Austreten – Eintreten / Teil drei

 Nachdem ich bei der Musterung als wehrtauglich eingestuft wurde, hätte ich nach der Ausbildung meinen Wehrdienst antreten müssen. Schon vor der Ausbildung hatte ich den Entschluss gefasst, zu verweigern. Anfang der Neunziger Jahre hat man schon mit wenig Aufwand den Kriegsdienst verweigern können. Man musste einen Aufsatz einreichen, in welchem man seine Gründe für die Verweigerung darlegte. Es gab ausreichend Vorlagen, die die geforderten Formulierungen enthielten und die in der Szene der angehenden Kriegsdienstverweigerer zirkulierten.  Man berief sich auf sein Gewissen, das einem untersagte, eine Waffe gegen andere Menschen zu richten. In diesem Falle war das Gewissen eine eigene Persönlichkeit, die den jungen potentiellen Rekruten quasi paralysierte, wenn er mit einer Waffe auf einen anderen Soldaten zielen wollte. Eine Verweigerung aus anderen Gründen war möglich, aber nicht gewünscht. In der stockkonservativen Welt der atomaren Abschreckung kam es nicht gut, wenn man aus weltanschaulichen Gründen verweigerte. Das war den Gremien zu kompliziert. Einmal im Leben hatte man die Chance in einem nonkonformistischen Akt der Gesellschaft den Stinkefinger zu zeigen und dann musste man doch wieder opportun sein und schön brav den Anforderungen der Gesellschaft gerecht werden.

 Anstatt meinem Gewissen etwas abzuverlangen, was es gar nicht leisten konnte, hätte ich mich viel lieber offiziell dem Soldatentum verweigert. Ich wollte keine Uniform überstreifen, irgendwelche stumpfen Befehle ausführen und den letzten Rest meines menschlichen Verstandes bei jeder Gelegenheit in billigen Flaschenbier ertränken. Das war nicht meine Welt: Kameradschaft, Herumbrüllen, Korpsgeist, im Schlamm kriechen. Ich war ja eher ein Feingeist, sensibel und schüchtern.

 Ich wollte der Bundeswehr mich nicht zumuten. Da gab es genug Altersgenossen, die viel besser dort aufgehoben waren, weil sie sich mit nackten Oberkörper grunzend im Schlamm und Testosteron wälzen und dabei den Helden spielen wollten.

 Aber ich schrieb brav den Aufsatz und schickte ihn weg.

 Meine Anerkennung kam und bald darauf der „Einberufungsbefehl“ zum Zivildienst und ich musste mir eine Stelle suchen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Plätze für Zivildienstleistende rar. Da mein Bruder zwei Jahre vorher schon eine Stelle als Gemeindezivi in der katholischen Kirche ergattert hatte, habe ich mich beim Bistum Limburg beworben. Man hat mir die Stelle gegeben und im Sommer 1993 konnte ich in der katholischen Gemeinde St. Walburgis in Niedergirmes meinen Zivildienst antreten.

 Niedergirmes hat sich in den letzten hundertfünfzig Jahren vom kleinen Dorf in der Nähe von Wetzlar zum klassischen Arbeitervorort entwickelt. Viele Gastarbeiter hatten sich dort angesiedelt und sich neben der Ursprungsbevölkerung etabliert. Der Stadtteil hatte damals einen sehr schlechten Ruf, der z.T. auf  rassistischen Vorurteile gegenüber Gastarbeiter beruhte. Neben diesen zwei Bevölkerungsgruppen gab es noch eine starke Gruppe der Flüchtlinge, die nach dem zweiten Weltkrieg nach Wetzlar kamen, zumeist aus Schlesien, Spätaussiedler aus Polen inbegriffen. Dazu kamen in den Neunziger Jahren neue Flüchtlinge aus der Türkei, Jugoslawien, Afrika und Asien. Die Flüchtlinge lebten im wahrsten Sinne am Rande der Gesellschaft. Ihre Unterkünfte befanden sich zwischen verkehrsreichen Ausfallstraßen und dem Buderuswerken. Niemand nahm Notiz von den Flüchtlingen. Sie lebten in abbruchreifen Häusern, in denen ansonsten niemand mehr wohnen wollte.

