Marathonvorbereitung 1. Woche – 47 Kilometer

Jahrelang bin ich auf leisen Sohlen um ihn herumgeschlichen und habe mich nicht getraut, an ihn näher heranzutreten. Jetzt habe ich ihm mal angestupst und er regt sich vorsichtig. Wir kommen uns näher und ich habe eine Scheißangst vor ihm.

Ein Marathon ist für mich mehr als 42,195 Kilometer, die man abspult, um ans Ziel zu kommen. Es ist für mich die ultimative körperliche Herausforderung, die Überschreitung meiner körperlichen Grenzen und hoffentlich nicht meiner körperlichen Möglichkeiten. Ich laufe seit 2014 und seitdem war es das große Ziel, sich an den Marathon heranzutasten. Mein Körper sollte keinen Schaden davontragen, sondern sich an die Belastung allmählich gewöhnen und von der Erfahrung profitieren.

Letzte Woche habe ich zum Frankfurt Marathon angemeldet und mit meinem Training begonnen. Es sind zehn Wochen bis zum 26.10.2025 und ich habe mir vorgenommen, mich mental und körperlich darauf vorzubereiten.

Mental wie auch körperlich brauche ich Druck, um Anspannung, Motiviation und Freude aufzubauen. Klar freue ich mich auf das Einlaufen in die Festhalle in Frankfurt, die vielen jubelnden Menschen an der Strecke, das Laufen auf der Straße, dort wo sich ansonsten der Verkehr durch die Stadt quält und das Gefühl etwas geschafft zu haben, dass man nicht einfach kaufen kann, das nicht frei verfügbar ist, sondern das man sich hart erarbeiten muss und will. Aber der Weg dorthin, viermal die Woche laufen, zweimal die Woche Krafttraining ist oft freudlos. Kilometer scheinbar sinnlos abspulen, die Zweifel und die Müdigkeit zu überwinden, schaffe ich nur, wenn ich darüber rede und innerlich reflektiere.

Daher habe ich mich entschlossen, jede Woche über meine Vorbereitung zu schreiben. Nachdem ich letzte Woche am Gießener Stadtlauf teilgenommen habe (10 Kilometer durch die Innenstadt), habe ich Dienstag offiziell die erste Trainingseinheit absolviert. Am Ende waren es 47 Kilometer, die ich in der Woche gelaufen bin. Das ist schon deutlich mehr wie in einer gewöhnlichen Laufwoche Woche (25-30 Kilometer). Zweimal habe ich danach Kraft- und Stabilisierungsübungen gemacht, um den Körper auf die Belastung vorzubereiten. Die ganze Woche über war das Wetter perfekt. Nicht zu warm oder zu kalt, trocken und Sonne und Wolken haben sich abgewechselt. Die erste Woche war gut! Ich schwanke immer noch zwischen Respekt, Freude und der Angst, resignieren zu müssen.

Die Zukunft strahlt hell und freundlich in die Gegenwart

Sein wir doch ehrlich: niemand gibt gerne seine liebgewonnenen Annehmlichkeiten her. Auch wenn wir wissen, dass unsere Annehmlichkeiten für andere Menschen eine Zumutung darstellen. Wir gleiten gerne mit unseren Monsterkarren über breite Trassen, lassen Orte hinter uns und bewegen uns mit viel zu hoher Geschwindigkeit auf unser Ziel zu. Was rechts und links neben den Straßen passiert, ist uns ziemlich egal, solange wir schnell von einem Ort zu anderen kommen.

In Wetzlar gibt es eine monumentale Hochstraße, die die Stadt in das Wetzlar mit seiner pittoresken Altstadt und das Wetzlar mit seinen Industrieanlagen teilt. Die Hochstraße wurde vor ca. 50 Jahren als Teil der B49 gebaut, die von Limburg über Wetzlar nach Gießen führt. Für die Einwohner dieser Stadt gibt es seitdem keine Vorstellung von einem Leben ohne Hochstraße. Schließlich wird die Stadt nicht nur von seinen Industrieanlagen, sondern auch von seinen Straßen dominiert. Die Hochstraße dient als pulsierende Verkehrsader, die Menschen in die Stadt hinein- und hinausbringt. Der Wetzlarer ist es gewohnt, von Stahlbeton, Asphalt und Blechlawinen umgeben zu sein und plötzlich will man die Hochstraße abreißen. Die Hochstraße, dieses Denkmal der Moderne, in Beton gegossener technischer Fortschritt, stahlarmiert und angeblich unverwüstlich, ist marode und muss abgerissen werden.

In Wetzlar verhält es sich mit dem gesellschaftlichen Diskurs genauso wie überall im Land. Nach der Verkündung des Abrisses, erhob sich sofort ein Sturm der Meinungen. Und wie immer haben alle nur ihre eigenen Belange im Blick. Die Diskussion schwankt wie ein Schiff im Sturm um die Grundpositionen, ich will das alles so bleibt wie es ist, auch wenn ich weiß, dass es scheiße ist und na endlich verändert sich mal was. Es werden irgendwelche Scheinargumente in den leeren Raum hineingeworfen und als sachlicher Diskussionsbeitrag getarnt. Letztendlich reden alle mit sich selbst, anstatt miteinander.  

Die Straße wird abgerissen und in der Stadt entstehen neue Freiräume für Wohnungen, Grünanlagen, Fahrradwege und ähnliches. Allerdings gibt es auch einen Ersatz für die Hochstraße. Denn die vielen Autos werden ja nicht weniger, obwohl das besser für uns alle wäre. Man führt nun den Verkehr vor Wetzlar durch einen neu gebauten Tunnel um Wetzlar herum. Dadurch wird eine Menge Fläche mit Beton und Asphalt versiegelt. Denn kein Politiker, der im Moment etwas zu sagen hat, möchte gerne davon ausgehen, dass weniger Autos in Zukunft auf der Straße fahren. Sobald die Geburtenrate bei uns um 0,1% sinkt, will man Schulen und Kitas schließen, keine Lehrer und Erzieher mehr einstellen. Aber wenn es vielleicht sein könnte, dass man nur den Hauch einer Verkehrswende hinbekommt und doch der ÖPNV ein wenig Verkehr von der Straße nimmt, baut man noch breitere Trassen, neue Brücken und Straßen, die man in vierzig oder fünfzig Jahren entweder erneuern muss oder abreißt, weil der Individual- und Güterverkehr deutlich abgenommen hat.

Nachdem mehrere Bürgerinitiativen und die üblichen Verdächtigen, sich vollkommen für ihre Sache aufgerieben hatten, hat man auf Landes- und Bundesebene Fakten geschaffen: die Hochstraße wird spätestens 2035 nicht mehr sein. Zuerst sprach man von einem Abriss in 2027, aber um den Abschiedsschmerz zu mildern und den Bewahrern des Wohlstandes und der Freiheit, die nun einmal durch Beton, Stahl und Monsterkarren repräsentiert werden, die Möglichkeit zu geben, sich würdig und ausdauernd zu verabschieden, hat man den Abrisstermin um ein paar Jahre verschoben. Aber ehrlich, zehn Jahre sind notwendig, um alle Maßnahmen zu treffen, die den vernünftigen Übergang für die Bewohner und die Verwaltung dieser Stadt ermöglichen. Nach dieser Entscheidung im Jahre 2023 erlahmte der Empörungswille vieler Beteiligter und das Thema geriet etwas aus dem öffentlichen Fokus.

Und dann vor ein paar Wochen erschienen diese zwei Artikel in der Lokalpresse:

Der eine Artikel erzählt von einer Vision, die zu schön klingt, um wahr zu sein. Eine Studentengruppe hat sich im Rahmen eines Projektes den Chancen gewidmet, die sich für die Wohnquartiere in der Innenstadt ergeben könnten: Neue günstige Wohnungen für Familien, ein neues Quartier eingebettet in das alte Viertel rund um den Bahnhof, mit einem Fahrradschnellweg, Carsharing-Angeboten, weniger Autos, viel Grün, viel Nachhaltigkeit. Wenn man weiß, wie in den letzten Jahren Wetzlar städtebaulich entwickelt wurde, erwartet man nichts von alledem.

