Meine Heldin

Nachdem wir in 2012 unser Haus am Rande der Innenstadt bezogen hatten, wollte ich nach längerer Unterbrechung wieder regelmäßig Sport treiben. Ich hatte in den Jahren davor deutlich an Gewicht zugelegt und auch schon die ersten Anzeichen von Bluthochdruck. Ab und zu mal ein paar Runden zu schwimmen oder am Wochenende bei schönem Wetter eine Mountainbiketour zu machen, reichte nicht aus und passten nicht zu den wenigen Freiräumen, die mir mein eng getakteter Terminplan übrig ließ. Laufen erschien eine gute Alternative zu sein, denn hinter unserem Haus beginnt ein flacher geteerter Feldweg, der ein paar Kilometer an der Lahn entlangführt. Mit dem Laufen zu beginnen, hat mich einige Überwindung gekostet. Es stellte sich aber als der effektivste Weg heraus, um nach der Arbeit ohne viel Aufwand Sport zu treiben. Am 22.09.2013 habe das erste Mal meine Aktivität über Running aufgezeichnet…2,08 km in 16.37 Minuten. Obwohl ich in den billigen Jogginghosen und den Turnschuhen eher unelegant schnaufend die wenigen Meter mit brennenden Oberschenkeln überwand, war ich unglaublich stolz auf meine Leistung. Ich wollte mehr davon und seitdem laufe ich regelmäßig, im Moment dreimal die Woche und mittlerweile ganzjährig, egal ob es kalt ist oder die Sonne mich grillt, es regnet oder schneit oder stürmt: Nichts hält mich von meiner Laufroutine ab.

 Mittlerweile laufe ich recht stabil die Halbmarathonstrecke und seit drei Jahren nehme ich mir vor, endlich einen Marathon in Angriff zu nehmen. Allerdings scheitere ich jedes Jahr an meinen eigenen Bedenken. Um mich auf den Ernstfall eines echten Stadtmarathons vorzubereiten, nehme ich recht regelmäßig an Volksläufen teil. Am Sonntag bin ich zum ersten Mal beim Frühjahrslauf in Gießen gestartet. Man läuft vier flache Runden auf geteerten Feldwegen und ebenen Waldwegen zwischen dem Schwanenteich und der Wiesecker Au. Vor meinem allerersten Halbmarathon hatte ich ein Trainingsprogramm über vier Monate absolviert, dass aus der wöchentlichen Routine eines schnellen fünf-Kilometer-Lauf, eines Intervalllaufes und eines Longruns über 10 oder 15 Kilometer besteht. Ich habe diese Routine beibehalten und kann quasi einen Halbmarathon aus dem Stand laufen. Momentan bin ich gesundheitlich etwas angeschlagen, da ich Magenprobleme habe (Stress und Gastritis) und hatte die Woche über wenig geschlafen. Eine Woche vor einem Halbmarathon mache ich einen Longrun über 15 Kilometer und versuche dabei auch an meine Grenzen zu gehen. Danach laufe ich unter der Woche nur noch zweimal langsame Grundlagenausdauerläufe über 5 Kilometer (die berühmten Zone 2-Läufe). Ich hatte mich anderthalb Wochen vor dem Rennen angemeldet und war die ganze Zeit über in Sorge, ob ich mir nicht zu viel zumute. Ich hatte mich schon überredet, es als Trainingslauf zu betrachten, um meine Erwartungshaltung an meine körperlichen Voraussetzungen anzupassen. 

 Trotz Zeitumstellung hatte ich gut und ausreichend geschlafen, bin rasch aufgestanden, habe mein Müsli gefuttert, einen Kaffee getrunken und mich auf den Weg nach Gießen gemacht. Ich fühlte mich wider Erwarten sehr gut und war vollkommen fokussiert.  

 Volksläufe oder stadionferne Wettbewerbe wie sie offiziell heißen, stehen für jeden Läufer offen. Man muss keinem Verein angehören und man braucht keine bestimmten Leistungsnachweise erbringen. Früher belächelte ich die Horden von schwitzenden Menschen, die an Wochenenden in bunten Laufklamotten durch Wälder und über Felder hetzten. Heute weiß ich dass es keine demokratischere und sozialere Sportveranstaltung gibt. Man bezahlt 10 EUR, bekommt eine professionell gemessene Zeit, kann sich mit anderen messen und es ist egal, ob man sich als Leistungs- oder Freizeitsportler betrachtet, ob man alt oder jung ist, seine Leistung steigern will oder einfach nur mit ein paar Leuten eine gute Zeit haben will, jeder ist willkommen und bekommt nach dem Lauf Tee und Bananenstücke so viel wie er will.