 Meine Aufgaben als Gemeindezivi waren sehr vielfältig. Ich sollte mich um ältere Gemeindemitglieder kümmern, sie zu Hause besuchte, ihnen Gesellschaft leisten oder mit ihnen einkaufen gehen.

 Die Arbeit mit Flüchtlingen war relativ neu hinzugekommen und umfasste Besuche der Flüchtlingsunterkünfte, Unterstützung der Flüchtlinge im Alltag, bei Behördengängen und ähnlichem. Die Flüchtlingsarbeit war in der Gemeinde umstritten. Bischof Kamphaus, der mich ein paar Jahre zuvor gefirmt hatte, war mittlerweile zu einer der wenigen kritischen Stimmen innerhalb der katholischen Amtskirche herangewachsen. Zu diesem Zeitpunkt waren deutsche Bischöfe konservative Erfüllungsgehilfen des Stellvertreter Gottes auf Erden. Bischof Kampfhaus war eine Ausnahme. Kamphaus war z.B. der einzige Bischof in Deutschland, der die Beratung von abtreibungswilligen Schwangeren entgegen der Anweisung vom Papst weiter durchführen ließ.

 Zu dieser Zeit war die Stimmung gegenüber Flüchtlingen sehr aufgeheizt. Für viele Menschen und auch Politiker war Flüchtlinge keine Menschen die Schutz brauchten, sondern Asylanten, die in die Sozialsysteme einwanderten und ihren Status als Flüchtlinge missbrauchten, um die Deutschen und ihren tollen Sozialstaat auszunutzen. Damals brauchte es keine AFD, um die Stimmung anzuheizen. Rassismus war Staatsräson. In Hessen gab es CDU-Politiker wie Manfred Kanther (der zu der Zeit Bundesinnenminister war), die Positionen einnahmen, die heute von der AFD vertreten werden. Sogar die SPD hat sich damals nicht mit Ruhm bekleckert, denn als es darum ging, den Asylanten endlich in Schranken zu weisen, in denen man sie schlechter stellte als einen „deutschen“ Sozialhilfeempfänger, stimmte die SPD im Bundestag für das Asylbewerberleistungsgesetz.

 Diese Stimmung gegen Flüchtlinge beherrschte auch den Diskurs innerhalb der katholischen Gemeinde in Niedergirmes. Es gab viele Gemeindemitglieder, die diese Arbeit mit Nichtchristen als unnötig betrachteten und das obwohl viele dieser Menschen selbst die Ausgrenzung als Flüchtling eine Generation früher erlebt hatten. Von dieser Seite bekam ich immer wieder Druck. Dazu kam, dass mein Vorgesetzter, der Priester der Gemeinde, ein ehemaliger Militärpfarrer war.

 Das erste Gespräch mit ihm begann mit der Frage, ob ich wisse, dass er Militärpfarrer gewesen sei. Nach einer kurzen Pause fügte er noch hinzu, dass ich mir ja dann vorstellen könne, was er von mir und meiner Tätigkeit hielte.

 Also hatte ich den Bischof auf meiner Seite und seinen Angestellten und seine Gemeinde gegen mich. Ich war jung, naiv und nahm diese Ablehnung sehr persönlich. Später habe ich begriffen, dass Engagement heißt, im Sturm gegen den Wind anzurennen. Wenn man etwas bewegen will, muss man sich sein Freunde und Feinde erst einmal verdienen.