Nachdem vor ca. 20 Jahren eine viel zu große Shoppingmall auf der anderen Seite der Hochstraße errichtet wurde, ist der Einzelhandel im Bahnhofsviertel völlig zu erliegen gekommen. Die alte Einkaufspassage aus den Achtzigern verlor ihre Mieter und das Kaufhaus machte dicht. Erst einmal hat man jahrelang den Leerstand hingenommen und dann plötzlich wollte man ein neues Quartier entwickeln: Nachhaltiges Leben am Fluss, für Familien mit einer eigenen Kita usw.

Nichts hat man entwickelt. Es wurden zwei Altersheime, drei Wohnklötze und ein absurd großes Parkhaus gebaut. Die Bauten hat ein großes und regional sehr bekanntes Bauunternehmen aus dem Boden gestampft, das darüber Pleite gegangen ist. Seltsamerweise hat das Projekt ein anderes Bauunternehmen übernommen, das alle größeren von Stadt angeschobenen Projekte in den letzten Jahren hat bauen dürfen. Die Wohnungen wurden an wohlhabende Menschen verkauft, die entweder die Wohnungen selbst nutzen oder hochpreisig vermieten wollten. Gleichzeitig hat man an der Stellplatzsatzung und Bebauungsplänen nichts geändert. Das hat man erst gemacht, als schon alle Gebäude standen. Das neue Quartier besteht aus sogenannten Kranhäusern. Kranhäuser verheißen ein Großstadtflair, das als Rechtfertigung für die Großstadtpreise für die Wohnungen dienen kann. Im Moment schafft die Stadt an der Lahn sogenannte Aufenthaltsqualität. Wenn man über den Bauzaun linst, sieht man schon wieder versiegelte Fläche und muss davon ausgehen, dass hier und da ein Alibi-Bäumchen oder Strauch gepflanzt wird. Man hat keine neue Kita eröffnet, aber wenigstens die Stadtbibliothek und der Volkshochschule in der Nachbarschaft angesiedelt und ein wenig Raum für sozialen Austausch geschaffen. An das Gebäude der Volkshochschule hat man noch ein Parkhaus drangeklatscht. Immerhin hat die Stadt im Zuge der Maßnahmen an der Lahn auch den Ausbau des Lahnradweges versprochen, der bisher vielfach durch Autoverkehr unterbrochen wird. Die Parkhäuser werden nicht genutzt. Niemand ist bereit, für Parkraum Geld zu bezahlen. Es gibt ja genug kostenlose Parkmöglichkeiten in der Fußgängerzone. Dort zu parken ist zwar verboten, aber wenn das Ordnungsamt nicht hinschaut, hat man eine super günstige Alternative zu den Parkhäusern. Nachdem die Anwohner sich über Krach und die vielen Falschparkern beschwert haben, will die Stadt nach Jahren das Gewohnheitsrecht der Falschparker brechen und die Fußgängerzone mit Poller absperren.

Jetzt ergibt sich eine neue Chance durch den Wegfall der Hochstraßen und junge Studenten geben sich viel Mühe mit ihren Plänen die möglichen Chancen aufzuzeigen und gleichzeitig steht in dem Artikel, dass die Studenten Baurecht und Eigentumsverhältnisse nicht berücksichtigt haben. Als Einwohner dieser Stadt, der die Entwicklung jetzt zwanzig Jahre beobachtet hat, glaube ich nicht, dass die Entscheidungsträger auf diese Studenten hören werden. Es wird wieder ein Investor sich die Hände reiben, das freiwerdenden Gelände wird verschachert und möglichst gewinnbringend ausgeschlachtet. Von einer städtebaulich den zukünftigen Anforderungen gerechten Entwicklung wird man nicht sprechen können.

Gerade der zweite Artikel gibt mir wenig Anlass, auf die Vernunft der Beteiligten zu hoffen. An diesem Artikel kann man erkennen, dass das es sehr viele Sachzwänge gibt und die Planer der Stadt Wetzlar mit einem hochkomplexen und daher fehleranfälligen Sachverhalt auseinandersetzen müssen. Die sehr ambitionierte Aufgabe, verschiedene Verkehrsteilnehmern gerecht zu werden, nicht zu wissen, welche Verkehrsströme in Zukunft fließen und dabei noch die Belange der Anwohner im Blick zu halten, wird zu Enttäuschung bei den Anwohnern und Verkehrsteilnehmern führen.

Ich bin als Anwohner direkt betroffen. Die neue Verkehrstrasse, die die Hochstraße als Zubringer ersetzen soll, wird ungefähr zweihundert Meter von unserem Grundstück entfernt enden. Die Altenberger Straße und der Weg über die Dillbrücke sind fester Bestandteil unserer alltäglichen Wege. Die Straße ist seit Jahrzehnten zu Stoßzeiten brechend voll. Der Bahnübergang stört jeden Verkehrsfluss und der schmale Übergang über die enge Brücke stellt für Fußgänger und Radfahrer eine große Gefahrenquelle dar.

Jetzt ergeben sich neue Möglichkeiten, um die unangenehme Situation positiv zu ändern. Da ja man davon ausgeht, dass auch in Zukunft das Auto Vorrang haben muss, baut man eine vierspurige Strecke durch eine Kleingartenkolonie, die an einem Platz endet, der schon vor langer Zeit durch eine vierspurige Verkehrsführung verschandelt wurde. Der alte Charme des Neustadter Platzes und des Viertels rund um den Platz wurde vor Jahrzehnten wegbetoniert und man hat die Wohnviertel durch eine Stadtautobahn von der Innenstadt und Altstadt getrennt. Und mit der neuen Planung führt man diese Unart fort. Man hat zwar, wie in dem Artikel erklärt wird, erkannt, dass dieser Weg auch als Abkürzung genommen werden könnte, um die lange Umfahrung der Stadt zu umgehen. Das heißt man sieht die Gefahr, macht aber dagegen nichts, während man den Fußgänger- und Radfahrer mit irgendwelche seltsamen Zufahrten und Rampen abspeisen will, anstatt aus der jetzigen Altenberger Straße eine verkehrsberuhigte Zone zu schaffen, in der Fußgänger und Radfahrer Vorrang haben, weil es dort nur noch Anliegerverkehr geben wird. Die alte Dillbrücke muss weichen, weil man für die neue vierspurige Brücke Platz an der Ecke braucht. In einer erste Vision hatte man auch erwogen aus dieser Brücke eine Brücke für Radfahrer und Fußgänger zu machen. Und wo soll da der Schnellradweg hin, den die Studenten aus dem ersten Artikel als Verbindung zwischen Dill und Lahn als Idee in den Raum geworfen haben?

Als Anwohner beobachte ich die Entwicklung misstrauisch, allerdings nicht ohne Wohlwollen. Ich kann kein vollständiges objektives Bild zeigen, weil ich ein Anwohner ohne Sachverstand bin und ich bin weit davon entfernt, den besserwisserischen Wutbürger aus mir herauszuholen, der mit seinem gefährlichen Halbwissen Planern und der Stadtverwaltung erklären muss, wie es besser geht. Allerdings stehen wir am Anfang einer Entwicklung, die weitreichende Konsequenzen für uns alle haben können. Denn was in Wetzlar geschieht, wird ähnlich an vergleichbaren Orten in der Bundesrepublik geschehen. Es ist eine Zeit der Chancen und sie werden nicht genutzt werden. Denn überall hat sich die Infrastruktur überlebt, weil ihre Nutzungsdauer dem Ende entgegenstrebt. Man muss bestehende Infrastruktur hinterfragen und eine Entscheidung treffen: Modernisieren, abreißen und in alter Weise wieder aufbauen oder vollkommen neu gestalten. Werden die Entscheidungsträgen dabei den Anforderungen der Zukunft gerecht? Werden Klimawandel, Verkehrswende, demografischer Wandel usw. mitgedacht oder werden die kapitalistischen Denkformeln der Vergangenheit, die auf Verbrauch von Ressourcen zugunsten eines individuellen Wohlstandes und einem falschen Verständnis von individueller Freiheit beruhen, einfach in die Zukunft weiter fortgeschrieben. Das sind die großen Fragen, deren Konsequenzen man vor Ort des Geschehens beschreiben sollte. Als direkt Betroffener kann man durchaus mal zum Chronisten werden.

