken, wenn dann zum Beispiel noch ein Hafen, Industrie und ein Flughafen hinzukommt. Mag alles sein. Wenn man die besagten Gegenden besucht, ist es kein schöner Anblick, es ist für Kinder keine geeignete Umgebung, insbesondere, wenn es zwei Straßen weiter ruhig und schön ist und man auch die entsprechende Infrastruktur vorfindet, wie Spielplätze usw. Es geht auch eher darum, dass dieses Haus als Erbe einerseits eine Last ist und andererseits zur fixen Idee des Vaters wird, der damit die Familie in den Ruin treibt. Die Umgebung ist nur der Katalysator. Läge das Haus in einer ruhigen Ecke, hätte die Familie es einfach verkaufen können. Es ist aber unverkäuflich, weil niemand neben einer Durchgangsstraße und einer Eisenbahnlinie wohnen will und es außerdem in einem fürchterlichen Zustand ist. Grundsätzlich stellt sich die Frage, inwiefern der Mensch auch innerhalb einer urbanen Umgebung das Anrecht auf eine menschenwürdige Umgebung hat, wirtschaftliche Interessen über die Interessen des Einzelnen stehen und der ständige Verbrauch von Flächen und natürlichen Ressourcen überhaupt in einem Land notwendig sind, dessen Bevölkerung in den nächsten Jahren schrumpfen wird. Das sind Fragen, die mitschwingen und auch ihren Ausdruck im Text finden können, aber nicht unbedingt müssen. Diese Entscheidungen trifft ein Autor an anderer Stelle. Es besteht ständig die Gefahr, den Text damit zu überfrachten. Es soll eine Geschichte entstehen, die aktuelle Entwicklungen und gesellschaftliche Problemstellungen wiedergibt, weil diese direkte Auswirkungen auf die handelnden Personen haben.

Randgebiete meiner Heimatstadt Wetzlar – 3 Impressionen

    

Es tut so weh, man mag gar nicht hinschauen

Was hat nun meine Heimat mit der Geschichte zu tun, die ich schreiben will? Die Gegensätze zwischen moderne Industrie und kleinteiliger Architekturhistorie ziehen sich durch die Wohnviertel und machen sich auch zwischen den Menschen breit. In Wetzlar leben viele Leute, die Anteil am gutbürgerlichen Wohlstand in allen seinen Ausprägungen haben, aber es leben dort genauso viele Menschen, die am Rande der Gesellschaft in Armut und sozialer Ausgrenzung ihr Dasein fristen. Die Stadt ist nicht aufgeteilt in arme und reiche Viertel. Vielmehr ist alles vermischt miteinander und die Grenzen fließend. Dort wo die herunter gekommenen Häuser eine gewisse Armut ausstrahlen, kann es in der Nachbarstraße genau umgekehrt sein. Das heißt nicht, dass die Menschen koexistieren, sondern oft verbirgt sich die Armut der Einen hinter dem Wohlstand der Anderen. Die Armut in den Seitenstraßen fällt nicht auf und ist kaum sichtbar, während sich die Reichen hinter hohen Zäunen und Klingeln ohne Namenschilder verstecken. Manchmal erwarte ich ein offenes Gegeneinander.  Da sich aber alle verstecken, kann man den jeweils anderen auch nicht auf die Nerven gehen oder sich von ihm bedrängt oder ausgegrenzt fühlen.