 Ich habe in der Gemeinde sehr liebe Menschen gefunden, die mich unterstützt haben und die dafür gesorgt haben, dass ich mich auch über weite Strecken sehr wohl fühlen durfte. Ich bin vielen interessanten Menschen begegnet. Ich habe durch diese Arbeit viel über mich und den Menschen an sich gelernt. Die Betreuung durch das Bistum Limburg war einmalig. Es gab jeden Monat ein Treffen der Gemeindezivis, wir hatten zwei wunderbare Seminarwochen und dort habe ich echte Freunde gefunden. Ein Freund aus dieser Zeit ist mir bis heute geblieben. Christian war damals Zivi in Dillenburg und hat nach dem Zivildienst Philosophie, Mathematik und ich glaube Theologie in Siegen studiert und in Philosophie promoviert. Wir sehen uns heute noch mindestens einmal im Jahr und wir haben neben der Philosophie die Leidenschaft für Literatur, das Rauchen von Pfeifen und Zigarren miteinander gepflegt und alleine schon wegen dieser Freundschaft möchte ich die Zeit als Zivildienstleistender nicht missen.

   Durch diese Erfahrung hat sich meine Haltung zur katholischen Kirche zum Positiven geändert. Auch wenn es viel Gegenwind gab, habe ich doch viele Menschen kennengelernt, die weniger die Kirche als Ort gesehen haben, an welchem sie ihren Glauben ausleben können, sondern als gesellschaftliche Institution, die Schwächeren, ungeachtet ihrer Herkunft und ihrer Religion, Unterstützung und Hilfe anbietet. Diese Menschen rückten für mich in den Vordergrund und ließen mich fast dreißig Jahre lang an einen gesellschaftlichen Nutzen der Kirche glauben.

 Die Zeit verging schnell. Ich heiratete eine Katholikin, bekam mit ihr zwei Kinder, die wir taufen ließen. Die Ehe scheiterte und es kam zur Scheidung. Dann lernte ich meine jetzige Frau kennen, die ungetauft ist und noch nie einer Kirche angehört hat. Ich selbst bezeichnete mich mittlerweile als Agnostiker, der die Existenz Gottes nicht als Maßstab für sittliches Handeln sieht, sondern versucht, ein richtiges Leben im falschen zu führen. Obwohl meine Frau und ich in solchen Dingen ähnlich ticken, gibt es zwischen uns beiden einen großen Unterschied. Ich bin nun einmal in der katholischen Kirche groß geworden und hänge mehr an ihren Ritualen, als ich mir eingestehen will. Eine gesetzliche Scheidung hat in der Kirche keine Wirkung und sie straft mich mit Ausschluss von den Sakramenten. Ich hätte nicht gedacht, dass ich diesen armseligen und lächerlichen Anachronismus ernst nehme. Die Kirche schließt Menschen aus, die einen Spagat zwischen Religion und weltlichem Leben hinbekommen wollen. Ich habe mich dem widersetzt, indem ich trotzdem zur Kommunion gegangen bin. Seltsamerweise habe ich mich danach unendlich schlecht gefühlt. Ich habe dann darüber Witze gemacht. Wenn ich die Hostie in den Mund nähme, träfe mich vielleicht der Zorn Gottes in Form eines Blitzes, der mich dann niederstreckt. Die frühe Begegnung mit den Riten der Kirche hat mich mehr beeinflusst als mir lieb war. Dieses miese Gefühl habe ich viele Jahre mit mir herumgeschleppt und jeder, der mich gefragt hat, warum gerade ich noch in der katholischen Kirche bin, bekam zur Antwort, dass ich nun einmal katholisch erzogen sei und ich im Zivildienst eine lebensnahe Kirche erlebt habe. Ich habe auch immer von Bischof Kamphaus und seinem Engagement geschwärmt. Meine Hoffnung war, dass dieser Typus Mensch irgendwann in der katholische zu Macht gelangt, um sie zu reformieren.

 In den letzten Jahren ist viel passiert, aber die Katholische Kirche trotzt allen Reformen. Wir haben einen deutschen Papst bekommen, der noch konservativer war als sein konservativer Vorgänger. Bischof Kamphaus hat man durch einen geltungssüchtigen und scheinfrommen Bischof ersetzt, der viel Geld für Dienstwagen und eine Residenz ausgegeben hat und dann auch schnell wieder gehen musste. Der fürchterliche Missbrauch vieler Kinder und Jugendlichen durch Priester kam ans Tageslicht und damit die Erkenntnis, dass die katholische Kirche ein eigener Staat im Staat ist, der aber gerne die weltlichen Kirchensteuern und Subventionen vom säkularen Staat kassiert.