Jede Unterhaltung ist eine Form von Jazz

Reclam Verlag, ISBN-13: 9783150113240

In 2023 hatte ich mir auf der Buchmesse in Frankfurt das Buch „The Sound of Rebellion – zur politischen Ästhetik des Jazz“ von Peter Kemper gekauft. Das Buch lag inmitten gleichförmiger bunter Buchdeckel am Reclam-Stand und stach hervor mit der schwarzen, rot umrandeten Faust, die den ganzen Buchdeckel ausfüllt. Nicht nur das Layout sprang mich an, sondern auch die Möglichkeit durch die Lektüre eine für mich ambivalente Kunstform mit ihren unbegreiflichen Facetten verstehen zu können.

 Für mich als Musiker fühlt sich Jazz zuweilen an wie ein lebendiger Fisch, den man mit bloßen Händen festhalten will. Er neigt dazu, sich mit seinem nassen und glatten Körper mit heftigen Bewegungen zwischen den Händen zu winden und wieder im Wasser zu landen. Jazz ist flirrende Leidenschaft, eine Phalanx aus Noten, die sich in dein Gehirn bohrt und im Zentrum deiner Empfindungen totale Verwüstung hinterlässt. Jazz ist aber auch akademische Auseinandersetzung mit den Formeln einer musikalischen Genres. Ich kenne neben der Klassischen Musik kein Musikgenre, das so begeistert von Musiknerds auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt wird und teilweise auch missbraucht wird, um das eigene Ego mit Expertenwissen aufzuladen.

 Peter Kemper hat mir einen Leitfaden zum Verständnis des Jazz geben können, indem er chronologisch vorgeht. Er verdeutlicht anhand der Geschichte des Jazz mit detailreichen Schilderungen vieler Ereignisse und Begebenheiten wie sehr die Emanzipation der schwarzen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten bis heute mit diesem Musikgenre verknüpft ist und damit an sich schon eine politisch aufgeladen ist. Immer wieder stellt er die Frage, ob durch Musik dem Zuhörer eine politische Aussage näher gebracht werden kann. Viele Ereignisse, die mit der Bürgerrechtsbewegung verknüpft sind, wurden von Jazzmusiker mit Instrumentalstücken kommentiert. Besonders an dem Stück „Alabama“ von John Coltrane arbeitet Kemper sich mit viel Detailwissen ab, da das Stück als Referenzstück des politischen Jazz gilt. Mit der Komposition reagiert John Coltrane auf einen Anschlag auf eine Kirche im Jahr 1963 bei der vier Mädchen starben. Das Saxophon als Instrument hat durchaus die Qualität Sprache nachzuahmen und daher nimmt man an, dass Coltrane an bestimmten Stellen im Stück die Grabrede von Martin Luther King und dem Satz „They did not die in vain“ mit seinem Instrument nachahmte.Vieles deutet darauf hin und das arbeitet Kemper mit viel Kenntnis der Materie heraus, dass direkte politische Botschaften nur sehr schwer über die Musik transportiert werden können und das wenn die Musik für sich alleine steht, der Hörer sich auf seine eigene Interpretation verlassen muss. Politische Ästhetik kann sich nicht alleine auf die Musik verlassen, sie braucht zusätzliche Symbole, um ihre Botschaft zu transportieren.

Die vielen Subgenres im Jazz, wie Bepop, Afrofuturismus, Free-Jazz, haben sich oft am Rande der Gesellschaft entwickelt und haben lange gebraucht um sich zu etablieren. Und mit ihren ausufernden Experimenten, Improvisationen, Emotionalität und Formenfreiheit haben sie das europäische Musikverständnis, das sich viel auf vorgegebene Strukturen verlässt und jegliche Abweichung mit hochnäsiger Arroganz begegnet, herausgefordert. Erst eine akademische Einordnung scheint uns eine Annäherung zu ermöglichen. Wenn wir die freie Ausdrucksweise des Jazz in unsere Formensprache pressen, können wir sie zwar reproduzieren, aber können wir den Jazz auch verstehen?

Peter Kemper hat seinem Buch zwei Zitate vorangestellt:

Franz Zappa:

“Ich bin nicht schwarz, aber es ist oft so, dass ich mir wünsche, nicht weiß zu sein.“

und von Archie Shepp:

„Es ist ein Fehler zu glauben, dass nur Schwarze über Black Music schreiben können. Der Diskurs zu diesen Fragen sollte so vielfältig wie möglich sein.“

Für mich beantwortet sie die oben gestellte Frage und gerade im letzten Teil des Buches, indem Kemper die Frage nach Musik als Sprache zum letzten Mal stellt und sie in einem sprach-kulturwissenschaftlichen philosophischen Kontext stellt, gibt es ein paar Hinweise, die mich als Musiker stark beeindrucken und wieder auf die Ausgangsfrage zurückführen: Kann Musik als Ausdrucksform politische Botschaften vermitteln? Ist Musik sprechfähig?

Jazzmusik ist stark verknüpft mit der Kunst der Improvisation. Der klassische Ablauf eines Jazzstückes: es wird ein Thema vorgestellt, eine Melodie, eingebettet in ein rhythmisches und harmonisches Gerüst und es wird im Anschluss darüber improvisiert. Die verschiedenen Instrumente scheinen in einen Dialog zu treten und es entsteht eine Art unvorhersehbare Unterhaltung über ein Thema. Dabei bedienen sich die Musiker sprachlicher Elemente, einer gemeinsamen Vokabular und Grammatik und je nach Situation und kultureller Prägung werden diese frei kombiniert.

Der Verlauf des Gespräches ist offen und unvorhersehbar. Dabei entstehen Fehler, so wie es bei jeder Unterhaltung zu Versprechern, Aussetzern oder unpassenden Pausen kommt. Wenn Musiker sich aufmerksam beim Spielen zuhören, werden sie den Fehler hören und in im besten Fall in einen Kontext setzen, indem der Fehler in einem anderen Licht erscheint. Also ist die Improvisation mehr als Geschwätz am Gartenzaun, sondern eine soziale Interaktion bei der Menschen aufeinander achtgeben und auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten. Hinzu tritt der Aspekt der narrativen Struktur eines Solos. Die Virtuosität seines Beitrages gilt nicht als Maßstab, sondern welche Geschichte er erzählen möchte. Dazu bringt er mehr ein, als nur sein handwerkliches Können, sondern seine ganze Persönlichkeit, seine Haltung, seine Emotionen und an dem Punkt knallt die Jazzmusik gegen die Mauer eines europäischen Verständnisses von Musik. Wir wollen Musik verstehen wie ein Sachverhalt und es widerstrebt uns Musik fühlbar zu machen. Dazu gibt es das Zitat von John Coltrane: „Das Einzige, was für mich zählt, ist ihre (der Hörer) emotionale Reaktion. Es geht vor allem um ein Gefühl der Kommunikation und nicht darum, dass man genau versteht, was ich mache.“

Über den Begriff des Gestus, den Bertholt Brecht in seinem Konzept vom epischen Theater eingeführt hat, kommen wir wieder zurück auf die eigentliche Thematik, inwieweit politische Aussage in Musik transportiert werden können. Ein bestimmter Gestus umschreibt die Ganzheitlichkeit bestimmter Haltungen. Er gestattet beispielsweise einem Musiker, „musizierend eine politische Haltung einzunehmen. Dazu ist es nötig, dass er einen gesellschaftlichen Gestus gestaltet.“

Ich habe mich jetzt länger mit dem Thema beschäftigen dürfen und nach der Lektüre des Buches habe ich, obwohl ich seit Jahrzehnten selbst Musik mache, einen Reflektionsraum für mich entdeckt, der mich auch mein eigenes Verständnis von Musik hinterfragen lässt.