Subtil und kaum spürbar für den oberflächlichen Beobachter herrscht in der Stadt ein eisiges Klima. Wer die städtische Politik verfolgt, erlebt eine einheimische Elite, die unter sich bleiben möchte. In ihrer Vetternwirtschaft begünstigen sie sich gegenseitig und sorgen dafür, dass nichts Neues in der Stadt blüht. Ein heimischer Politiker hat Wetzlar überregional in die Schlagzeilen gebracht, weil er als bildungspolitischer Sprecher seiner Fraktion im Landtag eine wichtige Funktion begleitet und auch gerade in dieser Funktion in vielen Dingen eine neutrale Position vertreten sollte, allerdings in seinem Wetzlarer Hassblättchen, dass alle vier Wochen in den Briefkästen liegt, gegen Moslems, Schwule, Linke und Ausländer hetzt. Über genau den gleichen Politiker ist überall in der Stadt zu hören, dass seine politische Meinung die eine Seite ist, aber die andere Seite ist, dass der Hans-Jürgen immer für einen da ist und auch mal in Wiesbaden Gelder für das persönliche Anliegen besorgt. Also Klientelpolitik ohne Vernunft, die nur der Sicherung der eigenen Machtbasis dient. Ein anderes Beispiel: Wir haben seit langer Zeit in Wetzlar ein Leerstandsproblem in der Innenstadt. Der Einzelhandel hat sich fast vollständig aus der ehemaligen Fußgängerzone am Bahnhof zurückgezogen. Ein Problem, dass viele kleinere Städte kennen. Jahrelang hat man nach einer Lösung gesucht, weil auch dieser Teil der Stadt zu versumpfen droht. Eine leere Fußgängerzone mit Säuferkneipen zieht nur fragwürdiges Publikum an. Irgendwann hatte man die kluge Idee, Bürger mit in den gewünschten Veränderungsprozess mit einzubeziehen. Man hat für viel Geld ein Stadtplanungsbüro engagiert, die die Stärken der Stadt herausarbeitete, dem städtischen Magistrat entsprechende Empfehlungen vorlegte und den Beteiligungsprozess mit den Bürgern begleitete. Grundsätzlich ein gute Idee und gut gemeinte Öffnung des Diskurses, da Ideen von externen Experten solch ein Prozess positiv beeinflussen können. Man ist mit den Bürgern durch die Stadt gegangen und hat Lösungen diskutiert. Einige Dinge wurden im Laufe der letzten Jahre umgesetzt, andere Dinge sind noch nicht umgesetzt und stellen sich teilweise als nicht umsetzbar heraus. Trotzdem hat man die Chance ergriffen, etwas grundsätzlich in der Stadt zu ändern. Klar ist, wenn die Stadtplanung auf die Bedürfnisse möglichst vieler Rücksicht nimmt, ist diese Stadt die Stadt aller Bürger und nicht nur die von wenigen. Auffällig war bei diesem Prozess, dass die größten Widerstände von den Hauseigentümern kamen. Also eigentlich den Menschen, denen es daran liegen muss, dass die Stadt für Außenstehende attraktiv ist. Die Vertreterin von Haus und Grund war bekannt dafür, mit ihren nervigen Einwürfen jede neue Idee zu torpedieren. Ich hatte den Eindruck, in den alten Vierteln darf sich nichts ändern, weil man sich ansonsten mit jungen Menschen oder Familien mit mittleren Einkommen auseinander setzen müsste, die durch die Veränderungen die Chance bekommen, in der Innenstadt sesshaft zu werden. Man hat immer nur gejammert, dass man dem Einzelhandel eine Chance geben muss und die alten Einkaufsstraßen Bahnhofstraße und Langgasse wieder für den Einzelhandel attraktiv gestalten sollte. Das sind fromme Wünsche von Menschen, die der Tatsache verschließen, dass der Einzelhandel als Mieter zwar eine kalkulierbare und interessante Einnahmequelle ist, aber der Einzelhandel sich nun einmal seit Jahren aus den Innenstädten zurückzieht, um in Shoppingmalls unabhängige Einkaufswelten zu schaffen, fern ab der Innenstädte. Der Einzelhandel schafft sich dort effiziente Räume, die genau auf die großen Filialketten zugeschnitten sind. Das kleinteilige wird in unserer Ökonomie nicht als gangbarer Weg betrachtet. Man schafft über Expansion und Größenklassen die größtmögliche Abschöpfung des Gewinns. Das ist nicht schön und jeder heult dem Tante Emmaladen nach und trotzdem gehen alle gerne bei Aldi und Rewe einkaufen. Bei den frommen Wünschen und den halbherzigen Willen zur Veränderung ist es leider geblieben. Sinnvolle Ansätze sind wieder für die alten Eliten umgedeutet worden. In der Folge hat man die Hauseigentümer begünstigt, in dem man an der Lahn Häuser mit teuren Eigentumswohnungen hochzieht, die natürlich nur sehr wohlhabende Menschen als Kapitalanlage kaufen, um sie vielleicht selbst zu bewohnen, aber am liebsten zu vermieten und zwar nur zu den entsprechend hohen Mietpreisen. Man schafft so keine Durchmischung in der Stadt, sondern nur die Aufwertung für das entsprechend wohlhabende Publikum, während die mittleren bis unteren Einkommen sich wieder in die teilweise unattraktiven aber preiswerten Randlagen in Niedergirmes oder Dalheim verziehen. Der Leerstand in der Bahnhofsstraße bleibt. Es gab Ideen, aus der Bahnhofstraße und Lahnhof ein Wohnviertel mit der dazugehörigen Infrastruktur zu schaffen. Mit Parks, Schulen und Kindergärten. Man hätte dafür einige Großkapitalisten quasi enteignen müssen, die den Leerstand verwalten, um sich Abschreibungsmöglichkeiten zu bewahren. Seltsamerweise gehören einige der besagten Objekten Immobiliengesellschaften, die an anderer Stelle mit attraktiven Einkaufszentren Gewinne abschöpfen. Die Bürger werden also mehrfach bestraft. Mittlerweile sind die Mietpreise in der Altstadt auf einem fast unbezahlbaren Niveau und der Plan in der Mitte der Stadt, erschwinglichen Wohnraum zu schaffen, um eine Durchmischung zu erreichen, stellt sich als Idee für Idealisten heraus.