 Aber auch das habe ich jahrelang beobachtet und daraus keine Konsequenzen gezogen. Im Gegenteil: ich habe die Gemeinschaft der katholischen Christen noch verteidigt, weil ich mich an die Hoffnung auf Reformen klammerte. Als ich zum ersten Mal vom synodalen Weg gehört hatte und dem Ansinnen einiger deutscher Bischöfe bedeutsame Reformen in der Kirche anzustoßen, habe ich gedacht, dass jetzt eine Veränderung kommt, die mein Beharrlichkeit rechtfertigt. Man hat lange und viel miteinander diskutiert und in Rom hat man die Bemühungen einfach abgetan. Man will keine zweite evangelische Kirche sein. Die katholische Amtskirche möchte der exklusive Club alter Männer im Rock bleiben, die ihre unverständlichen Riten bis zum Ende aller Zeiten pflegen wollen, entgegen den Menschen und ihre Belange.

 Dann war ich dieses Jahr auf einer Gewerkschaftsveranstaltung zum 1. Mai und musste erleben, wie Rechte von AFD, NPD und Querdenkern die Redner niedergebrüllt haben. Man konnte sich nur schwer dem Hass und der Hetze entziehen. Wir haben uns machtlos gefühlt.

 Das hat in mir einen Denkprozess angestoßen. Warum unterstützte ich einen menschenverachtenden, undemokratischen Club wie die katholische Kirche, wenn auf der anderen Seite unsere Demokratie und ihre Vertreter von undemokratischen Schreihälsen in Frage gestellt werden. Dann stand der Entschluss fest: nach zweiundfünfzig Jahren verlasse ich die katholische Kirche und trete in die Verdi ein…wahrscheinlich viel zu spät…aber hoffentlich noch rechtzeitig.

Austreten – Eintreten / Teil zwei

Während der nächsten Jahre hielt ich mich von katholischen Messen fern und während der Pubertät weitete sich mein Horizont. Es gab bei uns im Ort eine große evangelische Gemeinde. Die evangelische Kirche vermittelte eine zeitgemäße und lockere Haltung zum christlichen Glauben. Es gab Pfarrer und Pfarrerinnen, die auch noch eine Familie hatten, coole Jugendbetreuter und Konfirmationsfreizeiten, die eher Klassenfahrten glichen. Viele meiner Altersgenossen hatten ein entspanntes Verhältnis zur Religion. Die Konfirmation war eher der Tag des ersten Vollsuffs als der Tag der religiösen Erweckung.

  Zwischen dem dreizehnten und siebzehnten Lebensjahr gab es für uns Jungs nur drei Themen: Fußball, Alkohol und Mädchen. Man traf sich mit Freunden auf den Spielplatz, um sich bei Flaschenbier gegenseitig die Säcke vollzumachen. Mitte der Achtziger schien auch das Leben der Erwachsenen nur aus Arbeit und Konsum zu bestehen. In dieser Welt war wenig Platz für die großen Fragen. Über Politik und Religion sprach man selten. Es waren wilde Zeiten: Aids, Tschernobyl, Startbahn West, Nato-Doppelbeschluss, Kalter Krieg, Hunger in Äthiopien. Alle das schien auf einem anderen Planeten stattzufinden. Falls unsere Eltern mit anderen Erwachsenen über das Weltgeschehen sprachen, dann in kleinen konspirativen von Zigarettenrauchnebel umwobenen Zirkeln, bei einem frisch gezapften Bier, beim Sport und in der Kneipe.

