Ich weiß nicht, wo ich es aufgeschnappt habe; die Unendlichkeit wird nicht durch grenzenlose Ausdehnung definiert, sondern durch Konzentration auf einen einzigen Punkt, an dem alles gleichzeitig existiert. Als ich nach dem Theaterabend im Gießener Stadttheater über das Stück 100 Songs von Roland Schimmelpfennig nachgedacht habe, ist mir spontan dieses Denkmodell in den Sinn gekommen. Die Assoziation mit der Annahme, es existierten unendlich viele Universen mit unendlich vielen Versionen der Wirklichkeit, kam mir in den Sinn. Das Stück bringt die Dekonstruktion eines Momentes vor einer Katastrophe auf die Bühne, die das Leben der Menschen, die sich zufällig alle an dem Ort der Katastrophe aufgehalten haben, nachhaltig beeinflusst.
Menschen treffen sich morgens am Bahnsteig und steigen in einen Zug ein. Ein ganz alltäglicher Vorgang. Schnell wird klar, dass nach Warten, Einsteigen und Losfahren etwas Dramatisches passiert sein muss. Der Zeitraum zwischen 8.50 Uhr und 8.55 Uhr wird immer wieder neu aus der Sicht der einzelnen Fahrgäste, einer Kellnerin aus dem Bahnhofscafé und einem Anwohner, der die Gleise von seinem Balkon aus beobachten kann, erzählt. Der Text konzentriert sich nicht auf die verschiedenen Perspektiven der Menschen auf das dramatische Ereignis, sondern auf deren Geschichten, die sie mit an den Bahnsteig gebracht haben. Ein Mann, der sich in der Nacht mit seiner Frau gestritten hat, eine Stripperin aus Upsalla, die nach Hause zu ihrem Kind fährt, ein Polizist, der seinen Bruder besucht hat und nun nach Hause fahren will, ein Verwaltungsangestellter auf dem Weg zur Arbeit, eine Studentin und ihr Bekannter, ein Liebespaar, dass sich heimlich im Zug trifft, ein miesgelaunter Kerl, der eine Sporttasche mit sich herumschleppt, ein Pfarrer, der in die Nachbarstadt fährt, um einen sechsjähriges Kind zu beerdigen, eine Landvermesserin, eine Familie mit Kind auf einem Ausflug. Anfangs kann man den Schauspieler noch einzelne Rollen zuordnen. Im Laufe des Stückes verflüchtigt sich die Zuordnung. Ähnlich läuft es mit den Songs, von denen man als Zuschauer am Anfang den Eindruck gewinnen könnte, sie repräsentieren eine einzelne Person und ihre Stimmungslage. Aber auch sie verlaufen sich, verflüchtigen sich. In einer besonders eindrucksvollen Szene kaskadieren sie sich zu einer Kakophonie. Verschiedene Lautsprechertypen werden im Hintergrund ins Bühnenbild herabgelassen und jeder einzelne Lautsprecher scheint einen der 100 Songs zu spielen. Die Schauspieler singen immer lauter, bis zum ohrenzerberstenden Höhepunkt und prompt wird es still. Dann wird die Uhr wieder zurückgedreht und die letzten fünf Minuten werden wieder neu verhandelt. Der Spannungsbogen des Stückes besteht daraus, dass man nie erfährt, was nun wirklich um 8.55 Uhr geschehen ist. Es gibt Anspielungen, die sich nie verfangen und wieder im Sande verlaufen. Die einzelnen Schicksalsberichte der Personen im Zug werden auf die Spitze getrieben und vor dem entscheidenden Moment drückt man gedanklich auf Pause und spult wieder auf 8.50 Uhr zurück. Länger als anderthalb Stunden trägt dieses verwirrende Destruktionsspiel nicht. Irgendwie muss eine Auflösung her und wer denkt, dass sie sich einfach so ergibt, wird enttäuscht werden.
Destruktion ist keine Erfindung des Autors. Neuartig daran ist, dass sie konsumierbar ist. Der Zuschauer kann trotz aller Verwirrung und ständiger Verflüchtigung den einzelnen Schicksalen folgen. Der Text lässt Mitgefühl zu. Alleine schon, dass es einen Spannungsbogen gibt, ein fesselndes Element, der Zuschauer sich fragt, welches schlimme Ereignis stattgefunden hat, spricht für das Stück. Aus den vielen Andeutungen, in denen Pferde eine wichtige Rolle spielen (Odins Pferd Sleipnir, das mit seinen Hufen die Erde zerstört, die vier apokalyptischen Reiter usw.), wird nur ersichtlich, dass unheilbringende Katastrophe die Menschen im Zug miteinander verbindet. In einem Interview mit Herrn Schimmelpfennig (Internetseite Stuttgarter Zeitung vom 18.06.19) erklärt er seine Grundidee: „Seit dem Attentat von Madrid wollte ich ein Stück über das Thema Terror schreiben, doch wie fasst man das?“ Er führt weiter aus, dass es ihm um die Zufälligkeit des Opferwerdens gegangen sei.
Somit hat er den Nerv getroffen, der bei vielen Zeitgenossen blank liegt. Erst im Laufe des Stückes hat mich die Wucht der Aktualität des Themas getroffen. Eine Woche vorher hat das Attentat in Hanau stattgefunden. Gewöhnliche Menschen sind Abends ausgegangen, haben sich etwas zu essen besorgt, wollten etwas Spaß haben, Freunde treffen, sich angeregt unterhalten und sind mitten aus dem Leben gerissen worden. Ihre Lieder, ihre Geschichten sind verklungen. Ein Vorwurf, der nach solchen Attentaten, die immer zahlreicher und in kürzeren Abständen erfolgen, erhoben wird, ist dass es immer nur um den Täter geht und die Opfer zu anonymen Objekten degradiert werden.
Der Abend hat mich tief beeindruckt und schockiert zurückgelassen. Für ein paar glanzvolle Theatermomente wurde greifbar, was es bedeutet, wenn der Zufall in seiner grauenvollste Ausprägung zuschlägt.