 Und trotzdem wollte ich für unseren Verein laufen. Der SV Niedergirmes ist ein junger Verein. Meine jüngsten Kinder spielen dort Handball und meine Frau ist Co-Trainerin einer Handball-Mädchenmannschaft. Einen Ort weiter gibt es einen in der Region sehr bekannten Verein für Laufsport. Er ist ein Sammelbecken für Triathleten und Marathonläufer, die einen gewissen Leistungsanspruch an sich haben. Der SV Niedergirmes hat keine Laufabteilung. Aber das ist egal, es geht ja nur um die Geste und meinen eigenen Dickkopf. Ich renne nicht mit den ambitionierten Athleten, die auf ihren dünnen Beinchen tausende von Kilometern jedes Jahr hinter sich bringen und sich über ihren VO2max definieren. Ich bin der Underdog, die Einmann-Laufabteilung.

 Das Laufen hat mein Leben verändert. Das Laufen gibt mir Kraft, Zuversicht, das Gefühl meine Grenzen erweitern und Hindernisse zu überwinden zu können. Manchmal halte ich mich beim Laufen in meinem eigenen mentalen Grenzbereich auf. Ich bin dann auf mich zurückgeworfen, spüre jede Faser meines Körpers und den Rhythmus meine Atembewegungen. Nur ich selbst, mein Körper, meine Beine, meine Arme und mein Willen bringen mich ins Ziel. Botenstoffe und Hormone versetzen mich in einen emotionalen Ausnahmezustand und öffnen mich für neue Erfahrungen und Gedanken. Als ich das erste Mal den Halbmarathon unter zwei Stunden gelaufen bin, saß ich eine halbe Stunde im Wohnzimmer auf einem Sessel und habe vor Glück geheult. Nicht das Unterschreiten der zwei Stunden haben das Gefühl erzeugt. Es waren die Magie zwei intensiver Stunden, in denen ich mich selbst überwunden habe.

 Während des Frühjahrslaufs hatte ich auch eines dieser magischen Erlebnisse. Es war in der zweiten Runde. Parallel zum Halbmarathon hat das fünf Kilometer Walking-Wettbewerb stattgefunden. Ich lief in die Wieseckau rein und sah ein Paar, das einen leeren Rollstuhl vor sich herschob. Ein paar Meter vor dem Paar lief ein Mädchen im Alter von zwölf Jahren oder älter, ich nehme mal an mit einer spastischen Lähmung, aber ich kenne mich da nicht aus. Ich dachte, das Paar und das Mädchen machten einen Spaziergang. Das Mädchen war flott unterwegs, obwohl ihr das Laufen sichtlich schwer fiel. In der Wieseckau war ein Wendepunkt und auf dem Rückweg lief ich wieder an dem Mädchen vorbei. Das Mädchen trug die Startnummer zweiunddreißig. Sie nahm also am Walking-Wettbewerb teil. Ich bin langsam an ihr vorbei gelaufen. Ich hatte nach ca. neun Kilometer meine erste Krise. Ich sah nicht ihre körperliche Einschränkung, sondern ihr freundliches und offenes Antlitz und ihren unermessliche Freude über das was sie zu leisten imstande war. Ab diesen Moment war sie meine Heldin. Die Nummer zweiunddreißig trug mich durch das Rennen. Immer wenn ich zurückfiel, dachte ich an sie und ihre Kraft und Zuversicht und wie leicht es doch war, wenn man an sich glaubte und einfach macht, anstatt immer zu zweifeln.  Und so kämpfte ich mich durch die einundzwanzig Kilometer und lief nach knapp zwei Stunden mit meiner persönlichen Bestzeit in den Zielbereich. Als ich durch das Ziel lief, begrüßte mich der Sprecher, der das Rennen mit seinen motivierenden Kommentaren begleitete, mit dem Hinweis, dass ich vom SV Niedergirmes sei und der besagte Nachbarverein mal bei uns Werbung machen sollte…lieber nicht..denn ihr seid nicht meine Helden. Meine Heldin trug die Nummer zweiunddreißig, brauchte für die fünf Kilometer 1 Stunde und 9 Minuten und kam als letzte durchs Ziel…ach scheiß drauf…für mich hat sie gewonnen.

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