 Meine Eltern sind misstrauische und unsichere Persönlichkeiten, deren Gläser eher halb  leer als halb voll sind. Ihnen ein ausgeprägtes politisches Bewusstsein zuzuschreiben, wäre zu weit gegriffen. Aber sie hatten eine konkrete Vorstellung vom mündigen Bürger, der sich gefälligst mit Politik auseinander zu setzen hatte. Aufgrund ihrer Bildungshistorie war es auch nicht zu erwarten, dass es Ihnen einfach fiel, sich komplexes Hintergrundwissen über das Weltgeschehen anzueignen. Mein Vater ging nach acht Jahren Volksschule in die Lehre und meine Mutter hatte nach der mittleren Reife eine kaufmännische Ausbildung gemacht. Sie waren nicht in der Lage als zur Verfügung stehenden Informationsquellen anzuzapfen, aber sie vermittelten mir, dass man mit wachen Blick die Geschehnisse in der Welt wahrnehmen muss. Meine Eltern schauten abends die Nachrichten im Fernsehen, lasen morgens beim Frühstück die Tageszeitung, im Hintergrund liefen im Radio die Nachrichten. Meine Eltern lasen zudem den Stern und später auch den Spiegel.  

 Zum Erwachsenwerden gehörte bei uns in der Familie die politische Diskussion am Küchentisch. Je älter ich wurde, je mehr ich meine eigene politische Meinung entwickelte und artikulieren konnte, desto hitziger wurden die Debatten am Küchentisch. Mein Vater hätte sich nie einer politischen Richtung zugeordnet. Er wusste, was er nicht sein wollte: Rechts. Meine Eltern sind Demokraten durch und durch und sie hätten es nie geduldet, wenn ich rechte Tendenzen gezeigt hätte. Meine linken Tendenzen konnte sie aushalten, aber nur unter Schmerzen. Die Sozis waren nur geduldet. Sie nahmen es der SPD übel, dass sie gerne ihnen, die hart für ihren Wohlstand arbeiten mussten, Geld durch Steuererhöhungen wegnahmen, um es für soziale Wohltaten zu verwenden. Dort beim Mittagessen, am Frühstückstisch in der Diskussion mit meinem Vater, habe ich gelernt zu diskutieren, andere Perspektiven anzuerkennen oder meine Meinung mit Argumenten zu untermauern. Ab dem neunten Schuljahr entwickelte ich mich zum Klugscheißer. Ich wollte jede Debatte gewinnen. Also eignete ich mir Wissen an, versuchte historische Kontexte zu erfassen, sie einzuordnen und zu vergleichen. Ich habe bei meinen Eltern gesehen, dass sie zwar intuitiv sich eine Meinung bilden konnten, aber sehr leicht zu manipulieren waren. Für meine Generation war der Erwerb von Wissen kein Luxus mehr. Politische Bildung war ab der achten Klasse Teil des Schulunterrichtes. Leider haben nicht alle meine Altersgenossen ihren Vorteil erkannt. Das Ideal der Aufklärung hatte sich in den siebziger und achtziger Jahren vollkommen entfaltet, wurde aber gleichzeitig vom Ideal des Kapitalismus überstrahlt. Für viele meiner Altersgenossen stand der zügellose Konsum im Vordergrund und Wissen war nur etwas für picklige und hässliche Spinner. Man kokettierte gerne mit seiner Unwissenheit und stempelte Menschen, die freiwillig in ihrer Freizeit Bücher lasen, als Langweiler ab.

 In unserer Schule gab es doch einige Lehrer, die in den späten Sechzigern, frühen Siebzigern studiert hatten und an denen die Studentenbewegung nicht spurlos vorbeigegangen war. Mein Deutschlehrer war so ein Mensch: ein Hüne, der stets schwarze Rollkragenpullis, lange fettige Haare und einen Rauschebart trug. Er war streng, zynisch und elitär. Aber immer darauf bedacht in großen Zusammenhängen zu denken. Ich hatte keine guten Noten in Deutsch, blühte trotzdem völlig bei ihm auf. Dieser Lehrer wurde zu meinem großen Vorbild, da er anscheinend alle existierenden Bücher gelesen und verstanden hatte und ein Charisma besaß, das nicht nur mich inspirierte

