Reihe 3, Platz 58+59: Die Orestie von Aischylos 

Nach der Festtagsvöllerei, die uns träge hat werden lassen, verlangt unser Abo, das wir aus dem Hause gehen, um im Stadttheater Giessen die zweitausendfünfhundert Jahre alte in der antiken Welt eingebettete Tragödie über Rachsucht und blinden Hass zu konsumieren. Wir haben in den letzten Tagen so viel in uns hineingestopft, warum sollen wir uns dann einem altbackenen Stück zuwenden, in dem Götter auf die Menschen herabschauen und sie herumschubsen. Wir leben doch zum Glück in einer Welt, in der Götter keinen Zugriff auf uns haben. Da kann das so kurz nach Weihnachten im Theater keine Stimmung aufkommen, oder? Die Zusammenfassung der blutrünstigen Handlung: Agamemnon, der Herrscher über Mykene und Anführer der Griechen im Kampf um Troja, opferte seine Tochter Iphigenie, um weiter nach Troja segeln zu können (Wie wir in Goethes Stück „Iphigenie auf Tauris“ gelernt haben, hat er sie gar nicht getötet, sondern nach Tauris geschickt, aber das spielt hier gar keine Rolle). Seine Frau Klytaimestra ist deshalb stinkesauer. Während der langen Abwesenheit ihres Ehemannes beginnt sie eine Affäre mit  Aigisthos. Agamemnon kehrt nach zehn Jahren als Sieger aus dem trojanischen Krieg zurück und Klytaimestra tötet sogleich ihren Gatten. Worauf hin ihr Sohn Orest, den sie kurz vor der Rückkehr seines Vaters weggeschickt hatte, wieder nach Hause kommt, um sie und ihren Liebhaber zu killen. Daraufhin werden die Erynnen (die Rachegöttinnen) zu den Eumeniden (die Wohlgesinnten – der eine oder andere erinnert sich vielleicht an den gleichnamigen Roman von Jonathan Littell, der sich auf die Orestie bezieht). Aber wie sich Rachegöttinnen in die Wohlgesinnten verwandeln können, überfordert meinen in Fett und Alkohol ertränkten Geist. Ausnahmsweise waren wir sehr früh im Theater, kauerten gähnend in den roten Sesseln und warteten auf die Darstellung zahlreicher widerwärtiger Morde unter Verwandten. Das karge Bühnenbild bestand aus einer großen Leinwand, die über die ganze Breite der reichte und so die Bühne verkleinerte und zwei Leinwände an den Seiten.  Zuerst betrat Lyhre die Bühne, die schon in der letzten Spielzeit bei Neometropolis die Inszenierung mit ihrer Musik erweitert hatte. Iphigenie betritt die Bühne und erzählt die Vorgeschichte, emotional sehr aufgeladen und einer hektischen Choreographie folgend. Mit dem Wächter, der an einem Spiegeltisch sitzend berichtet, dass er jahrelang Nachts auf die Feuersignale warten musste, die das Ende Trojas verkünden und nun in dieser Nacht das Signal am Himmel erschienen ist, beginnt das eigentliche Stück und das Drama nimmt seinen Lauf. Zum ersten Mal kommen die beiden Leinwände zum Einsatz. Das Spiegelbild des Wächters wird auf die Leinwände übertragen und man ist ganz nah an dem mimischen Spiel des Schauspielers dran.  Dieser Effekt wird im Verlauf des Abends noch öfter zum Tragen kommen. Zwei Kameras auf der Bühne nehmen die Schauspieler auf und Ihr großes Abbild erscheint auf den großen Leinwänden und vervielfacht und vertieft ihr Spiel. Leider hat man ein kleines Latenzproblem und man hört die Stimmen der Schauspieler, sieht aber auf dem Bildschirm nur zeitverzögert wie sich die Lippen zu den Worten bewegen.  