Wir verorten uns jetzt mal

Wir sind aber nicht am Ende der Geschichte. Trotzdem ist es schön zu sehen, dass der Anfang ganz logisch zu einem sinnvollen Ende führt und nichts ist besser, als als Autor schon einmal den Gesamtrahmen der Handlung zu kennen. Bevor ich den Rahmen mit Leben fülle, gibt es noch viele Details zu klären. Wir haben die Zeit geklärt und nähern uns jetzt dem Raum, das heißt dem Ort der Handlung. Alle meine Romane haben meine Heimat als Bezugspunkt. Man möge mir daraus den Vorwurf stricken, dass ich nur das mir Bekannte beschreiben kann. Es steckt mehr dahinter. Natürlich fällt es mir leichter die Umgebung, in der ich lebe, zu erfassen und als Autor literarisch zu reproduzieren. Ich lebe in Mittelhessen und habe hier meine Wurzeln. Nur ein kleiner Teil meiner Familie stammt von hier und trotzdem zähle ich mich zu den Eingeborenen. An der Art wie ich Rede kann man meine Herkunft bestens erkennen. Ich spreche diese weiche labberige hessische Sprachtönung, die zwischen nasalen und nuscheligen Lauten über die hart klingenden Buchstaben hinweg huscht. Den örtlichen Dialekt imitiere ich, ohne ihn perfekt sprechen zu können.

Ich habe niemals an einem anderen Ort gelebt und natürlich, wenn ich Berlin, Frankfurt oder Köln bin, frage ich mich, ob ich dort besser leben könne. Sogar wenn ich an die Nordsee in den Urlaub fahre, frage ich mich, ob ich nicht lieber am Meer leben sollte, anstatt in diesem verwaschenen Klima zwischen Taunus und Westerwald. Und doch kehre ich jedes Mal in das Lahntal zurück und kann es kaum erwarten den Karlsmunt zu sehen oder unsere Straße, die auf einer Halbinsel zwischen Lahn und Dill liegt. Wenn ich aus meinem Wohnzimmer zwischen die Häuser schaue, kann ich den Wetzlarer Dom sehen und wenn ich die Straße herunter laufe, bin ich an der Lahn und sehe die alte Lahnbrücke. Das ist meine Welt und sie ist nicht immer hübsch anzusehen. Wetzlar ist vom Fluch oder Segen, je nachdem aus welche Perspektive man schaut, betroffen eine Altstadt zu haben, die von modernistischer Industriekultur umringt ist. Es ist bezeichnend, dass das höchste Gebäude in Wetzlar nicht der Dom, sondern einer der Türme von Heidelberg-Cement ist, die dieses Jahr fallen sollen. Vor ein paar Jahren hat man das Betonwerk stillgelegt. Es ist fraglich, ob das die mutwillige Zerstörung eines Denkmals ist oder die Befreiung einer Stadt, die seit mehr als einem Jahrhundert von der Industrie dominiert wird. Und genau dieser Zwiespalt macht für mich als Autor die Stadt und die Gegend interessant. Wunderschöne Ausblicke säumen die Höhen über der Stadt. Bei klarem Wetter habe ich das Gefühl, vor mir liegt ein unberührtes grünes Paradies. Ist man unten in der Stadt, zur besten Stoßzeit, drängeln sich die Autos mit aller Gewalt über den Karl-Kellner-Ring in die Braunfelser Straße hinein. Der Krach ist unerträglich und man wähnt sich in einer Großstadt. Fährt man nach Niedergirmes, liegt links das übermächtige Industriegelände der Firma Buderus und rechts der an vielen Stellen unansehnliche Ortsteil, der seinen negativen Ruf nicht wirklich verdient hat. Biegt man ab, fährt an den Rand des Stadtteils kann über eine steile Auffahrt einer der schönsten Aussichtspunkte der Gegend oben auf dem Simberg erreichen. Dann liegt das Lahntal vor einem und man kann sogar über die Industrietürme hinwegsehen.