Bück dich hoch

Am letzten Samstag war ich mit meiner Frau und zwei meiner Kinder auf dem Auftritt der Band Deichkind in der Frankfurter Festhalle. Für meinen achtjährigen Sohn und meine zwölfjährige Tochter war es das erste Konzertvergnügen dieser Art. Seit ein paar Jahren begleiten mich die Songs von Deichkind. Mir gefällt die Art, wie sie den Gemütszustand meiner Generation kommentieren und ironisch gebrochen widerspiegeln.

 Deichkind hat als Band schon einige Jahre auf dem Buckel und daher auch verschiedene Schaffensphasen kreieren dürfen. Angefangen haben sie als typische Deutschrap-Band der Neunziger Jahre. Später gab es einen Umbruch in der Band und nach einer schlimmen Phase mit ulkigen Partylieder und Saufhymnen, die sie mit Stampfbeats, tiefen Grummelbässen und hellen Technosounds unterlegt haben, entwickelte sich die Band zu einem Gesamtkunstwerk mit wilden Bühneninszenierungen, grotesken Texten und Kostümen und sehr einfallsreichen Videos. Die Bühnenshow von Deichkind ist legendär. Wer dabei still sitzen bleibt, um den Flow der Reime zu analysieren, hat den Schuss nicht gehört.

 Der Song „Bück dich hoch“, der bei den Auftritten mit einem Bürostuhlballet inszeniert wird, karikiert den Zwang zur Selbstaufgabe in der Arbeitswelt. Der Song stammt aus dem Jahre 2012 und als ich damals den Song rauf und runter gehört habe, fand ich in den Textzeilen viele Analogien zu meinem Job. Bei einigen Führungskräfte galt damals die Selbstaufgabe für das Unternehmen als unbedingte Notwendigkeit. Familie, Freunde, Hobby alles nur Ablenkung, die einem vom Pfad des Erfolges abbringen.

„Du brauchst Konkurrenz, keine Friends. Do your fucking Job till the end.“

Gerade diese Textzeile entsprach der damaligen Haltung in meiner Branche. Wir hatten gerade Finanzkrise und Eurokrise hinter uns und glaubten immer noch, ein Herzinfarkt ist eine Trophäe und der Burn-Out ein Zeichen von Schwäche. Ich kannte Führungskräfte, die Untergebenen den Abbau von Überstunden untersagten, weil sie ja nur siebzig Überstunden hatten. Nur die Harten kommen in den Garten. Überstunden kannst du abfeiern, wenn du auf dem Friedhof liegst.

 Als die Bürostuhlarmada ihre Pirouetten auf der Bühne drehten musste ich kurz innehalten. Ein paar Tage vorher hatte ich ein dienstliches Seminar besucht. Der Zeitgeist der Totalaufgabe für die Arbeit ist mittlerweile einem angeblichen positiven Mindset von der Work-Life-Balance gewichen und mein Arbeitgeber versucht alles, um die traurige Vergangenheit der fehlgeleiteten Leistungsanreize vergessen zu machen und doch scheint diese Vergangenheit immer noch präsent zu sein.

 Ein großes Thema, wie wahrscheinlich in fast allen Unternehmen, ist der Fachkräftemangel und die Diskussion wie wir junge Menschen für unseren Beruf begeistern können. Und dann kam der Satz, über den ich mich noch an dem Samstag während des DK-Konzertes aufregen konnte:

„Die jungen Leute wollen ja nicht mehr arbeiten. Die wollen nur noch die vier-Tage-Woche und ansonsten ihrem Vergnügen nachgehen.“

Ich bin immer überrascht, dass Mensch schnell das Lebensgefühl ihrer Jugend vergessen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich mich gefühlt habe, als ich mit neunzehn Jahren meine Ausbildung begonnen habe. Jeden Tag auf die Arbeit zu rennen und das die nächsten fünfundvierzig Jahre machte mir eine Heidenangst. Am Beginn meiner Ausbildung habe ich in den ersten Wochen abends zu Hause gesessen und mir gedacht, dass ich am nächsten Tag nicht mehr hingehe. Nicht, weil mir die Arbeit nicht gefallen hätte, sondern weil die Arbeit mich einfach überfordert hatte. Ich musste mir ein anderes Auftreten, ein anderes Verhalten anerziehen, viele neue Regeln lernen, immer freundlich und nett bleiben und musste mich an das starre Korsett der betrieblichen Abläufe gewöhnen. Als junger Mensch will man nicht ins Hamsterrad. Man macht es, weil es die Eltern wollen, weil man Geld verdienen will, weil man sich etwas im Leben aufbauen und erreichen will. Irgendwann gewöhnt man sich dran und man bekommt Routine, schläft sich aus, schüttelt sich und macht weiter. Ich war ein guter Azubi, meine Kollegen mochten mich und ich kam besser mit den Kunden klar, als manch altgedienter Kollege.

 Während dem Seminar habe zu dieser Diskussion nichts beitragen wollen. Ich wollte die unsägliche Meinungsäußerung einiger Kollegen nicht mit Gegenargumenten unnötig in die Länge ziehen. Aber es half nichts. Zwei oder drei Kollegen haben sich gegenseitig aufgeschaukelt.

 Immer wieder: die jungen Leute wollen keine Leistung bringen, die wollen nur Vorteile genießen usw.

 Ich träumte ich in eine andere Gegenwart, in der ich mich feierlich erheben wollte, um eine pathetische Ansprache zu halten:

„Sind wir denn unseren Kindern gute Vorbilder gewesen? Wir waren Sklaven des Leistungswillens. Der Erfolg oder das was wir dafür gehalten haben, hat uns krank gemacht. Worauf beruhen den unser Wohlstand und unsere Freiheit? Auf unserem eigenen Unglück und dem Unglück anderer Menschen! Wir haben uns selbst das Glück versagt, um jedes Jahr dreimal in den Urlaub fliegen zu können, alle zwei Jahre ein größeres Auto fahren zu können und dem Nachbarn nicht einmal das Schwarze unter den Fingernägeln zu gönnen. Was hinterlassen wir unseren Kindern? Eine kaputte Infrastruktur, eine kaputte Welt, eine kaputte Demokratie und kaputte Menschen. Wir sind die Monster, nicht unsere Kinder!“

 Ich hatte in der anderen Welt schon eine Arschbacke in der Luft und einen Zeigefinger gen Himmel gereckt, um auf mich aufmerksam zu machen und dann hat mich der Anblick der verhärmten und mitleidlosen Mienen meiner Kollegen wieder in die Wirklichkeit zurückgeholt.

 Während Deichkind auf der Bühne tobte und ich mich verschwitzt und melancholisch an dem Moment in dem Seminar erinnerte, warf ich einen Blick auf meine beiden Kinder, die beiden staunend dem Spektakel in der Festhalle beiwohnten und war mir sicher, dass sie auf meine Kollegen nicht hören und einen anderen Weg beschreiten werden.