Die Musik, die ich liebe, hat mich auch immer emotional berührt. Das ist auch vollkommen unabhängig vom Genre. Mein Ziel war es, die Musik zu verstehen, für mich nachspielbar zu machen und da beginnt das Problem. Man lernt Noten auswendig, nähert sich dem Sachverhalt  und konzentriert sich nicht darauf, die Stücke emotional zu durchdringen und wie es Jazzmusiker machen, sich auch anzueignen, mit dem eigenen Gestus auszufüllen.

Eine wichtige Aufgabe als Musiker scheint es zu sein,  diesen Schritt zu gehen und sich auf die Musik nicht nur technisch einzulassen. Das hat mir dieses Buch und die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Jazz erneut gezeigt.

Reihe 3, Platz 58 und 59: die Brücke von Mostar von Igor Memic

Der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien hatte sich Anfang der Neunziger Jahre allmählich in unser Bewusstsein geschlichen. Da das ehemalige Jugoslawien ein beliebtes Reiseland der Deutschen war, ging es anfangs nur um die Frage, ob man noch dort hinfahren könne. Als dann die ersten Urlauber aus dem Urlaub evakuiert werden mussten, weil im ehemaligen Jugoslawien kriegsähnliche Zustände herrschten, war klar, dass sich der schwelende Konflikt zu einem handfesten Bürgerkrieg entwickelte.

 Erst dann lernten wir, das Jugoslawien nur existiert hatte, weil der kalte Krieg, der Sozialismus und Tito es zusammengehalten haben und wir lernten, dass es keine Jugoslawen, sondern nur Kroaten, Slowenen, Bosnier, Kosovo-Albaner, Montenegriner und Mazedonier gab. Der langgehegte Hass auf die jeweils andere ethnische Gruppe ging auf die Schlacht ums Amselfeld im Jahre 1389 zurück. Bis dato kannten wir das Amselfeld nur als Bezeichnung für einen billigen und süffigen Rotwein und hätten uns nie vorstellen können, dass dort auf dem Amselfeld die Rechtfertigung für einen Bürgerkrieg in der Gegenwart begründet wurde.

 Als sich die Flamme des Hasses entzündete und zu einem Feuerinferno entwickelte, schienen die Protagonisten des Stückes „Die Brücke von Mostar“ wie wir ahnungslosen Mitteleuropäer ähnlich überrascht und ahnungslos zu sein, obwohl sie inmitten des Brandgebietes aufwuchsen.

 Emina betritt in einem mit roten Stoffrosen bestickten schwarzen Mantel die Bühne. Sie zieht einen riesigen Sack hinter sich her, rollt einen Teppich aus und beginnt ihre und die Geschichte ihrer Freunde zu erzählen.

 Das Stück beginnt Ende der Achtziger in Mostar. Mina, Leila und Sasha, lebensfrohe Jugendliche, denen amerikanische Popmusik und ausgelassenes Feiern wichtiger als alles andere ist, beobachten den alljährlichen Sprungwettbewerb von der alten Brücke, die die Namensgeberin und das Herz der Stadt Mostar ist. Sie lernen Mili kennen, der aus Dubrovnik in die Geburtsstadt seiner Mutter zurückgekehrt ist und der genauso wie die drei anderen von seiner jugendlichen Lebensfreude beseelt ist. Beim Sprung von der Brücke blamiert er sich zwar, gewinnt aber das Herz von Mina.

 Dann schleicht sich langsam aber unaufhörlich die Zwietracht in ihr Leben. Erst sind es nur Diskussionen um die Nachbarn und ihre Religion, später beginnt ein Kampf um alltägliche Dinge, die man nicht mehr in Geschäften kaufen kann, dann wird die Stadt geteilt in einen muslimischen und christlichen Teil, man muss sich entscheiden, ob jenseits oder diesseits der Brücke wohnen will, später marodieren Soldaten und Milizen durch die Stadt, bringen Zivilisten um, legen die Stadt in Schutt und Asche. Die vier Freunde versuchen sich gegen ihr Umfeld zu stemmen, handeln solidarisch und leben das Gegenmodell zum blinden Hass, der ihre Stadt in ein Kriegsgebiet verwandelt hat.

 Und trotz aller Bemühungen die Freundschaft und Zuneigung zu erhalten, können sie sich dem Konflikt um sich herum nicht entziehen. Als Leilas Mutter nach einem Hausbrand verschwindet und später wieder auftaucht, versucht Sasha, der als Soldat seinen Dienst verrichtet, sie zu ihrer Mutter zu bringen, dabei wird Leila getötet. Dann dringen Soldaten in Minas und Milis Wohnung ein. Mina entkommt nur knapp, weiß aber nicht, was mit Mili geschehen ist. Sie erreicht die Brücke, die zum gleichen Zeitpunkt in die Luft gesprengt wird.

 Die schwangere Mina kann sich retten, findet später Mili in einem Lazarett, der aber bald darauf stirbt. Sie zieht ihr Kind alleine groß, trifft später Sasha, der an dem Krieg, dem Tod von Leila und seinem verpfuschten Leben verzweifelt und sich kurz darauf umbringt.

 Es bleibt nur noch Mina übrig, die als Emina, ihre älteres Ich, die Geschichte erzählt.

 Außer einem Gerüst, das im vorderen Teil der Bühne in die Höhe schießt, gibt es kein Bühnenbild. Die Inszenierung lebt alleine von der gefühlsstarken und lebendigen Darstellung der Schauspieler. Emina ist Teil ihrer Erzählung, Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen miteinander und wenn die Emina mit Mina vor dem Gerüst am Ende tanzt, weiß man das nicht alles vergebens war und ihr die Erinnerung an ihre Freunde und ihr lebensfrohe Jugend hilft, ihr eigene Geschichte zu verstehen und zu ertragen.

 Selten hat mich eine Inszenierung in Gießen so emotional berührt. Nach der Pause gelang es mir kaum, die Tränen zurückzuhalten. Wir haben quasi mit den Protagonisten auf der Bühne mitgeheult. Aber wir sind in einer komfortablen Lage und mitheulen bei Filmen oder Theaterstücken sollte nicht nur dazu dienen, seine Emotionen, die man im Alltag ja oft eher kontrollieren muss, freien Lauf zu lassen. Empathie für Schauspieler aufzubringen, die eine tragische Situation simulieren, ist für friedensverwöhnte Mitteleuropäer eine leichte Übung. Man muss aufpassen, dass man den Hass, der direkt an der nächsten Ecke auf einen wartet, nicht in sein Herz und Gehirn hineinlässt. Dazu reicht es nicht, in Theatern zu heulen. Dazu braucht es Wachsamkeit, Mut und eine Lebensfreude, die die vier jungen Menschen in Mostar Ende der Achtziger zusammengeschweißt hat. Falls man aus diesem Stück so etwas wie eine Moral oder Lehre ziehen möchte, dann vielleicht: lass dir deine Lebensfreude und deine Freunde nicht von dem Hass der anderen nehmen.

Stillleben Deutschland IV: Flüchtlingsunterkunft.

Früher blieben sie oft unsichtbar. Die Ausgrenzung zeigte sich in den Gebäuden, den man Flüchtlingen als Wohnraum zur Verfügung stellte. An Ausfallstraßen, in heruntergekommenen Vierteln der Stadt, alte, fast nicht mehr bewohnbare Immobilien, ehemalige Unterkünfte von Gastarbeitern, jenseits der Bahngleise, in der Nähe von Industrieanlagen, ehemalige Kasernen, abgelegen und versteckt vor den Augen des besorgten Bürgers. In den Neunzigern drängte man die unliebsamen Besucher, die man nicht eingeladen hatte, an den Rand der Siedlungen und somit an den Rand der Gesellschaft. In der Isolation sollten sie möglichst unsichtbar bleiben. Die öffentliche Meinung produzierte ein anderes Bild. Man sah überall nur noch Fremde, die in den Fußgängerzonen herumlungerten, nicht arbeiteten und nicht dazugehören wollten. Ein paar Anschläge später auf Flüchtlingsunterkünfte und Wohnhäuser von Menschen mit Migrationshintergrund und einem unsäglichem Asylkompromiss mit der im Bundestag 1993 das deutsche Asylrecht deutlich verschärft wurde, ebbte die Flüchtlingswelle ab. Danach kehrte lange Ruhe ein. Flucht und Flüchtlinge betraf uns auf wundersame Weise nicht mehr. Die alten oft baufälligen Flüchtlingsunterkünfte wurden abgerissen oder zu Spielhallen oder Wohnungen für sogenannten Harzer umgewidmet (die als Sündenböcke der Nation die Flüchtlinge ersetzten). Die anstrengenden Warnungen, dass wir eines Tages, wenn wir mit der Ausbeutung der dritten Welt nicht aufhörten, die Heerscharen die Probleme, die wir ihnen bereitet hatten, wieder zu uns zurückbrächten, wurde von einem Großteil der Menschen ignoriert.

