Letzten Samstagnachmittag fuhr ich auf der vierspurigen schnurgeraden Autostrada zwischen Wetzlar und Gießen. Beim Fahren kann man den Blick über die idyllische Lahnebene schweifen lassen. Der Fluss schlängelt sich hier durch ein Naherholungs- und Naturschutzgebiet. Man kann sich Zeit nehmen. Die erlaubte Höchstgeschwindigkeit liegt bei 100 KM/H. Ich habe wenig Interesse an der Idylle neben der Straße. Ich bin diese Strecke schon tausendmal gefahren. Die Straße führt nicht nur durch das Lahntal, sondern auch durch mein Leben. Auf der linken Fahrspur lasse ich die anderen Fahrzeuge hinter mir.
Hinter mir rauscht ein schwarzes Geschoß heran. Fast instinktiv spüre ich seine Anwesenheit noch bevor es sich mit Lichthupe ankündigt. Gefühlt einen halben Kilometer entfernt von mir entdecke ich das nervig Lichtsignale emittierende Objekt im Rückspiegel. Warum soll ich die Fahrspur wechseln? Ca. 100 Meter vor mir fährt ein Fahrzeug auf der rechten Spur und ich möchte es gerne überholen. Innerhalb ein paar Sekunden erreicht mich die Bedrohung auf der linken Spur und mir wird ganz anders. Noch bevor es meine Stoßstange berühren kann, wechselt es auf die rechte Spur. Meine Furcht vor dem Auftreffen des unbekannten Objektes gleitet nahtlos über in Wut und störrischem Beharren auf mein Recht.
In einer miesen Kurzschlussreaktion gebe ich Gas, um zu dem Fahrzeug auf der rechten Spur aufzuschließen. So macht man die Räume dicht und riskiert einen verheerenden Unfall. Das ist mir völlig egal, denn meine Testikel sind innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde auf die doppelte Größe herangewachsen. Mein ganzes maskulines Bewusstsein verharrt auf dem Gaspedal.
Ich beschleunige mein kleines Elektroauto, neben mir das rasende Objekt, das ich mittlerweile als schwarzen Golf identifizieren konnte. Nur kurz habe ich die Macht über die Situation, denn der Golf ist schneller und sein Fahrer absolut furchtlos. Kurz bevor wir das Fahrzeug auf der linken Spur erreichen, setzt sich der schwarze Golf vor mich. Der Fahrer scheint keinerlei Nerven zu besitzen. Als ich das erste Mal die Silhouette des Fahrers erahnen kann, legt er eine Vollbremsung hin. Der Bruchteil der Sekunde in der ich der Vollbremsung gewahr werde, entscheidet über Leben und Tod. Ich weiß gar nicht, wie ich schaffe, das Bremspedal bis unten durchzutreten, gleichzeitig zu hupen und zu brüllen:
„Nötigung, du Schwachkopf.“
Die Angst vor dem Tod muss irgendwie artikuliert werden.
Dem Fahrer des schwarzen Golfes bin ich vollkommen gleichgültig. Er hat mich niedergerungen und kann nun bequem meine wütenden Handbewegungen und Beschimpfungen ignorieren. Ich fahre ihm hinterher, fühle mich gedemütigt und suche einen Weg, mich wieder aufzurichten. Ich notiere mir sein Kennzeichen, überlege ihn anzuzeigen und bedränge ihn durch dichtes Auffahren. Bis zur nächsten Ausfahrt stecken wir in einer Kolonne fest. Auf beiden Spuren fahren die Autos wie auf Schienen. Als ich an der nächsten Ausfahrt abbiege und er auf der B49 bleibt, versuche ich den Fahrer noch einmal in Augenschein zu nehmen. Er bleibt gesichtslos, ein Schatten am Lenkrad. Sein Golf weist eine großflächige Blechwunde auf, die die gesamte Beifahrerseite überzieht. Entweder kann er keine Risiken abschätzen oder seine Wut ist immer größer als seine Angst vor dem Crash.