Zweimal werden große 3-D-Installationen auf die Leinwände geworfen. Während Klytaimestra ihren Monolog hält, folgt man dem Flug zwischen den Hochhäusern einer fiktiven Stadt und während Agamemnon mit geschundenem und nacktem Oberkörper sich seiner Taten rühmt, steht er inmitten einem dreidimensionalen Abbild eines Autotunnels. Der Chor, ein typisches Stilmittel der griechischen Tragödie, der ja immer so etwas wie die Stimme des Volkes darstellt wird nur von Roman Kurtz als alter weiser Mann dargestellt.  Die Schauspieler sind in Hochform, bis auf Amina Eisner, die die Kassandra gibt und immer wieder beim Text stolpert und ins Stocken gerät. Vielleicht nicht ihr bester Tag und ganz bestimmt gibt es einen Grund dafür. Frau Minetti als wütende und zornige Klytaimestra, die schon lange den Pfad der Vernunft hinter sich gelassen hat, bestimmt den ersten Teil im Wechselspiel mit dem Chor. Ihre Präsenz und ihre Unerbittlichkeit nehmen schon den Rachefuror vorweg und als Agamemnon der geschundene Held müde und erschöpft nach Hause kommt, wird er gleich von Klytaimestra in die Enge getrieben, gedemütigt und schließlich gemeuchelt. Und so geht der erste Teil des Schauspiels recht geschmeidig und wider Erwarten kurzweilig vorüber.  Die Verknappung des Bühnenbildes, die Songs, in denen es um Unterwerfung, Blut und Tod geht, die Bildeffekte und das engagierte Spiel der Darsteller lassen das Stück in der Gegenwart ankommen. Es werden Interpretationsspielräume geöffnet, die uns nicht nur erschauern lässt, sondern auch zum Nachdenken bringen. Man ist bewegt von der Frage, ob diese Kette von Gewaltakten jemals unterbrochen werden kann. Die gekränkte Eitelkeit, der eigene Ehrgeiz, seinen Nachbarn zu besiegen, um als Held in die Geschichte einzugehen, rechtfertigt jedes Opfer, auch den Tod der eigenen Tochter und wenn die Mutter aus Rachsucht über den Vater richtet, ist das ein Akt der Selbstjustiz, die jegliche Rechtstaatlichkeit verhöhnt. Die Beispiele aus der Gegenwart kann man jeden Tag in den Nachrichten nachvollziehen und die Götter waren auch schon bei den alten Griechen nichts anderes als die dumme Entschuldigung für Missetaten. Es sind Menschen, die Menschenrechte ignorieren und Menschen meucheln andere Menschen. Dafür brauchen sie keine Götter. Dann endet der erste Teil und ich muss erst einmal tief durchatmen. Unsere Reihe 3 und die zwei Reihen vor uns waren gut besetzt. Nach der Pause sitzt links neben uns niemand mehr. Auch vor uns haben sich die Reihen gelichtet. Wir fragen uns, ob da der ein oder andere die Gelegenheit genutzt hat, um nebenan auf dem Weihnachtsmarkt am Berliner Platz sich mit Glühwein die Welt schön zu saufen. Der Inhalt des Stückes mag einem eskapistisch handeln lassen. Aber die Inszenierung ist alles andere als zum Weglaufen. Teil zwei und drei der Geschichte fallen deutlich zum ersten Teil ab. Orest und Elektra sinnieren über die Rache an ihrer Mutter und bringen sie und ihren Geliebten, der von David Gaviria irritierenderweise als narzisstische Andy Warhol-Kopie gespielt wird, um die Ecke und am Schluss tauchen alle Toten auf und sitzen im dritten Teil über Orest zu Gericht. Hier hat man sich das ganze Götter- und Tempelgedöns  gespart und eher in einen Diskurs über Rache, Vergebung, Recht und Freiheit investiert. Die zahlreichen Stimmen der Schauspieler verhandeln die Dinge der Menschen, ob sie nun Rachegöttinnen, Wohlgesinnte, Athene oder sonst wen darstellen hat keine Bedeutung. Am Ende wird Orest freigesprochen und verspricht seinen Nachbarn nicht mehr anzugreifen oder sich mit ihm zu streiten. Das Stück ist unvermittelt zu Ende. Die Zuschauer brauchen eine Weile, bis sie es merken und mit ihren Handflächen frenetischen Applaus erzeugen. Ein wohlverdienter Applaus…