 Spätestens beim Übergang zur Oberstufe hatte ich Blut geleckt. Ab der elften Klasse war ich Stammgast in der Schulbibliothek und begann philosophische Texte zu lesen. In vielen Dingen war ich Autodidakt. Ich war verdammt schüchtern und unfähig, mir jemanden zu suchen, der mir etwas beibringen konnte. Ich weiß nicht mehr, wie ich an Camus geraten war und ich weiß auch nicht mehr, warum ich glaubte, „Das Sein und das Nichts“ von Sartre lesen zu müssen. In der elften Klasse habe ich mich anfangs noch mit Descartes und Rosseau auseinander gesetzt. Es kann aber auch sein, dass ich damals schon Karl Jaspers gelesen hatte, der mir mit der „Philosophie der Weltanschauungen“ den Weg gewiesen hat und das ich über ihn an die Existenzialisten geraten war.

 Während der ganzen Schulzeit besuchte ich den katholischen Religionsunterricht. Ich hatte dort immer gute Noten und viele Themen haben mich auch interessiert. Schon damals hat man sich im Unterricht mit den anderen Weltreligionen auseinander gesetzt. Das fand ich äußerst spannend, hatte ich doch während meiner Kindheit in der Kirche vermittelt bekommen, dass der Katholizismus den einzig wahren Glauben darstellte. Schließlich hat Gott ja den Christen seine Botschaft verkündet und nicht den anderen. Im säkularen Religionsunterricht lernte ich genau das Gegenteil. Alle Religionen waren gleichwertig. Die Wahrheit an sich gab es nicht. Die Existenz Gottes war wissenschaftlich nicht beweisbar. Glauben war relativ und Religion versuchte nur einen Rahmen für den Glauben an einen oder mehrere Götter zu geben.

 In der zwölften Klasse übernahm ein Lehrer den Religionsunterricht, der mich die nächsten Jahre sehr stark beeinflusste. Wie ich später erfuhr, wollte er in seinen jungen Jahren Priester werden, hatte aber Schwierigkeiten mit dem Zölibat, lernte seine Frau kennen, zog mir ihr drei Kinder auf und wurde Religionslehrer. Er war der erste Mensch mit dem ich leidenschaftlich über Religion und Philosophie diskutieren konnte. Er empfahl mir Hans Küngs „Existiert Gott?“ zu lesen. Das Buch hatte ich verschlungen. Zu der Zeit gehörten auch die verschiedenen Philosophierichtungen zum Lehrplan in Religion. Ich hielt mich für einen Experten auf dem Gebiet. Obwohl mein Wissen aus heutiger Sicht eher als laienhaft zu bezeichnen war, hatte ich mir mit meinen vorlauten Wortbeiträgen die Aufmerksamkeit meines Lehrers bekommen. Ich kam auch nachdem Unterricht mit ihm ins Gespräch. Bis zum Abitur und darüber hinaus gab es mehrere private Treffen, die nur dazu dienten, sich über Religion, Kirche und Philosophie auszutauschen. Ich fühlte mich in dieser Zeit phantastisch. Ich blühte sozial wie intellektuell auf und hatte meine Bestimmung gefunden. Ich war der nervende Klugscheißer, der stundenlang über ein Thema referieren konnte, dabei eine Zigarre rauchte, seine Nase in eine Menge edlen Whiskey tunkte und aufgeputscht von seinen eigenen Thesen die Welt durchdrang.

 Mein mündliches Abitur legte ich im Fach Religion ab. Ich sollte den Freiheitsbegriff im Christentum und im Existenzialismus vergleichen. Ich hatte mich einigermaßen tapfer geschlagen und bekam zwölf Punkte. Damals merkte ich schon, dass mein Autodidaktentum mich schnell an meine Grenzen brachte und da ich finanziell unabhängig von meinen Eltern sein wollte, begann ich nach dem Abitur anstatt eines geisteswissenschaftlichen Studiums eine Ausbildung bei der ortsansässigen Sparkasse.

 Ich hätte gewarnt sein sollen, als mein Vater mich dafür lobte, dass ich doch jetzt so eine tolle Ausbildungsstelle bekommen hätte.