 Bis 2015 haben uns die vielfältigen Fluchtbewegungen auf der Welt nicht interessiert. Und plötzlich waren die Menschen aus dem globalen Süden wieder da. Sie hatten weite und gefährliche Wege auf sich genommen und anfangs hatte man sie noch freundlich empfangen, um sie kurze Zeit später zur Mutter alle Probleme zu erklären. Diesmal löste man an vielen Orten das Unterkunftsproblem, in dem man unzählige Baucontainer zu Wohnräumen umfunktionierte. Man dachte, das sei billig und man könne sie einfach wieder wegräumen, wenn das Problem sich bald wieder von selbst erledigte. Der Markt für Baucontainer war bald leergefegt. Es gab keine mehr zu kaufen oder zu mieten. In Niedergirmes, vor dem ehemaligen Schlachthof hatte man ein solches Containerdorf aufgebaut, aber niemals benutzt. Nach Rechtsstreitigkeiten wurden die Container ein paar Jahre später wieder abgebaut ohne dass jemals auch nur ein Flüchtling dort untergebracht war. Da die Containeransammlungen nicht ausreichten, wurden alle leerstehenden Gebäude, ob sie nun als Wohnraum geeignet war oder nicht, zu Sammelunterkünften umfunktioniert. Leerstehende Baumärkte, Hotels, Gewerbehallen, alles wurde genutzt.  Damals entstand die Legende von den überforderten Kommunnen und Ämtern. Flüchtlinge, die vierundzwanzig Stunden in Berlin vor einer Behörde ausharren mussten, um einen Termin zu bekommen, erhitzten die Gemüter. Skurrile Possen, die natürlich auch dazu beitrugen die Auswirkungen der Flüchtlingswelle künstlich aufzublasen. Natürlich waren Ämter und Kommunen überfordert, aber nicht alleine weil viele Menschen nun die Ämter nutzen mussten, sondern auch weil der Staat jahrelang die öffentliche Infrastruktur zurückgefahren hatte. Die moderne öffentliche Infrastruktur der Bundesrepublik bestand darin, stetig einen Strom von neuen Regeln abzusondern und sich gegen die Modernisierung sprich Digitalisierung zu wehren.

 Die Zahlen gingen ab 2016 wieder zurück und die Republik musste sich andere Aufreger suchen. Seltsamerweise entwickelten sich auch die Wählerzahlen der AFD zurück und bis zur Coronakrise waren die Nörgler und Empörungswilligen leiser geworden. Dann kam Corona und der nächste Aufreger war gefunden. Und als das Virus seinen Schrecken verloren hatte, geriet man schnell wieder in seinen alten Trott. Der Krieg in der Ukraine spülte hundertausende von Menschen in die Bundesrepublik und aktivierten ähnliche Reflexe wie die Flüchtlingskrise im Jahr 2015. Erst zeigte man sich solidarisch, empfing die Menschen freundlich, gab Ihnen Unterkunft und zeigte Mitgefühl. Und nach einem halben Jahr begann das Stänkern. Die Gastfreundschaft war schon zu Ende. Dann kamen noch in 2023 einige Flüchtlinge aus Afghanistan und anderen fernen Ländern dazu und eines der wohlhabendsten Länder dieser Welt stand wieder am Abgrund. Es begannen die gleichen unsäglichen Diskussionen wie in den Neunzigern und die geistigen Brandstifter erklärten Deutschland zum Weltsozialamt. Das Bundesamt für Flüchtlinge verteilt die Menschen nach dem Königsberger Schlüssel. Dieser Schlüssel hat zur Auswirkung hat, das die bevölkerungsreichsten Bundesländer die meisten Menschen aufnehmen müssen. Die Länder verteilten die zugewiesenen Flüchtlinge weiter auf die Kommunnen. Die Politik hat anscheinend aus 2015 nicht gelernt. Und trotzdem hatte man sich weiter entwickelt und die Probleme zeitnah in den Griff bekommen. Hier in Wetzlar hat man ein Festzelt, das normalerweise für ein Volksfest genutzt wurde, zur Flüchtlingsunterkunft umgewidmet. Die bierselige Kathedrale des Frohsinns wurde entweiht, weil man dort womöglich Menschen aus fremden Kulturen unterbrachte. Das war aus vielerlei anderen Gründe keine optimale Lösung, aber so hatte sich die Kommune Zeit verschafft und innerhalb ein paar Monaten hatte man Standorte für neue Unterkünfte gefunden. Die größte dieser Unterkunft hatte man bei uns um die Ecke auf dem ehemaligen Festplatz an der Bachweide errichtet. Auf dem Platz sollte eigentlich ein Erweiterungsbau der Berufsschule entstehen, die direkt neben dem Platz ihren Standort hat. Diesmal nahm man keine Container, sondern ein Zelt, belüftet und beheizt, mit einem getrennten Sanitär und Kochbereich. Mit Absicht hat man die Unterkunft in der Nähe der Innenstadt aufgebaut, damit die Flüchtlinge, die Möglichkeit hatten, ohne große Wege zu den Ämtern zu kommen und einkaufen zu können. Diesmal hatte man die Flüchtlinge nicht versteckt oder in baufällige Unterkünfte gesteckt. Die Unterkunft lag in Sichtweite des Stadions und des Rathauses und war für jedermann sichtbar. 

 Als das Zelt aufgebaut war und die ersten Menschen kamen, machten auch schon die üblichen Bedenken ihre Runden. Die Menschen hatten nichts dazu gelernt, im Gegenteil, die öffentliche Meinung bestätigte sie in ihrer Angst, dass mit den Flüchtlingen Gewalt und Kriminalität ins Viertel kam. Die Unterkunft war anderthalb Jahre bewohnt und wir haben niemals irgendeine unangenehme Situation erlebt. Die Menschen, die dort untergebracht waren, sind uns auf der Straße oft begegnet, meistens gingen sie in Richtung Stadt oder kamen aus Richtung Stadt. Zum Joggen kam ich oft an der Unterkunft vorbei. Im Frühjahr und Sommer haben sich die Menschen draußen aufgehalten, einem nett zugewunken oder angefeuert. Auf dem Sportplatz in der Nähe trafen sich Männer aus der Unterkunft regelmäßig zum Kricketspielen. Leider hat man nie näheren Kontakt zu den Menschen dort bekommen. Für die Flüchtlinge war die Unterkunft nur eine Zwischenstation. Ab dem Sommer letzten Jahres hat man deutlich gespürt, dass die Situation sich entspannt und immer weniger Menschen im Zelt untergebracht waren. Man hatte in der Zeitung angekündigt, dass man im März die Einrichtung schließt und abbaut, damit die Bauarbeiten für den Erweiterungsbau der Berufsschule beginnen können. Die Situation hatte sich zwar entspannt, aber die Diskussion um Flüchtlinge wurde immer schärfer geführt und nicht nur die AFD hat sie genutzt, sondern auch die CDU, um im Wahlkampf punkten zu können. Kurz nachdem Merz mit den Stimmen  der AFD sich seinen Fünf-Punkte-Plan zur Migration im Bundestag hat absegnen lassen, wurde die Einrichtung geschlossen. Ende März begannen die Abbrucharbeiten. Jetzt stehen nur noch unzählige Betonblöcke auf dem Gelände und alle warten auf den Beginn der Bauarbeiten für den Erweiterungsbau der Berufsschule. Es fühlt sich fast an, als hätte es die Sammelunterkunft nie gegeben.