Leider habe ich mitgespielt. Es ist so einfach geworden, sich im Recht zu fühlen und sich zum Rächer der eigenen Bedeutungslosigkeit zu erheben. Ob im Internet, im Straßenverkehr, in den Städten, bei Veranstaltungen, der Sog des konturenlosen Schattens, der sich immer beklagt und beschwert, der andere beschimpft und diffamiert, Gewalt androht und ausübt, das Recht auf seiner Seite sieht, wenn er Regeln bricht, ist stärker geworden. Befindet man sich einmal im Strudel der Unmenschlichkeit und betrachtet den anderen nur als Störfaktor, der aus dem Weg geräumt werden muss, kann man sich ihm nur schwer entziehen.
Gestern habe ich einen kurzen Videoclip auf Spiegel-Online gesehen. Es zeigt einen großen schwarz gekleideten Kerl, der ein Wahlplakat von einem Mast herunterreißt. Er war nicht alleine. Zwei weitere Personen, auch in schwarz gekleidet, haben arglose Menschen angegriffen, bedroht, beschimpft, Angst und Schrecken verbreitet. Die drei Angreifer fühlten sich im Recht, fanden es unbegreiflich, dass Menschen eine andere Meinung plakatierten und wollten ihr Revier verteidigen. Beim Betrachten des Videos habe ich mich an meine Gefahrensituation auf der Straße erinnert. Wenn Menschen im öffentlichen Raum attackiert werden, weil sie sich politisch engagieren, ist es weitaus dramatischer und in seiner Wirkung folgenreicher als ein Gerangel auf der Bundesstraße. Allerdings geht es um das gleiche Prinzip des Regelbruches und ist verbunden mit einem ähnlichen Empfinden. Die gesellschaftliche Übereinkunft, die Regeln des Straßenverkehrs, die Regeln der politischen Teilhabe, Geschwindigkeitsbegrenzungen, das Recht sich politisch zu engagieren, seine Meinung zu äußern, sich zur Wahl zu stellen, werden durch den Angriff außer Kraft gesetzt, insbesondere wenn der Provokateur ungestraft enteilen kann. Früher waren es nur die Vollidioten, die mit ihren PS unter dem Hintern, die Regeln des Straßenverkehrs ausgehebelt haben. In den letzten Jahren sind viele neue Regelbrüche hinzugekommen und so wie ich mich habe hineinziehen lassen, sind viele Menschen bereit, sich in den Strudel der Unmenschlichkeit zu begeben, ohne zu erahnen, worauf sie sich einlassen.
Irgendwann haben Brandstifter das Feuer gelegt und anstatt das wir das Feuer gelöscht haben, haben wir es unbeabsichtigt angefacht. So wie ich die Contenance im Straßenverkehr verloren habe, haben weite Teile der Gesellschaft ihre Contenance verloren. In einer kopflosen Gesellschaft werde die Brandstifter ihre Ziele zu erreichen. Sie zündeln an den Grundfesten der Gesellschaft, um Konfusion zu verursachen. Sie wollen die Unsicherheit und Unordnung während des Feuers ausnutzen, um Macht zu erlangen. Der Golffahrer und die Angreifer sind für die Brandstifter das Mittel zum Zweck, sie sind Brandverstärker, die für Konfusion und Unsicherheit sorgen. Wir fühlen uns nicht mehr sicher und reagieren nur noch. Man hat uns in einen Hinterhalt gelockt und wir stehen nun mit dem Rücken zur Wand, verzweifelt, wütend und unfähig, den Ausweg zu erkennen.
Wir brauchen ein Gegenmittel. Wir müssen uns dem Feuer entziehen und endlich mit den Löscharbeiten beginnen. Kehren wir zurück zur Vernunft, machen wir uns wieder klar, dass eine Gesellschaft nur funktionieren kann, wenn jeder die Regeln einhält und der der sie nicht einhalten will, sanktioniert wird. Dazu braucht es Gelassenheit und den ruhigen Blick. Fahren wir auf die andere Spur, lassen wir die Vollidioten uns ruhig überholen. Irgendwann werden sie in die Leitplanken rasen und sich selbst ad absurdum führen.