Wieviel Leben passen in ein einziges Leben hinein?

Nachdem mich das richtige Leben wieder einmal ein halbes Jahr vom Schreiben abgehalten hat, versuche ich wieder an meine Romanidee vom Sommer 24 anzuknüpfen. Ich hatte ja großspurig ein paar Kurzgeschichten versprochen. Trotz allem war ich nicht untätig, aber zu Kurzgeschichten hat es nicht gereicht. Im Moment strukturiere ich die Geschichte, um einen Plot herauszufiltern, der mich und hoffentlich auch die Leser ansprechen wird. Dabei kommen manchmal ulkige Dinge zum Vorschein, wie z.B. der folgende nicht ganz ernst gemeinte Klappentext…obwohl er schon die wirklichen Figuren und ein Konflikt beinhaltet, der mich an der Geschichte interessiert.

Hier nun der Klappentext für den Roman: „Wieviel Leben passen in ein einziges Leben hinein?“

Die Familie Rabe ist eine scheinbar glückliche Familie. Fabian Rabe ist ein erfolgreicher Unternehmer, seine Frau Leonie eine tolle Mutter und die dreijährige Elli ein kleiner Sonnenschein. Sie leben glücklich und einträchtig in einem neuen schicken Haus am Stadtrand. Eines Tages zieht die Kinderfrau Tula Andersen zu ihnen und entdeckt hinter der Fassade der glücklichen Familie ein Geheimnis.

Fabian Rabe führt ein Doppelleben: tagsüber der eloquente Unternehmer, abends der treusorgende Vater und nachts umtriebig unterwegs, um seine Begierde freien Lauf zu lassen.

Als er alles aufs Spiel setzt und mit seiner Geliebten und seinem Geliebten ein neues hedonistisches Leben beginnen will, stellt sich ihm Tula in den Weg….was wird er tun? Wird er Tula aus dem Weg räumen und ein Leben auf der Flucht führen? Wird er reumütig zu seiner lieben Frau und seiner süßen Tochter zurückkehren? Lesen sie dieses spannende und moralisch einwandfreie Machwerk über das Glück, dass Mann nur in einer heterosexuellen gesetzlich legitimierten Ehe finden kann.

(Das KI-generierte Bild zum Klappentext ist genauso erschreckend flach wie der Klappentext…da hat die KI gut getroffen…)

Meine Heldin

Nachdem wir in 2012 unser Haus am Rande der Innenstadt bezogen hatten, wollte ich nach längerer Unterbrechung wieder regelmäßig Sport treiben. Ich hatte in den Jahren davor deutlich an Gewicht zugelegt und auch schon die ersten Anzeichen von Bluthochdruck. Ab und zu mal ein paar Runden zu schwimmen oder am Wochenende bei schönem Wetter eine Mountainbiketour zu machen, reichte nicht aus und passten nicht zu den wenigen Freiräumen, die mir mein eng getakteter Terminplan übrig ließ. Laufen erschien eine gute Alternative zu sein, denn hinter unserem Haus beginnt ein flacher geteerter Feldweg, der ein paar Kilometer an der Lahn entlangführt. Mit dem Laufen zu beginnen, hat mich einige Überwindung gekostet. Es stellte sich aber als der effektivste Weg heraus, um nach der Arbeit ohne viel Aufwand Sport zu treiben. Am 22.09.2013 habe das erste Mal meine Aktivität über Running aufgezeichnet…2,08 km in 16.37 Minuten. Obwohl ich in den billigen Jogginghosen und den Turnschuhen eher unelegant schnaufend die wenigen Meter mit brennenden Oberschenkeln überwand, war ich unglaublich stolz auf meine Leistung. Ich wollte mehr davon und seitdem laufe ich regelmäßig, im Moment dreimal die Woche und mittlerweile ganzjährig, egal ob es kalt ist oder die Sonne mich grillt, es regnet oder schneit oder stürmt: Nichts hält mich von meiner Laufroutine ab.

 Mittlerweile laufe ich recht stabil die Halbmarathonstrecke und seit drei Jahren nehme ich mir vor, endlich einen Marathon in Angriff zu nehmen. Allerdings scheitere ich jedes Jahr an meinen eigenen Bedenken. Um mich auf den Ernstfall eines echten Stadtmarathons vorzubereiten, nehme ich recht regelmäßig an Volksläufen teil. Am Sonntag bin ich zum ersten Mal beim Frühjahrslauf in Gießen gestartet. Man läuft vier flache Runden auf geteerten Feldwegen und ebenen Waldwegen zwischen dem Schwanenteich und der Wiesecker Au. Vor meinem allerersten Halbmarathon hatte ich ein Trainingsprogramm über vier Monate absolviert, dass aus der wöchentlichen Routine eines schnellen fünf-Kilometer-Lauf, eines Intervalllaufes und eines Longruns über 10 oder 15 Kilometer besteht. Ich habe diese Routine beibehalten und kann quasi einen Halbmarathon aus dem Stand laufen. Momentan bin ich gesundheitlich etwas angeschlagen, da ich Magenprobleme habe (Stress und Gastritis) und hatte die Woche über wenig geschlafen. Eine Woche vor einem Halbmarathon mache ich einen Longrun über 15 Kilometer und versuche dabei auch an meine Grenzen zu gehen. Danach laufe ich unter der Woche nur noch zweimal langsame Grundlagenausdauerläufe über 5 Kilometer (die berühmten Zone 2-Läufe). Ich hatte mich anderthalb Wochen vor dem Rennen angemeldet und war die ganze Zeit über in Sorge, ob ich mir nicht zu viel zumute. Ich hatte mich schon überredet, es als Trainingslauf zu betrachten, um meine Erwartungshaltung an meine körperlichen Voraussetzungen anzupassen. 

 Trotz Zeitumstellung hatte ich gut und ausreichend geschlafen, bin rasch aufgestanden, habe mein Müsli gefuttert, einen Kaffee getrunken und mich auf den Weg nach Gießen gemacht. Ich fühlte mich wider Erwarten sehr gut und war vollkommen fokussiert.  

 Volksläufe oder stadionferne Wettbewerbe wie sie offiziell heißen, stehen für jeden Läufer offen. Man muss keinem Verein angehören und man braucht keine bestimmten Leistungsnachweise erbringen. Früher belächelte ich die Horden von schwitzenden Menschen, die an Wochenenden in bunten Laufklamotten durch Wälder und über Felder hetzten. Heute weiß ich dass es keine demokratischere und sozialere Sportveranstaltung gibt. Man bezahlt 10 EUR, bekommt eine professionell gemessene Zeit, kann sich mit anderen messen und es ist egal, ob man sich als Leistungs- oder Freizeitsportler betrachtet, ob man alt oder jung ist, seine Leistung steigern will oder einfach nur mit ein paar Leuten eine gute Zeit haben will, jeder ist willkommen und bekommt nach dem Lauf Tee und Bananenstücke so viel wie er will.

 Und trotzdem wollte ich für unseren Verein laufen. Der SV Niedergirmes ist ein junger Verein. Meine jüngsten Kinder spielen dort Handball und meine Frau ist Co-Trainerin einer Handball-Mädchenmannschaft. Einen Ort weiter gibt es einen in der Region sehr bekannten Verein für Laufsport. Er ist ein Sammelbecken für Triathleten und Marathonläufer, die einen gewissen Leistungsanspruch an sich haben. Der SV Niedergirmes hat keine Laufabteilung. Aber das ist egal, es geht ja nur um die Geste und meinen eigenen Dickkopf. Ich renne nicht mit den ambitionierten Athleten, die auf ihren dünnen Beinchen tausende von Kilometern jedes Jahr hinter sich bringen und sich über ihren VO2max definieren. Ich bin der Underdog, die Einmann-Laufabteilung.

 Das Laufen hat mein Leben verändert. Das Laufen gibt mir Kraft, Zuversicht, das Gefühl meine Grenzen erweitern und Hindernisse zu überwinden zu können. Manchmal halte ich mich beim Laufen in meinem eigenen mentalen Grenzbereich auf. Ich bin dann auf mich zurückgeworfen, spüre jede Faser meines Körpers und den Rhythmus meine Atembewegungen. Nur ich selbst, mein Körper, meine Beine, meine Arme und mein Willen bringen mich ins Ziel. Botenstoffe und Hormone versetzen mich in einen emotionalen Ausnahmezustand und öffnen mich für neue Erfahrungen und Gedanken. Als ich das erste Mal den Halbmarathon unter zwei Stunden gelaufen bin, saß ich eine halbe Stunde im Wohnzimmer auf einem Sessel und habe vor Glück geheult. Nicht das Unterschreiten der zwei Stunden haben das Gefühl erzeugt. Es waren die Magie zwei intensiver Stunden, in denen ich mich selbst überwunden habe.

 Während des Frühjahrslaufs hatte ich auch eines dieser magischen Erlebnisse. Es war in der zweiten Runde. Parallel zum Halbmarathon hat das fünf Kilometer Walking-Wettbewerb stattgefunden. Ich lief in die Wieseckau rein und sah ein Paar, das einen leeren Rollstuhl vor sich herschob. Ein paar Meter vor dem Paar lief ein Mädchen im Alter von zwölf Jahren oder älter, ich nehme mal an mit einer spastischen Lähmung, aber ich kenne mich da nicht aus. Ich dachte, das Paar und das Mädchen machten einen Spaziergang. Das Mädchen war flott unterwegs, obwohl ihr das Laufen sichtlich schwer fiel. In der Wieseckau war ein Wendepunkt und auf dem Rückweg lief ich wieder an dem Mädchen vorbei. Das Mädchen trug die Startnummer zweiunddreißig. Sie nahm also am Walking-Wettbewerb teil. Ich bin langsam an ihr vorbei gelaufen. Ich hatte nach ca. neun Kilometer meine erste Krise. Ich sah nicht ihre körperliche Einschränkung, sondern ihr freundliches und offenes Antlitz und ihren unermessliche Freude über das was sie zu leisten imstande war. Ab diesen Moment war sie meine Heldin. Die Nummer zweiunddreißig trug mich durch das Rennen. Immer wenn ich zurückfiel, dachte ich an sie und ihre Kraft und Zuversicht und wie leicht es doch war, wenn man an sich glaubte und einfach macht, anstatt immer zu zweifeln.  Und so kämpfte ich mich durch die einundzwanzig Kilometer und lief nach knapp zwei Stunden mit meiner persönlichen Bestzeit in den Zielbereich. Als ich durch das Ziel lief, begrüßte mich der Sprecher, der das Rennen mit seinen motivierenden Kommentaren begleitete, mit dem Hinweis, dass ich vom SV Niedergirmes sei und der besagte Nachbarverein mal bei uns Werbung machen sollte…lieber nicht..denn ihr seid nicht meine Helden. Meine Heldin trug die Nummer zweiunddreißig, brauchte für die fünf Kilometer 1 Stunde und 9 Minuten und kam als letzte durchs Ziel…ach scheiß drauf…für mich hat sie gewonnen.

Alle Jahre wieder….

Gestern haben sich einige hundert Menschen in Wetzlar vor dem Herkules-Center in der Bahnhofstraße versammelt, um die Demokratie zu verteidigen und mit anschließender Menschenkette, die ungefähr einen Kilometer lang vom Herkules-Center vorbei am Stand der AFD. über Karl-Kellner-Ring und Langgasse bis über die alte Lahnbrücke reichte, zu zeigen, dass die Demokratie noch lange nicht am Ende ist.

Die „Omas gegen Rechts“ (Ortsgruppe Wetzlar) hatte eingeladen und obwohl man an diesem Tag die ganze Kraft bürgerlichen Engagements zu spüren bekam, fällt es mir schwer, optimistisch in die Zukunft zu blicken. In den letzten Jahren hat sich in Wetzlar das bürgerliche Engagement für Demokratie, Zusammenhalt, Toleranz und Vielfalt neu positioniert. Einige Gruppen, die sich um diese Themen kümmern, haben sich gegründet und zeigen mit ihrem Engagement, dass man die Stadt nur gemeinschaftlich gestalten kann und dass es ein Miteinander über alle Meinungsgräben hinweg geben muss. Rund um die Omas gegen Rechts, Wetzlar Solidarisch, Wetzlar erinnert ist viel Positives in der Stadt geschehen und trotzdem scheint es nicht zu reichen.

Letztes Jahr um die gleiche Zeit waren wir demonstrieren, weil sich Rechtsextreme in Potsdam getroffen hatten, um einen Plan für die Remigration von Asylsuchenden und Menschen mit Migrationshintergrund zu diskutieren. Die Empörung war groß…und was ist geschehen? Frau Weidel hat auf dem Bundesparteitag der AFD das Wort Remigration voller Stolz ausgesprochen und es als Teil des Programmes der AFD vorgestellt. Herr Merz, Teile der CDU, CSU, die FDP übernehmen Positionen der AFD und wollen gerne Remigration light betreiben…man denke nur mal an die Diskussion um Syrer, die nach Ende des Assad-Regimes bitte alle verschwinden sollen. Natürlich ist das ganze populistische Gebrüll rund um die Migration als Mutter aller Probleme und das Abstimmen mit AFD im Bundestag auch teil einer solchen menschenfeindlichen Programmatik.

Wenn Isabel Schayani in einer Hart aber Fair-Sendung die einzig richtigen Worte für die Misere findet, in dem sie konstatiert, dass wir mittlerweile über Menschen wie über Klappstühle reden und ihre Worte schnell untergehen, weil sich alle anderen versuchen mit ihren abscheulichen Ideen rund um Begrenzung der Migration zu überbieten, kann ich eigentlich nur davon ausgehen, dass Parteien wie die AFD uns in nicht ferner Zukunft regieren werden.

Das emsige Suchen von Sündenböcke scheint für Politiker wieder die einzige Möglichkeit zu sein, um sich zu profilieren. Natürlich ist unsere Infrastruktur vom stetigen Strom von Flüchtlingen unter Druck geraten. Aber niemand fragt mehr, warum unsere Infrastruktur darunter leidet? Wohnungsmangel, zu wenig Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, Bildungsnotstände, überforderte Behörden und Kommunen hat kein einziger Flüchtling zu verantworten, sondern die Politiker, die in den letzten zwanzig Jahren diese Entscheidungen treffen konnten.

Ich bleibe pessimistisch und trotzdem werde ich weiter an Demonstrationen teilnehmen, meine Meinung kund tun und mit Menschen, egal welche Meinung sie vertreten, im Gespräch bleiben und ich bin sehr dankbar dafür, dass es in unserer Stadt Menschen gibt, die sich engagieren und es nicht zulassen wollen, das die Demokratie nicht einfach ausblutet.

Reihe 3, Platz 58+59: Die Orestie von Aischylos 

Nach der Festtagsvöllerei, die uns träge hat werden lassen, verlangt unser Abo, das wir aus dem Hause gehen, um im Stadttheater Giessen die zweitausendfünfhundert Jahre alte in der antiken Welt eingebettete Tragödie über Rachsucht und blinden Hass zu konsumieren. Wir haben in den letzten Tagen so viel in uns hineingestopft, warum sollen wir uns dann einem altbackenen Stück zuwenden, in dem Götter auf die Menschen herabschauen und sie herumschubsen. Wir leben doch zum Glück in einer Welt, in der Götter keinen Zugriff auf uns haben. Da kann das so kurz nach Weihnachten im Theater keine Stimmung aufkommen, oder? Die Zusammenfassung der blutrünstigen Handlung: Agamemnon, der Herrscher über Mykene und Anführer der Griechen im Kampf um Troja, opferte seine Tochter Iphigenie, um weiter nach Troja segeln zu können (Wie wir in Goethes Stück „Iphigenie auf Tauris“ gelernt haben, hat er sie gar nicht getötet, sondern nach Tauris geschickt, aber das spielt hier gar keine Rolle). Seine Frau Klytaimestra ist deshalb stinkesauer. Während der langen Abwesenheit ihres Ehemannes beginnt sie eine Affäre mit  Aigisthos. Agamemnon kehrt nach zehn Jahren als Sieger aus dem trojanischen Krieg zurück und Klytaimestra tötet sogleich ihren Gatten. Worauf hin ihr Sohn Orest, den sie kurz vor der Rückkehr seines Vaters weggeschickt hatte, wieder nach Hause kommt, um sie und ihren Liebhaber zu killen. Daraufhin werden die Erynnen (die Rachegöttinnen) zu den Eumeniden (die Wohlgesinnten – der eine oder andere erinnert sich vielleicht an den gleichnamigen Roman von Jonathan Littell, der sich auf die Orestie bezieht). Aber wie sich Rachegöttinnen in die Wohlgesinnten verwandeln können, überfordert meinen in Fett und Alkohol ertränkten Geist. Ausnahmsweise waren wir sehr früh im Theater, kauerten gähnend in den roten Sesseln und warteten auf die Darstellung zahlreicher widerwärtiger Morde unter Verwandten. Das karge Bühnenbild bestand aus einer großen Leinwand, die über die ganze Breite der reichte und so die Bühne verkleinerte und zwei Leinwände an den Seiten.  Zuerst betrat Lyhre die Bühne, die schon in der letzten Spielzeit bei Neometropolis die Inszenierung mit ihrer Musik erweitert hatte. Iphigenie betritt die Bühne und erzählt die Vorgeschichte, emotional sehr aufgeladen und einer hektischen Choreographie folgend. Mit dem Wächter, der an einem Spiegeltisch sitzend berichtet, dass er jahrelang Nachts auf die Feuersignale warten musste, die das Ende Trojas verkünden und nun in dieser Nacht das Signal am Himmel erschienen ist, beginnt das eigentliche Stück und das Drama nimmt seinen Lauf. Zum ersten Mal kommen die beiden Leinwände zum Einsatz. Das Spiegelbild des Wächters wird auf die Leinwände übertragen und man ist ganz nah an dem mimischen Spiel des Schauspielers dran.  Dieser Effekt wird im Verlauf des Abends noch öfter zum Tragen kommen. Zwei Kameras auf der Bühne nehmen die Schauspieler auf und Ihr großes Abbild erscheint auf den großen Leinwänden und vervielfacht und vertieft ihr Spiel. Leider hat man ein kleines Latenzproblem und man hört die Stimmen der Schauspieler, sieht aber auf dem Bildschirm nur zeitverzögert wie sich die Lippen zu den Worten bewegen.  Zweimal werden große 3-D-Installationen auf die Leinwände geworfen. Während Klytaimestra ihren Monolog hält, folgt man dem Flug zwischen den Hochhäusern einer fiktiven Stadt und während Agamemnon mit geschundenem und nacktem Oberkörper sich seiner Taten rühmt, steht er inmitten einem dreidimensionalen Abbild eines Autotunnels. Der Chor, ein typisches Stilmittel der griechischen Tragödie, der ja immer so etwas wie die Stimme des Volkes darstellt wird nur von Roman Kurtz als alter weiser Mann dargestellt.  Die Schauspieler sind in Hochform, bis auf Amina Eisner, die die Kassandra gibt und immer wieder beim Text stolpert und ins Stocken gerät. Vielleicht nicht ihr bester Tag und ganz bestimmt gibt es einen Grund dafür. Frau Minetti als wütende und zornige Klytaimestra, die schon lange den Pfad der Vernunft hinter sich gelassen hat, bestimmt den ersten Teil im Wechselspiel mit dem Chor. Ihre Präsenz und ihre Unerbittlichkeit nehmen schon den Rachefuror vorweg und als Agamemnon der geschundene Held müde und erschöpft nach Hause kommt, wird er gleich von Klytaimestra in die Enge getrieben, gedemütigt und schließlich gemeuchelt. Und so geht der erste Teil des Schauspiels recht geschmeidig und wider Erwarten kurzweilig vorüber.  Die Verknappung des Bühnenbildes, die Songs, in denen es um Unterwerfung, Blut und Tod geht, die Bildeffekte und das engagierte Spiel der Darsteller lassen das Stück in der Gegenwart ankommen. Es werden Interpretationsspielräume geöffnet, die uns nicht nur erschauern lässt, sondern auch zum Nachdenken bringen. Man ist bewegt von der Frage, ob diese Kette von Gewaltakten jemals unterbrochen werden kann. Die gekränkte Eitelkeit, der eigene Ehrgeiz, seinen Nachbarn zu besiegen, um als Held in die Geschichte einzugehen, rechtfertigt jedes Opfer, auch den Tod der eigenen Tochter und wenn die Mutter aus Rachsucht über den Vater richtet, ist das ein Akt der Selbstjustiz, die jegliche Rechtstaatlichkeit verhöhnt. Die Beispiele aus der Gegenwart kann man jeden Tag in den Nachrichten nachvollziehen und die Götter waren auch schon bei den alten Griechen nichts anderes als die dumme Entschuldigung für Missetaten. Es sind Menschen, die Menschenrechte ignorieren und Menschen meucheln andere Menschen. Dafür brauchen sie keine Götter. Dann endet der erste Teil und ich muss erst einmal tief durchatmen. Unsere Reihe 3 und die zwei Reihen vor uns waren gut besetzt. Nach der Pause sitzt links neben uns niemand mehr. Auch vor uns haben sich die Reihen gelichtet. Wir fragen uns, ob da der ein oder andere die Gelegenheit genutzt hat, um nebenan auf dem Weihnachtsmarkt am Berliner Platz sich mit Glühwein die Welt schön zu saufen. Der Inhalt des Stückes mag einem eskapistisch handeln lassen. Aber die Inszenierung ist alles andere als zum Weglaufen. Teil zwei und drei der Geschichte fallen deutlich zum ersten Teil ab. Orest und Elektra sinnieren über die Rache an ihrer Mutter und bringen sie und ihren Geliebten, der von David Gaviria irritierenderweise als narzisstische Andy Warhol-Kopie gespielt wird, um die Ecke und am Schluss tauchen alle Toten auf und sitzen im dritten Teil über Orest zu Gericht. Hier hat man sich das ganze Götter- und Tempelgedöns  gespart und eher in einen Diskurs über Rache, Vergebung, Recht und Freiheit investiert. Die zahlreichen Stimmen der Schauspieler verhandeln die Dinge der Menschen, ob sie nun Rachegöttinnen, Wohlgesinnte, Athene oder sonst wen darstellen hat keine Bedeutung. Am Ende wird Orest freigesprochen und verspricht seinen Nachbarn nicht mehr anzugreifen oder sich mit ihm zu streiten. Das Stück ist unvermittelt zu Ende. Die Zuschauer brauchen eine Weile, bis sie es merken und mit ihren Handflächen frenetischen Applaus erzeugen. Ein wohlverdienter Applaus…

Tristesse

In deiner Stadt. Stehst an der Straße. Wartest auf das Nichts.

Die Dunkelheit lastet auf deiner Seele. Eine gewichtslose Masse.

Frisst alles Licht. Frisst alle Sehnsüchte und Hoffnungen.

Frostiger Ostwind lähmt wie ein Nervengift deine Glieder.

Hass, Tod, Verderben, Krieg, Leid, Hunger, der Stacheldraht,

der sich um deine Gedanken windet und sich zuzieht.

Die Dornen bohren sich in die graue Eminenz. Dein Schädel pocht.

Dann aus der Ferne: Reggae-Musik. Ein Lichtkegel bewegt sich auf dich zu.

Der Sommer kommt auf einem Fahrrad gefahren. Licht und Musik eilen an dir vorbei.

Sterben in der Vergangenheit.

Und doch: Der Stacheldraht lockert sich. Einzelne Gedanken können fliehen,

folgen dem Fahrrad, dem Licht, der Musik, der Zukunft.